Paradigmen

und ihr Wechsel

• menschliche Lebensumstände und kulturelle Evolution unter dem Aspekt des Paradigmenwechsels • ©Paradigmen2002 •

Zellularlehre

  

Von der Humoralpathologie

leiten die Menschen seit der Antike bis in die Neuzeit (!) ihr Verständnis der Krankheitsentstehung ab. Hippokrates (etwa 460-370) stammt laut Überlieferung von den Asklepiaden ab, also der Familie des griechischen Gottes der Heilkunst Asklepios. In Hippokrates sehen wir heute den Beginn einer "modernen" Medizin, die sich in Gesundheitsfragen von der ausschließlichen Götterabhängigkeit abkehrt und ebenso von der Behandlung Kranker mit Zauberformeln.

Hippokrates sieht das gesundheitliche Wohlergehen der Menschen
durch das Gleichgewicht der vier Körpersäfte (Eukrasie) Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle gewährleistet. Störungen dieser ausgewogenen Säfteverhältnisse (Dyskrasie) führen zu den verschiedensten Krankheiten. So schlicht diese Auffassung in unseren Augen heute wirken mag, hier vollzieht sich ein entscheidender Wandel: Der Arzt nimmt die Krankheiten nicht mehr als schicksalhaft hin, er sucht nach Ursachen, nimmt Einfluss! Geduldiges Zuhören, ausgiebiges Beobachten, Erforschung der Anamnese sind für Hippokrates und seine Nachfolger Grundlage der Krankheitsbehandlung: Auch sie schlicht, aber in die richtige Richtung weisend: Änderung der Lebensweise, Diäten, vielleicht noch Kräuter-Mittel.
Wenn wir heute wissen, dass etwa 80% aller Krankheitsfälle durch gravierende und meist chronische Fehler der Lebensweise (Essgewohnheiten, Über- wie Unterforderungen, Genussmittelabusus, Umwelteinflüsse usw.) erklärt werden können, so gebührt diesem Ansatz der Humoralpathologie bis heute große Beachtung in Bezug auf die Prävention, der eigentlich vornehmsten ärztlichen Disziplin!

Die Therapie-Möglichkeiten sind also noch sehr bescheiden oder gar völlig hilflos: Schwer oder chronisch Kranke werden von vornherein "links liegen gelassen". Um sie macht der hippokratische Arzt einen weiten Bogen. Hier überwiegt wieder die fatalistische Einschätzung einer von den Göttern so gewollten unheilbaren Erkrankung, der nichts entgegen gesetzt werden kann.

Aderlässe, Klistiere, Abführmaßnahmen und pflanzliche Heilmittel sind die Waffen dieser frühen Form der modernen Medizin, die von Claudius Galenus (etwa 129-216), einem römischen Arzt griechischer Herkunft, im Sinne Hippokrates' fortgesetzt und dogmatisiert wird. Über viele Jahrhunderte hinweg bleibt diese in Lehrbüchern festgehaltene Heilkunde Leitfaden der neueren Medizin. Der Historiker R. Bergmeier berichtigt in einer fesselnd geschriebenen Trilogie zur propagierten "christlich-abendländischen Kultur" mit zahllosen Belegen diese Legende: So schildert er, dass die im mittelalterlichen Europa kaum umgesetzte und schon gar nicht weiterentwickelte antike Heilkunde vom arabisch-islamischen Kulturkreis begierig übernommen und auf Grund einer beispielhaften Offenheit gegenüber benachbarten anderen Kulturen und Religionen durch indische und persische Beiträge bereichert, katalogisiert und systematisiert wird. Islamische Ärzte sorgen mit der Errichtung zahlreicher Krankenhäuser und einer eigenen medizinischen Literatur für einen hohen qualitativen und effektiven Standard der arabisch-islamischen Medizin.

Nahezu diametral entgegengesetzt geht das Christentum mit den antiken Überlieferungen um: Die alttestamentarische Deutung von Krankheiten als Strafe Gottes, die Verteufelung aller griechisch-römischen "heidnischen" Literatur, Wissenschaften und Künste lassen im mitteleuropäischen Raum das gesamte kulturelle Spektrum auf einem kümmerlichen Niveau dahinsiechen. Die viele Jahrhunderte hinter der griechisch-römisch-arabischen Medizin herhinkende "berühmte" Klostermedizin und schon gar nicht die von frommen Halluzinationen geplagte Nonne Hildegard von Bingen mit ihren quacksalberischen Halbedelstein-Anwendungen können das Drama der kulturellen Abschottung über fast 1000 Jahre finsteren Mittelalters keineswegs abmildern!

Wozu Krankenhäuser, Bibliotheken und Schulen in großer Zahl (wie im damals blühenden islamischen Reich)? Tenor der katholischen Kirche: "In der Bibel steht alles, was der Mensch braucht. Weg mit all dem heidnischen Teufelszeug!" Und das gilt bis zur Renaissance. Eine Einstellung, die dem Klerus/Fürstentum sehr angenehm und einträglich ist und die Masse des analphabetischen Volks in Armut, Kranken-Elend und Dreck der Willkür gebildeter Herrschaften aussetzt. Durchschnittliche Lebenserwartung des gewöhnlichen Volks zu Zeiten des selbst halb-analphabetischen Karls des "Großen" (747/48-814): 35 Jahre!



... weiter im Text mit dem Wechsel des Paradigmas




Zur Zellularpathologie

findet die Forschung erst im 19. Jahrhundert! Und erst in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gerät die dogmatische Anwendung des Galenismus endlich in's Wanken: Paracelsus (1493-1541, mit vollem Namen: Theophrastus Bombastus von Hohenheim) stört sich schon als Student an einem medizinischen Lehrbetrieb, der an dem Schematismus und Dogmatismus hippokratisch-galenistischer Lehren festhält. Er tritt für eine erfahrungsgestützte, empirische Heilkunde ein, für die er sich "vor Ort", also beim Kranken mit voller persönlicher Hingabe einsetzt. Und dies gilt auch für die chronisch und schwerst Erkrankten!
Da er den Organismus als ein Zusammenspiel biologischer, physikalischer und chemischer Prozesse ansieht, empfiehlt er auch chemisch definierte Medikamente. Er kann als Begründer der modernen Pharmazie angesehen werden. Paracelsus genießt hohes Ansehen, ist aber nur bei den Patienten besonders beliebt. Seine heftige, kompromisslose Art, vor Allem aber seine unbequemen Thesen führen immer wieder zu Zerwürfnissen mit den damaligen Autoritäten in Amt und Würden. Nur wenige Jahre kann er so einen Lehrstuhl an der Baseler Universität innehaben, bevor er wieder Hals-über-Kopf das Weite suchen muss. Übrigens wagt er in Basel das noch nie Dagewesene: Er hält Vorlesungen in Deutsch, nicht im üblichen Latein.
Seine Impulse sind zu seiner Zeit revolutionär und bis heute richtungweisend.

Obwohl Ende des 16.Jahrhunderts erfunden, erlangt das Mikroskop erst Anfang des 19. Jahrhunderts vollwertigen Eingang in Naturwissenschaften und Medizin. Aber der italienische Mediziner M. Malpighi (1628-1694) konnte während seiner intensiven mikroskopischen Forschungen bereits in der 2. Hälfte des 17. Jh. den Pflanzenaufbau aus Zellen und Geweben differenzieren. Aber nicht nur deskriptive Anatomie, sondern das Erkennen zahlreicher funktioneller Zusammenhänge waren die Früchte seiner mikroskopischen Forschungsarbeit. Ein besonders wertvoller Ansatz seiner Arbeit war die Überzeugung, in den Pflanzenstudien Grundbausteine aller Lebewesen und sie als Vorläufer der höheren Lebensformen erkennen zu können. Er gilt als Schöpfer der mikroskopischen Anatomie und Histologie. R. Hooke prägte 1665 den Begriff Zelle (cellula, Kämmerchen), nachdem er derartige Strukturen im Gewebe des Flaschenkorks mit Hilfe eines der ersten Mikroskope entdeckt hatte. Erst 1838/39 begründeten dann Biologen, erst der Botaniker M. J. Schleiden, dann der Zoologe Th. Schwann die Zellentheorie, wonach Zellen als kleinste Bausteine aller Lebewesen anzusehen seien. Alle Lebewesen - mit Ausnahme der Einzeller - stellen ein "Bauwerk" aus mehreren, bis zu vielen Milliarden Zellen dar, die sich - wie Rudolf Virchow die Zellulartheorie weiterentwickelte - immer wieder erneuern, indem neue Zellen aus Zellen entstehen und alte Zellen absterben: ein ständiger "Tapetenwechsel", ein ständiges Sterben und Werden. "omnis cellula e cellula", jede Zelle entsteht aus einer Zelle.

Hierauf also gründet sich Virchows (1821-1902) Zellularpathologie mit der logischen, aber revolutionären Folgerung, dass auch alle Krankheit von einzelnen Zellen oder Zellverbänden ihren Ausgang nehme und nicht mehr von verschwommen definierten Körpersäften. Nicht der Mensch als Ganzes ist krank, sondern bestimmte Zellen, Zellverbände, Organe. Zum ersten Mal wird hiermit Krankheit präzise objektiviert. Schade nur, dass Virchow es nicht vermochte, die revolutionären Erkenntnisse der Darwin'schen Evolutionslehre anzuerkennen und statt dessen auch politisch heftig dagegen polemisierte. Ernst Haeckel (1834-1919) etwa, der begeistert und unterstützend dieses neue Wissen aufgriff, wurde von Virchow - kirchengerecht - geschmäht. Mit Haeckels genialer Erkenntnis des Biogenetischen Grundgesetzes - heute besser als biogenetische Grundregel oder Rekapitulationstheorie bezeichnet - und dem Monismus war ein Sieg über den verbissen behaupteten Dualismus der Kirche errungen! Auch wenn auf Grund neuester Erkenntnisse Modifikationen an Haeckels Thesen erforderlich wurden - dies ist übliches Vorgehen und Vorteil undogmatischer, ehrenwerter Wissenschaften!

Wir können uns vorstellen, welchen Vortrieb die Zellularpathologie in den medizinischen Wissenschaften erzeugt. Nicht nur allgemeine Heilanwendungen, sondern gezielte Einwirkungen auf das erkrankte Gewebe, das erkrankte Organ werden möglich.