Ernst Haeckel, Die Welträtsel - 19. Kapitel |
19. KapitelUnsere monistische Sittenlehre
Monistische Studien über das ethische Grundgesetz. Gleichgewicht
zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe. Gleichberechtigung des
Egoismus und Altruismus. Fehler der christlichen Moral. Staat, Schule
und Kirche. Das praktische Leben stellt an den Menschen eine Reihe von ganz bestimmten sittlichen Anforderungen, die nur dann richtig und naturgemäß erfüllt werden können, wenn sie in reinem Einklang mit seiner vernünftigen Weltanschauung stehen. Diesem Grundsatz unserer monistischen Philosophie zufolge muss unsere gesamte Sittenlehre oder Ethik in vernünftigem Zusammenhang mit der einheitlichen Auffassung des "Kosmos" stehen, welche wir durch unsere fortgeschrittene Erkenntnis der Natur-Gesetze gewonnen haben. Wie das ganze unendliche Universum im Lichte unseres Monismus ein einziges großes Ganzes darstellt, so bildet auch das geistige und sittliche Leben des Menschen nur einen Teil dieses "Kosmos", und so kann auch unsere naturgemäße Ordnung desselben nur eine einheitliche sein. Es gibt nicht zwei verschiedene, getrennte Welten: eine physische, materielle und eine moralische, immaterielle Welt. Ganz entgegengesetzter Ansicht ist die große Mehrzahl der Philosophen und Theologen noch heute; sie behaupten mit Immanuel Kant, dass die sittliche Welt von der physischen ganz unabhängig sei und ganz anderen Gesetzen gehorche; also müsse auch das sittliche Bewusstsein des Menschen, als die Basis des moralischen Lebens, ganz unabhängig von der wissenschaftlichen Welterkenntnis sein und sich vielmehr auf den religiösen Glauben stützen. Die Erkenntnis der sittlichen Welt soll danach durch die gläubige praktische Vernunft geschehen, hingegen diejenige der Natur oder der physischen Welt durch die reine theoretische Vernunft. Dieser unzweifelhafte und bewusste Dualismus in Kant's Philosphie war ihre größter und schwerster Fehler; er hat unendliches Unheil angerichtet und wirkt noch heute mächtig fort. Zuerst hat der kritische Kant den großartigen und bewunderungswürdigen Palast der reinen Vernunft ausgebaut und einleuchtend gezeigt, dass die drei großen Zentral-Dogmen der Metaphysik: der persönliche Gott, der freie Wille und die unsterbliche Seele, darin nirgends untergebracht werden können, ja dass vernünftige Beweise für deren Realität gar nicht zu finden sind. Später aber baute der dogmatische Kant an diesen realen Kristall-Palast der reinen Vernunft das schimmernde ideale Luftschloss der praktischen Vernunft an, in welchem drei imposante Kirchenschiffe zur Wohnstätte jener drei gewaltigen mystischen Gottheiten hergerichtet wurden. Nachdem sie durch die Vordertür mittels des vernünftigen Wissens hinausgeschafft wurden, kehrten sie nun durch die Hintertür mittels des unvernünftigen Glaubens wieder zurück. Die Kuppel seines großen Glaubens-Domes krönte Kant mit einem seltsamen Idol, dem brühmten kategorischen Imperativ; danach ist die Forderung des allgemeinen Sittengesetzes ganz unbedingt, unabhängig von jeder Rücksicht und Wirklichkeit und Möglichkeit; sie lautet; "Handle jederzeit so, dass die Maxime (oder der subjektive Grundsatz deines Willens) zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Jeder normale Mensch sollte demnach dasselbe Pflichtgefühl haben wie jeder Andere. Die moderne Anthropologie hat diesen schönene Traum grausam zerstört; sie hat gezeigt, dass unter den Natur-Völkern die Pflichten noch weit verschiedener sind als unter den Kultur-Nationen. Alle Sitten und Gebräuche, die wir als verwerfliche Sünden oder abscheuliche Laster ansehen (Diebstahl, Betrug, Mord, Ehebruch usw.), gelten bei anderen Völkern unter Umständen als Tugenden oder selbst als Pflichtgebote. Obgleich nun der offenkundige Gegensatz der beiden Vernünfte von Kant, der prinzipielle Antagonismus der reinen und der praktischen Vernunft, schon am Anfang des 19. Jahrhunderts erkannt und widerlegt wurde, blieb er doch bis heute in weiten Kreisen herrschend. Die moderne Schule der Neokantianer predigt noch heute den "Rückgang auf Kant" so eindringlich gerade wegen dieses willkommenen Dualismus, und die streitende Kirche unterstützt sie dabei auf's Wärmste, weil ihr eigener mystischer Glaube dazu vortrefflich passt. Eine wirksame Niederlage bereitete demselben erst die moderne Naturwissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; die Voraussetzungen der praktischen Vernunftlehre wurden dadurch hinfällig. Die monistische Kosmologie bewies auf Grund des Substanz-Gesetzes, dass es keinen "persönlichen Gott" gibt; die vergleichende und genetische Psychologie zeigte, dass eine "unsterbliche Seele" nicht existieren kann, und die monistische Physiologie wies nach, dass die Annahme des "freien Willens" auf Täuschung beruht. Die Entwicklungslehre endlich machte klar, dass die "ewigen, ehernen Naturgesetze" der anorganischen Welt auch in der organischen und moralischen Welt Geltung haben. Unsere moderne Naturerkenntnis wirkt aber für die praktische Philosophie und Ethik nicht nur negativ, indem sie den Kantischen Dualismus zertrümmert, sondern auch positiv, indem sie an dessen Stelle das neue Gebäude des ethischen Monismus setzt. Sie zeigt, dass das Pflichtgefühl des Menschen nicht auf einem illusorischen "kategorischen Imperativ" beruht, sondern auf dem realen Boden der sozialen Instinkte, die wir bei allen gesellig lebenden höheren Tieren finden. Sie erkennt als höchstes Ziel der Moral die Herstellung einer gesunden Harmonie zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe. Vor allen Anderen war es der große englische Philosoph Herbert Spencer, dem wir die Begründung dieser monistischen Ethik durch die Entwicklungslehre verdanken. Egoismus und AltruismusDer Mensch gehört zu den sozialen Wirbeltieren und hat daher, wie alle sozialen Tiere, zweierlei verschiedene Pflichten, erstens gegen sich selbst und zweitens gegen die Gesellschaft, der er angehört. Erstere sind Gebote der Selbstliebe (Egoismus), letztere Gebote der Nächstenliebe (Altruismus). Beide natürlichen Gebote sind gleichberechtigt, gleich natürlich und gleich unentbehrlich. Will der Mensch in geordneter Gesellschaft existieren und sich wohl befinden, so muss er nicht nur sein eigenes Glück anstreben, sondern auch dasjenige der Gemeinschaft, der er angehört, und der "Nächsten", welche diesen sozialen Verein bilden. Er muss erkennen, dass ihr Gedeihen sein Gedeihen ist und ihr Leiden sein Leiden. Dieses soziale Grundgesetz ist so einfach und so naturnotwendig, dass man schwer begreift, wie demselben theoretisch und praktisch widersprochen werden kann; und doch geschieht das noch heute, wie es seit Jahrtausenden geschehen ist. Äquivalenz des Egoismus und AltruismusDie gleiche
Berechtigung dieser beiden Naturtriebe, die moralische
Gleichwertigkeit der Selbstliebe und der Nächstenliebe ist das
wichtigste Fundamental-Prinzip unserer Moral. Das höchste
Ziel aller vernünftigen Sittenlehre ist demnach sehr einfach, die
Herstellung des "naturgemäßen Gleichgewichts zwischen
Egoismus und Altruismus", zwischen Eigenliebe und
Nächstenliebe". Das Goldene Sittengesetz sagt; "Was du willst,
dass dir die Leute tun sollen, das tue du ihnen auch." Aus
diesem höchsten Gebot des Christentums folgt von selbst,
dass wir ebenso heilige Pflichten gegen uns selbst wie gegen unsere
Mitmenschen haben. Ich habe meine Auffassung dieses Grundprinzips
bereits 1892 in meinem "Monismus" auseinandergesetzt (S.
99,45) und dabei besonders drei wichtige Sätze betont: Das ethische Grundgesetz(Die goldene Regel) Aus der Anerkennung unseres Fundamental-Prinzips der Moral ergibt sich unmittelbar das höchste Gebot derselben, jenes Pflichtgebot, das man jetzt oft als das Goldene Sittengesetz oder kurz als die "Goldene Regel" bezeichnet. Christus sprach dasselbe wiederholt in dem einfachen Satze aus: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Matth. 19, 19; 22, 39, 40; Römer 13, 9 u. s. w.); der Evangelist Markus (12, 31) fügte ganz richtig hinzu; "Es ist kein größeres Gebot als dieses"; und Matthäus sagte; "In diesen zwei Geboten hänget das ganze Gesetz und die Propheten." In diesem wichtigsten und höchsten Gebote stimmt unsere monistische Ethik vollkommen mit der christlichen überein. Nur müssen wir gleich die historische Tatsache hinzufügen, dass die Aufstellung dieses obersten Grundgesetzes nicht ein Verdienst Christi ist, wie die meisten christlichen Theologen behaupten und ihre unkritischen Gläubigen unbesehen annehmen. Vielmehr ist diese Goldene Regel mehr als fünfhundert Jahre älter als Christus und von vielen verschiedenen Weisen Griechenlands und des Orients als wichtigstes Sittengesetz anerkannt. Pittakos von Mytilene, einer der sieben Weisen Griechenlands, sagte 620 vuZ.: "Tue deinem Nächsten nicht, was du ihm verübeln würdest." - Konfutse, der große chinesische Philosoph und Religionsstifter (der die Unsterblichkeit der Seele und den persönlichen Gott leugnete), sagte 500 Jahre vor Chr.: "Tue jedem anderen, was du willst, dass er dir tun soll; und tue keinem Anderen was du willst, dass er dir nicht tun soll. Du brauchst nur dieses Gebot allein; es ist die Grundlage aller anderen Gebote." - Aristoteles lehrte um die Mitte des vierten Jahrhundert vuZ.: "Wir sollen uns gegen Andere so benehmen, wie wir wünschen, dass Andere gegen uns handeln sollen." In gleichem Sinne und zum Teil mit denselben Worten wird auch die Goldene Regel von Thales, Isokrates, Aristippus, dem Pythagoräer Sextus und anderen Philosophen des klassischen Altertums - mehrere Jahrhunderte vuZ.! - ausgesprochen. (Vergleiche darüber das wichtige Werk von Saladin: "Jehovah's gesammelte Werke".) Aus dieser Zusammestellung geht hervor, dass das Goldene Grundgesetz polyphyletisch entstanden, d. h. zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten von mehreren Philosophen - unabhängig voneinander - aufgestellt worden ist. Anderenfalls müsste man annehmen, dass Jesus dasselbe aus anderen orientalischen Quellen (aus älteren semitischen, indischen, chinesischen Traditionen, besonders buddhistischen Lehren) übernommen habe, wie es jetzt für die meisten anderen christlichen Glaubenslehren nachgewiesen ist. Saladin fasst die bezüglichen Ergebnisse der modernen kritischen Theologie in dem Satze zusammen: "Es gibt keinen vernünftigen und praktischen, von Jesus gelehrten Moralgrundsatz, der nicht vor ihm auch schon von Anderen gelehrt worden wäre" (Thales, Solon, Sokrates, Plato, Konfutse usw.). Christliche SittenlehreDa das ethische Grundgesetz demnach bereits seit 2500 Jahren besteht, und da das Christentum dasselbe ausdrücklich als höchstes, alle anderen umfassendes Gebot an die Spitze seiner Sittenlehre stellt, würde unsere monistische Ethik in diesem wichtigen Punkt nicht nur mit jenen älteren heidnischen Sittenlehren, sondern auch mit den christlichen in vollkommenem Einklang sein. Leider wird aber diese erfreuliche Harmonie dadurch gestört, dass die Evangelien und die paulinischen Episteln viele andere Sittenlehren enthalten, die jenem ersten und obersten Gebote geradezu widersprechen. Die christlichen Theologen haben sich vergebens bemüht, diese auffälligen und schmerzlich empfundenen Widersprüche durch künstliche Deutungen auszugleichen. Wir brauchen daher hier nicht darauf einzugehen, müssen aber wohl kurz auf jene bedauerlichen Seiten der christlichen Lehre hinweisen, welche mit der besseren Weltanschauung der Neuzeit unverträglich und bezüglich ihrer praktischen Konsequenzen geradezu schädlich sind. Dahin gehört die Verachtung der christlichen Moral gegen das eigene Individuum, gegen den Leib, die Natur, die Kultur, die Familie und die Frau. I. Die Selbst-Verachtung des Christentums. Als obersten und wichtigsten Missgriff der christlichen Ethik, welcher die Goldene Regel geradezu aufhebt, müssen wir die Übertreibung der Nächstenliebe auf Kosten der Selbstliebe betrachten. Das Christentum bekämpft und verwirft den Egoismus im Prinzip, und doch ist dieser Naturtrieb zur Selbsterhaltung absolut unentbehrlich; ja man kann sagen, dass auch der Altruismus, sein scheinbares Gegenteil, im Grunde ein verfeinerter Egoismus ist. Nichts Großes, nichts Erhabeneres ist jemals ohne Egoismus geschehen und ohne die Leidenschaft, welche uns zu großen Opfern befähigt. Nur die Ausschreitungen dieser Triebe sind verwerflich. Zu denjenigen christlichen Geboten, welche uns in frühester Jugend als wichtigste eingeprägt und welche in Millionen von Predigten verherrlicht werden, gehört der Satz (Matthäus 5, 44): "Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen." Dieses Gebot ist sehr ideal, aber praktisch von sehr bedenklichem Werte. Ebenso verhält es sich mit der Anweisung: "Wenn dir Jemand den Rock nimmt, dem gib auch den Mantel"; d. h. in das moderne Leben übersetzt: "Wenn dich ein gewissenloser Schuft um die eine Hälfte deines Vermögens betrügt, dann schenke ihm auch noch die anderen Hälfte" - oder in die politische Praxis übertragen: "Wenn euch einfältigen Deutschen die frommen Engländer in Afrika eine eurer neuen wertvollen Kolonien nach der anderen wegnehmen, dann schenkt ihnen auch noch die übrigen Kolonien - oder am besten: gebt ihnen Deutschland auch noch dazu!" Da wir hier gerade die vielbewunderte Weltmachts-Politik des modernen England berühren, in welchem schneidenden Widerspruch dieselbe zu allen Grundlehren der christlichen Liebe steht, welche von dieser großen Nation mehr als von jeder anderen im Munde geführt wird. Übrigens ist ja der offenkundige Widerspruch zwischen der empfohlenen idealen, altruistischen Moral des einzelnen Menschen und der realen, rein egoistischen Moral der menschlichen Gemeinden, und besonders der christlichen Kultur-Staaten, eine allbekannte Tatsache. Es wäre interessant, mathematisch festzustellen, bei welcher Zahl von vereinigten Menschen das altruistische Sitten-Ideal der einzelnen Person sich in sein Gegenteil verwandelt, in die rein egoistische "Real-Politik" der Staaten und Nationen. II. Die Leibes-Verachtung des Christentums. Da der christliche Glaube den Organismus des Menschen ganz dualistisch beurteilt und der unsterblichen Seele nur einen vorübergehenden Aufenthalt im sterblichen Leibe anweist, ist es ganz natürlich, dass der ersteren ein viel höherer Wert beigemessen wird als dem letzteren. Daraus folgt jene Vernachlässigung der Leibespflege, der körperlichen Ausbildung und Reinlichkeit, welche das Kulturleben des christlichen Mittelalters sehr unvorteilhaft vor demjenigen des heidnischen klassischen Altertums auszeichnet. In der christlichen Sittenlehre fehlen jene strengen Gebote der täglichen Waschungen und der sorgfältigen Körperpflege, die wir in der mohammedanischen, der indischen und anderen Religionen nicht nur theoretisch festgesetzt, sondern auch praktisch ausgeführt sehen. Das Ideal des frommen Christen ist in vielen Klöstern der Mensch, der sich niemals ordentlich wäscht und kleidet, der seine übel riechende Kutte niemals wechselt, und der statt ordentlicher Arbeit sein faules Leben mit gedankenlosen Bet-Übungen, sinnlosem Fasten usw. zubringt. Als Ausw.üchse dieser Leibesverachtung möge noch an die widerwärtigen Bußübungen der Geißler und anderer Asketiker erinnert werden. III. Die Natur-Verachtung des Christentums. Eine Quelle von unzähligen theoretischen Irrtümern und praktischen Fehlern, von geduldeten Rohheiten und bedauerlichen Entbehrungen liegt in dem falschen Anthropismus des Christentums, in der exklusiven Stellung, welche dasselbe dem Menschen als "Ebenbild Gottes" anweist, im Gegensatze zu der übrigen Natur. Dadurch hat dasselbe nicht allein zu einer höchst schädlichen Entfremdung von unserer herrlichen Mutter "Natur" beigetragen, sondern auch zu einer bedauernswerten Verachtung der übrigen Organismen. Das Christentum kennt nicht jene rühmliche Liebe zu den Tieren, jenes Mitleid mit den nächststehenden, uns befreundeten Säugetieren (Hunden, Pferden, Rindern usw.), welche zu den Sittengesetzen vieler anderer älterer Religionen gehören, vor Allem der weitestverbreiteten, des Buddhismus. Wer längere Zeit im katholischen Süd-Europa gelebt hat, ist oftmals Zeuge jener abscheulichen Tierquälereien gewesen, die uns Tierfreunden sowohl das tiefste Mitleid als den höchsten Zorn erregen; und wenn er dann jenen rohen "Christen" Vorwürfe über ihre Grausamkeit macht, erhält er zur lachenden Antwort: "Ja, die Tiere sind doch keine Christen!" Leider wurde dieser Irrtum auch durch Descartes befestigt, der nur dem Menschen eine fühlende Seele zuschrieb, nicht aber den Tieren. Wie erhaben steht in dieser Beziehung unsere monistische Ethik über der christlichen! Der Darwinismus lehrt uns, dass wir zunächst von Primaten und weiterhin von einer Reihe älterer Säugetiere abstammen, und dass diese "unsere Brüder" sind; die Physiologie beweist uns, dass diese Tiere dieselben Nerven und Sinnesorgane haben wie wir, dass sie ebenso Lust und Schmerz empfinden wir wir. Kein mitfühlender, monistische Naturforscher wird sich jemals jener rohen Misshandlung der Tiere schuldig machen, die der gläubige Christ in seinem anthropistischen Größenwahn - als "Kind des Gottes der Liebe!" - gedankenlos begeht. - Außerdem aber entzieht die prinzipielle Natur-Verachtung des Christentums dem Menschen eine Fülle der edelsten irdischen Freuden, vor Allem den herrlichen, wahrhaft erhebenden Naturgenuss. IV. Die Kultur-Verachtung des Christentums. Da nach Christi Lehre unsere Erde ein Jammertal ist, unser irdisches Leben wertlos und nur eine Vorbereitung auf das "ewige Leben" im besseren Jenseits, so verlangt sie folgerichtig, dass demgemäß der Mensch auf alles Glück im Diesseits zu verzichten und alle dazu erforderlichen irdischen Güter gering zu achten hat. Zu diesen "irdischen Gütern" gehören aber für den modernen Kulturmenschen die unzähligen kleinen und großen Hilfsmittel der Technik, der Hygiene, des Verkehrs, welche unser heutiges Kulturleben angenehm und gemüthlich gestalten; - zu diesen "irdischen Gütern" gehören alle die höheren Genüsse der bildenden Kunst, der Tonkunst, der Poesie, welche schon während des christlichen Mittelalters (und trotz seiner Prinzipien!) sich zu hoher Blüte entwickelten, und welche wir als "ideale Güter" hochschätzen; - zu diesen "irdischen Gütern" gehören alle jene unschätzbaren Fortschritte der Wissenschaft und vor Allem die Naturerkenntnis, auf deren ungeahnte Entwicklung unser 19. Jahrhundert in der Tat stolz sein kann. Alle diese "irdischen Güter" der verfeinerten Kultur, welche nach unserer monistischen Weltanschauung den höchsten Wert besitzen, sind nach der christlichen Lehre wertlos, ja großenteils verwerflich, und die strenge christliche Moral muss das Streben nach diesen Gütern ebenso missbilligen, wie unsere humanistische Ethik dasselbe billigt und empfiehlt. Das Christentum zeigt sich also auch auf diesem praktischen Gebiete kulturfeindlich; der Kampf, welchen die moderne Bildung und Wissenschaft dagegen zu führen gezwungen sind, ist auch in diesem Sinne "Kulturkampf". V. Die Familien-Verachtung des Christentums. Zu den bedauerlichsten Seiten der christlichen Moral gehört die Geringschätzung, welche dasselbe gegen das Familien-Leben besitzt, d. h. gegen jenes naturgemäße Zusammenleben mit den nächsten Blutsverwandten, welches für den normalen Menschen ebenso unentbehrlich ist wie für alle höheren sozialen Tiere. Die "Familie" gilt uns ja mit Recht als die "Grundlage der Gesellschaft" und das gesunde Familien-Leben als Vorbedingung für ein blühendes Staatsleben. Ganz anderer Ansicht war Christus, dessen nach dem "Jenseits" gerichteter Blick die Frau und die Familie ebenso gering schätzte wie alle anderen Güter des "Diesseits". Von den seltenen Berührungen mit seinen Eltern und Geschwistern wissen die Evangelien nur sehr wenig zu erzählen; das Verhältnis zu seiner Mutter Maria war danach keineswegs so zart und innig, wie es uns Tausende von schönen Bildern in poetischer Verklärung vorführen; er selbst war nicht verheiratet. Die Geschlechts-Liebe, die doch die erste Grundlage der Familien-Bildung ist, erschien Jesus eher wie ein notwendiges Übel. Noch weiter ging darin sein eifrigster Apostel, Paulus, der es für besser erklärte, nicht zu heiraten, als zu heiraten. "Es ist dem Menschen gut, dass er kein Weib berühre" (1. Korinther 7, 1, 28-38). Wenn die Menschheit diesen guten Rat befolgte, würde sie damit allerdings bald alles irdische Leid und Elend loswerden; sie würde durch diese Radikal-Kur innerhalb eines Jahrhunderts aussterben. VI. Die Frauen-Verachtung des Christentums. Da Christus selbst die Frauenliebe nicht kannte, blieb ihm persönlich jene feine Veredelung des wahren Menschenwesens fremd, welche erst aus dem innigen Zusammenleben des Mannes mit dem Weibe entspringt. Der intime sexuelle Verkehr, auf welchem allein die Erhaltung des Menschengeschlechts beruht, ist dafür ebenso wichtig wie die geistige gegenseitige Ergänzung, die sich Beide in gleicher Weise in den praktischen Bedürfnissen des täglichen Lebens wie in den höchsten idealen Funktionen der Seelentätigkeit gewähren. Denn Mann und Weib sind zwei verschiedene, aber gleichwertige Organismen, jeder mit seinen eigentümlichen Vorzügen und Mängeln. Je höher sich die Kultur entwickelte, desto mehr wurde dieser ideale Wert der sexuellen Liebe erkannt, und desto höher stieg die Achtung der Frau, besonders in der germanischen Rasse; ist sie doch die Quelle, aus welcher die herrlichsten Blüten der Poesie und der Kunst entsprossen sind. Christus dagegen lag diese Anschauung ebenso fern wie fast dem ganzen Altertum; er teilte die allgemein herrschende Anschauung des Orients, dass das Weib dem Manne untergeordnet und der Verkehr mit ihm "unrein" sei. Die beleidigte Natur hat sich für diese Missachtung furchtbar gerächt, und die traurigsten Folgen derselben sind namentlich in der Kulturgeschichte des papistischen Mittelalters mit blutiger Schrift verzeichnet. (Vergl. Albrecht Rau, Die Ethik Jesu. Gießen 1900.) Papistische MoralDie bewunderungswürdige Hierarchie des römischen Papismus, die kein Mittel zur absoluten Beherrschung der Geister verschmähte, fand ein ausgezeichnetes Instrument in der Fortbildung jener "unreinen" Anschauung und in der Pflege der asketischen Vorstellung, dass die Enthaltung vom Frauenverkehr an sich eine Tugend sei. Schon in den ersten Jahrhunderten nach Christus enthielten sich viele Priester freiwillig der Ehe, und bald stieg der vermeintliche Wert dieses Zölibats so hoch, dass dasselbe für obligatorisch erklärt wurde. Die Sittenlosigkeit, die in Folge dessen einriß, ist durch die Forschungen der neueren Kulturgeschichte allbekannt geworden. Schon im Mittelalter wurde die Verführung ehrbarer Frauen und Töchter durch katholische Geistliche (wobei der Beichtstuhl eine wichtige Rolle spielte) ein öffentliches Aergerniß; viele Gemeinden drangen darauf, dass zur Verhütung derselben den "keuschen" Priestern das Konkubinat gestattet werde! Das geschah denn auch in verschiedenen, oft recht romantischen Formen. So wurde z. B. das kanonische Gesetz, dass die Pfarrersköchin nicht jünger als vierzig Jahre sein dürfe, sehr sinnreich dadurch "ausgelegt", dass sich der Herr Kaplan zwei "Köchinnen" hielt, eine im Pfarrhause, die andere draußen; wenn jene 24 und diese 18 Jahre alt war, machte das zusammen 42 - also 2 Jahre mehr, als nötig war. Auf den christlichen Konzilien, auf welchen ungläubige Ketzer lebendig verbrannt wurden, tafelten die versammelten Kardinäle und Bischöfe mit ganzen Scharen von Freudenmädchen. Die geheimen und öffentlichen Ausschweifungen des katholischen Klerus wurden so schamlos und gemeingefährlich, dass schon vor Luther die Empörung daüber allgemein und der Ruf nach einer "Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern" überall laut wurde. Dass trotzdem diese unsittlichen Verhältnisse in katholischen Ländern noch heute fortbestehen (wenn auch mehr im Geheimen), ist bekannt. Früher wiederholten sich noch immer von Zeit zu Zeit die Anträge auf definitive Aufhebung des Zölibats, so in den Kammern von Baden, Bayern, Hessen, Sachsen und anderen Ländern. Leider bisher vergebens! Im Deutschen Reichstag, in welchem das ultramontane Zentrum gegenwärtig die lächerlichsten Mittel zur Vermeidung der sexuellen Unsittlichkeit vorschlägt, denkt noch heute keine Partei daran, die Abschaffung des Zölibats im Interessse der öffentlichen Moral zu beantragen. (Vergl. Hoensbroech, Das Papstum, Leipzig 1901). Der moderne Kulturstaat, der nicht bloß das praktische, sondern auch das moralische Volksleben auf eine höhere Stufe heben soll, hat das Recht und die Pflicht, solche unwürdigen und gemeinschädlichen Zustände aufzuheben. Das "obligatorische Zölibat" der katholischen Geistlichen ist ebenso verderblich und unsittlich wie die Ohrenbeichte und der Ablasskram; alle drei Einrichtungen haben mit dem ursprünglichen Christentum Nichts zu tun; alle drei schlagen der reinen Christen-Moral in's Gesicht; alle drei sind nichtswürdige Erfindungen des Papismus, darauf berechnet, die absolute Herrschaft aufrecht zu erhalten und sie nach Kräften materiell auszubeuten. Die Nemesis der Geschichte wird früher oder später über den römischen Papismus ein furchtbares Strafgericht halten, und die Millionen Menschen, die durch diese entartete Religion um ihr Lebensglück gebracht wurden, werden dazu dienen, ihr im zwanzigsten Jahrhundert den Todesstoß zu versetzen - wenigstens in den wahren "Kulturstaaten". Man hat neuerdings berechnet, dass die Zahl der Menschen, welche durch die papistischen Ketzer-Verfolgungen, die Inquisition, die christlichen Glaubenskriege usw. um's Leben kamen über zehn Millionen beträgt (2013: >70 Mio.!). Aber was bedeutet diese Zahl gegen die zehnfach größere Zahl der Unglücklichen, welche den Satzungen und der Priesterherrschaft der entarteten christlichen Kirche moralisch zum Opfer fielen? - gegen die Unzahl derjenigen, deren höheres Geistesleben durch sie getötet, deren naives Gewissen gequält, deren Familienleben vernichtet wurde? Hier gilt das wahre Wort aus Goethe's herrlichem Gedichte "Die Braut von Korinth": "Opfer fallen hier, weder Lamm noch Stier, Aber Menschenopfer unerhört!" Staat und KircheIn dem großen "Kulturkampfe", der in Folge dieser traurigen Verhältnisse noch immer geführt werden muss, sollte das erste Ziel die vollständige Trennung von Staat und Kirche sein. Die "freie Kirche soll im freien Staate" bestehen, d. h. jede Kirche soll frei sein in voller Ausübung ihres Kultus und ihrer Zeremonien, auch im Ausbau ihrer phanstastischen Dichtungen und abergläubischen Dogmen - jedoch unter der Voraussetzung, dass sie dadurch nicht die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit gefährdet. Und dann soll gleiches Recht für alle gelten! Die freien Gemeinden und die monistischen Religions-Gesellschaften sollen ebenso geduldet und ebenso frei in ihren Bewegungen sein wie die liberalen Protestanten-Vereine und die orthodoxen ultramontanen Gemeinden. Aber für alle diese "Gläubigen" der verschiedensten Konfessionen soll die Religion Privatsache bleiben; der Staat soll sie nur beaufsichtigen und ihre Ausschreitungen verhüten, sie aber weder unterdrücken noch unterstützen. Vor Allem sollen jedoch die Steuerzahler nicht mehr gehalten werden, ihr Geld für die Aufrechterhaltung und Förderung eines fremden "Glaubens" herzugeben, der nach ihrer ehrlichen Überzeugung ein schädlicher Aberglaube ist. In den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, in Holland und einigen kleineren Ländern ist in diesem Sinne die vollständige Trennung von Staat und Kirche längst durchgeführt, und zwar zur Zufriedenheit aller Beteiligten. Damit ist dort zugleich die ebenso wichtige Trennung der Kirche von der Schule bestimmt, unzweifelhaft ein wichtiger Grund für den gewaltigen Aufschwung, welchen die Wissenschaft und das höhere Geistesleben überhaupt neuerdings in Nord-Amerika genommen hat. Kirche und SchuleEs ist selbstverständlich, dass die Entfernung der Kirche aus der Schule sich bloß auf die Konfession bezieht, auf die besondere Glaubensform, welche der Sagenkreis jeder einzelnen Kirche im Laufe der Zeit entwickelt hat. Dieser "konfessionelle Unterricht" ist reine Privatsache und Aufgabe der Eltern und Vormünder, oder derjenigen Priester oder Lehrer, denen diese ihr persönliches Vertrauen schenken. Dagegen treten an Stelle der eliminierten "Konfession" in der Schule zwei verschiedene wichtige Unterrichts-Gegenstände: erstens die monistische Sittenlehre und zweitens die vergleichende Religions-Geschichte. Über die neue monistische Ethik, welche sich auf der festen Basis der modernen Naturerkenntnis - vor Allem der Entwicklungslehre - erhebt, ist im Laufe der letzten dreißig Jahre eine umfangreiche Literatur erschienen. Unsere neue vergleichende Religionsgeschichte knüpft naturgemäß an den bestehenden Elementar-Unterricht in "biblischer Geschichte" und in der Sagenwelt des griechischen und römischen Altertums an. Beide bleiben wie bisher wesentliche Bildungs-Elemente. Das ist schon deshalb selbstverständlich, weil unsere ganze bildende Kunst, das Hauptgebiet unserer monistischen Ästhetik, auf das Innigste mit der jüdischen und christlichen, der hellenischen und römischen Mythologie verwachsen ist. Ein wesentlicher Unterschied im Unterricht wird nur darin eintreten, dass die israelitischen und christlichen Sagen und Legenden nicht als "Wahrheiten" gelehrt werden, sondern gleich den griechischen und römischen als Dichtungen; der hohe Wert des ethischen und ästhetischen Stoffes, den sie enthalten, wird dadurch nicht vermindert, sondern erhöht. - Was die Bibel betrifft, so sollte dieses "Buch der Bücher" den Kindern nur in sorgfältig gewähltem Auszuge in die Hand gegeben werden (als "Schulbibel"); dadurch würde die Befleckung der kindlichen Phantasie mit den zahlreichen unsauberen Geschichten und unmoralischen Erzählungen verhütet werden, an denen namentlich das Alte Testament so reich ist. Staat und SchuleNachdem unser moderner Kulturstaat sich
und die Schule von den Sklaven-Fesseln der Kirche befreit hat, wird er
um so mehr seine Kraft und Fürsorge der Pflege der Schule
widmen können. Der unschätzbare Wert eines guten Schul-Unterrichts ist
uns um so mehr zum Bewusstsein gekommen, je
reicher und großartiger sich im Laufe des 19. Jahrhunderts alle
Zweige des modernen Kultur-Lebens entfaltet haben. Aber die
Entwicklung der Unterrichts-Methoden hat damit keineswegs gleichen
Schritt gehalten. Die Notwendigkeit einer umfassenden Schul-Reform
drängt sich uns immer entschiedener auf. Auch
über diese große Frage sind im Laufe der letzten vierzig
Jahre sehr zahlreiche und wertvolle Schriften erschienen. Wir
beschränken uns daher auf Hervorhebung einiger allgemeiner
Gesichtspunkte, die uns besonders wichig erscheinen: Das Hauptziel der höheren Schulbildung blieb bisher in den meisten Kulturstaaten die Vorbildung für den späteren Beruf, Erwerbung eines gewissen Maßes von Kenntnissen und Abrichtung für die Pflichten des Staatsbürgers. Die Schule des 20. Jahrhunderts wird dagegen als Hauptziel die Ausbildung des selbstständigen Denkens verfolgen, das klare Verständnis der erworbenen Kenntnisse und die Einsicht in den natürlichen Zusammenhang der Erscheinungen. Wenn der moderne Kulturstaat jedem Bürger das allgemeine gleiche Wahlrecht zugesteht, muss er ihm auch die Mittel gewähren, durch gute Schulbildung seinen Verstand zu entwickeln, um davon zum allgemeinen Besten eine vernünftige Anwendung zu machen. |