|
Von der
Humoralpathologie
leiten die Menschen seit der Antike bis in die Neuzeit (!) ihr
Verständnis der Krankheitsentstehung ab. Hippokrates
(etwa 460-370) stammt laut Überlieferung von den Asklepiaden ab,
also der Familie des griechischen Gottes der Heilkunst Asklepios.
In Hippokrates sehen wir heute den Beginn einer "modernen" Medizin,
die sich in Gesundheitsfragen von der ausschließlichen
Götterabhängigkeit abkehrt und ebenso von der Behandlung Kranker
mit Zauberformeln.
Hippokrates sieht das gesundheitliche Wohlergehen der Menschen
durch das Gleichgewicht der vier Körpersäfte (Eukrasie)
Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle gewährleistet. Störungen
dieser ausgewogenen Säfteverhältnisse (Dyskrasie) führen zu den
verschiedensten Krankheiten. So schlicht diese Auffassung in
unseren Augen heute wirken mag, hier vollzieht sich ein
entscheidender Wandel: Der Arzt nimmt die Krankheiten nicht mehr
als schicksalhaft hin, er sucht nach Ursachen, nimmt Einfluss!
Geduldiges Zuhören, ausgiebiges Beobachten, Erforschung der
Anamnese sind für Hippokrates und seine Nachfolger Grundlage der
Krankheitsbehandlung: Auch sie schlicht, aber in die richtige
Richtung weisend: Änderung der Lebensweise, Diäten, vielleicht noch
Kräuter-Mittel.
Wenn wir heute wissen, dass etwa 80% aller Krankheitsfälle durch
gravierende und meist chronische Fehler der Lebensweise
(Essgewohnheiten, Über- wie Unterforderungen, Genussmittelabusus,
Umwelteinflüsse usw.) erklärt werden können, so gebührt diesem
Ansatz der Humoralpathologie bis heute große Beachtung in Bezug auf
die Prävention, der eigentlich vornehmsten ärztlichen
Disziplin!
Die Therapie-Möglichkeiten sind also noch sehr bescheiden oder gar
völlig hilflos: Schwer oder chronisch Kranke werden von vornherein
"links liegen gelassen". Um sie macht der hippokratische Arzt einen
weiten Bogen. Hier überwiegt wieder die fatalistische Einschätzung
einer von den Göttern so gewollten unheilbaren Erkrankung, der
nichts entgegen gesetzt werden kann.
Aderlässe, Klistiere, Abführmaßnahmen und pflanzliche Heilmittel
sind die Waffen dieser frühen Form der modernen Medizin, die von
Claudius Galenus
(etwa 129-216), einem römischen Arzt griechischer Herkunft, im
Sinne Hippokrates' fortgesetzt und dogmatisiert wird. Über viele
Jahrhunderte hinweg bleibt diese in Lehrbüchern festgehaltene
Heilkunde Leitfaden der neueren Medizin. Der Historiker R. Bergmeier
berichtigt in einer fesselnd geschriebenen Trilogie zur propagierten
"christlich-abendländischen Kultur" mit zahllosen Belegen
diese Legende: So schildert er, dass die im mittelalterlichen Europa
kaum umgesetzte und schon gar nicht weiterentwickelte antike Heilkunde
vom arabisch-islamischen Kulturkreis begierig übernommen und auf Grund
einer beispielhaften Offenheit gegenüber benachbarten anderen Kulturen
und Religionen durch indische und persische Beiträge bereichert, katalogisiert
und systematisiert wird. Islamische Ärzte sorgen mit der Errichtung zahlreicher
Krankenhäuser und einer eigenen medizinischen Literatur für einen hohen
qualitativen und effektiven Standard der arabisch-islamischen Medizin.
Nahezu diametral entgegengesetzt geht das Christentum mit
den antiken Überlieferungen um: Die alttestamentarische Deutung von Krankheiten
als Strafe Gottes, die Verteufelung aller griechisch-römischen "heidnischen"
Literatur, Wissenschaften und Künste lassen im mitteleuropäischen Raum
das gesamte kulturelle Spektrum auf einem kümmerlichen Niveau dahinsiechen. Die
viele Jahrhunderte hinter der griechisch-römisch-arabischen Medizin herhinkende
"berühmte" Klostermedizin und schon gar nicht die von frommen
Halluzinationen geplagte Nonne Hildegard von Bingen mit ihren quacksalberischen Halbedelstein-Anwendungen können das Drama der kulturellen Abschottung über fast 1000 Jahre finsteren Mittelalters
keineswegs abmildern!
Wozu Krankenhäuser, Bibliotheken und Schulen in großer Zahl (wie im damals blühenden islamischen Reich)?
Tenor der katholischen Kirche: "In der Bibel steht alles, was der Mensch braucht. Weg mit all dem heidnischen Teufelszeug!" Und das gilt bis zur Renaissance. Eine Einstellung, die dem Klerus/Fürstentum sehr angenehm und einträglich ist und die Masse des analphabetischen Volks in Armut, Kranken-Elend und Dreck der Willkür gebildeter Herrschaften aussetzt. Durchschnittliche Lebenserwartung des gewöhnlichen Volks zu Zeiten des selbst halb-analphabetischen Karls des "Großen" (747/48-814): 35 Jahre!
|
Zur
Zellularpathologie
findet die Forschung erst im 19. Jahrhundert! Und erst in der
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gerät die dogmatische Anwendung des Galenismus
endlich in's Wanken: Paracelsus
(1493-1541, mit vollem Namen: Theophrastus Bombastus von Hohenheim)
stört sich schon als Student an einem medizinischen Lehrbetrieb,
der an dem Schematismus und Dogmatismus
hippokratisch-galenistischer Lehren festhält. Er tritt für eine
erfahrungsgestützte, empirische Heilkunde ein, für die er sich "vor
Ort", also beim Kranken mit voller persönlicher Hingabe einsetzt.
Und dies gilt auch für die chronisch und schwerst Erkrankten!
Da er den Organismus als ein Zusammenspiel biologischer,
physikalischer und chemischer Prozesse ansieht, empfiehlt er auch
chemisch definierte Medikamente. Er kann als Begründer der modernen
Pharmazie angesehen werden. Paracelsus genießt hohes
Ansehen, ist aber nur bei den Patienten besonders beliebt. Seine
heftige, kompromisslose Art, vor Allem aber seine unbequemen Thesen
führen immer wieder zu Zerwürfnissen mit den damaligen Autoritäten
in Amt und Würden. Nur wenige Jahre kann er so einen Lehrstuhl an
der Baseler Universität innehaben, bevor er wieder Hals-über-Kopf
das Weite suchen muss. Übrigens wagt er in Basel das noch nie
Dagewesene: Er hält Vorlesungen in Deutsch, nicht im üblichen
Latein.
Seine Impulse sind zu seiner Zeit revolutionär und bis heute
richtungweisend.
Obwohl Ende des 16.Jahrhunderts erfunden, erlangt das Mikroskop erst Anfang des 19.
Jahrhunderts vollwertigen Eingang in Naturwissenschaften und
Medizin. Aber der italienische Mediziner M. Malpighi (1628-1694) konnte während seiner intensiven mikroskopischen Forschungen bereits in der 2. Hälfte des 17. Jh. den Pflanzenaufbau aus Zellen und Geweben differenzieren. Aber nicht nur deskriptive Anatomie, sondern das Erkennen zahlreicher funktioneller Zusammenhänge waren die Früchte seiner mikroskopischen Forschungsarbeit. Ein besonders wertvoller Ansatz seiner Arbeit war die Überzeugung, in den Pflanzenstudien Grundbausteine aller Lebewesen und sie als Vorläufer der höheren Lebensformen erkennen zu können. Er gilt als Schöpfer der mikroskopischen Anatomie und Histologie. R. Hooke prägte 1665 den Begriff Zelle (cellula, Kämmerchen), nachdem er derartige Strukturen im Gewebe des Flaschenkorks mit Hilfe eines der ersten Mikroskope entdeckt hatte. Erst 1838/39 begründeten dann Biologen, erst der Botaniker M. J. Schleiden, dann der Zoologe Th. Schwann
die Zellentheorie, wonach Zellen als kleinste Bausteine
aller Lebewesen anzusehen seien. Alle Lebewesen - mit Ausnahme der
Einzeller - stellen ein "Bauwerk" aus mehreren, bis zu vielen
Milliarden Zellen dar, die sich - wie Rudolf Virchow die Zellulartheorie weiterentwickelte -
immer wieder erneuern, indem neue Zellen aus Zellen entstehen und alte Zellen absterben: ein
ständiger "Tapetenwechsel", ein ständiges Sterben und Werden. "omnis cellula e cellula", jede Zelle
entsteht aus einer Zelle.
Hierauf also gründet sich Virchows (1821-1902)
Zellularpathologie mit der logischen, aber revolutionären Folgerung, dass auch alle
Krankheit von einzelnen Zellen oder Zellverbänden ihren Ausgang
nehme und nicht mehr von verschwommen definierten Körpersäften.
Nicht der Mensch als Ganzes ist krank, sondern bestimmte Zellen,
Zellverbände, Organe. Zum ersten Mal wird hiermit Krankheit präzise
objektiviert. Schade nur, dass Virchow es nicht vermochte, die
revolutionären Erkenntnisse der Darwin'schen Evolutionslehre anzuerkennen und statt dessen
auch politisch heftig dagegen polemisierte. Ernst Haeckel (1834-1919) etwa, der begeistert und unterstützend dieses neue Wissen aufgriff, wurde von Virchow - kirchengerecht - geschmäht. Mit Haeckels genialer Erkenntnis des Biogenetischen Grundgesetzes - heute besser als biogenetische Grundregel oder Rekapitulationstheorie bezeichnet - und dem Monismus war ein Sieg über den verbissen behaupteten Dualismus der Kirche errungen! Auch wenn auf Grund neuester Erkenntnisse Modifikationen an Haeckels Thesen erforderlich wurden - dies ist übliches Vorgehen und Vorteil undogmatischer, ehrenwerter Wissenschaften!
Wir können uns vorstellen, welchen Vortrieb die Zellularpathologie
in den medizinischen Wissenschaften erzeugt. Nicht nur allgemeine Heilanwendungen, sondern gezielte
Einwirkungen auf das erkrankte Gewebe, das erkrankte Organ werden möglich.
|
|