Ernst Haeckel, Die Welträtsel - 17. Kapitel

17. Kapitel

Wissenschaft und Christentum

Monistische Studien über den Kampf zwischen der wissenschaftlichen Erfahrung und der christlichen Offenbarung. Die vier Perioden in der historischen Metamorphose der christlichen Religion. Vernunft und Dogma.

Inhalt: Wachsender Gegensatz zwischen moderner Naturerkenntnis und christlicher Weltanschauung. Der alte und der neue Glaube. Verteidigung der vernünftigen Wissenschaft gegen die Angriffe des christlichen Aberglaubens, vor Allem gegen den Papismus. Vier Perioden in der Entwicklungsgeschichte des Christentums.

I. Das Urchristentum (drei Jahrhunderte). Die vier kanonischen Evangelien. Die Episteln Pauli.
II. Der Papismus (das ultramontastentum). Rückschritt der Kultur im Mittelalter. Ultramontane Geschichtsfälschung. Papismus und Wissenschaft. Papismus uund Christentum.
III. Die Reformation. Luther und Calvin. Das Jahrhundert der Aufklärung.
IV. Das Scheinchristentum des 19. Jahrhunderts.

Die Kriegserklärung des Papstes gegen die Vernunft und Wissenschaft:

I. Unfehlbarkeit.
II. Enzyklika.
III. Unbefleckte Empfängnis.

Zu den hervorragenden Charakterzügen des scheidenden 19. Jahrhunderts gehört die wachsende Schärfe des Gegensatzes zwischen Wissenschaft Christentum. Das ist ganz natürlich und notwendig; denn in demselben Maße, in welchem die siegreichen Fortschritte der modernen Naturerkenntnis alle wissenschaftlichen Eroberungen früherer Jahrhunderte überflügeln, ist zugleich die Unhaltbarkeit aller jener mystischen Weltanschauungen offenbar geworden, welche die Vernunft unter das Joch der sogenannten "Offenbarung" beugen wollen; und dazu gehört auch die christliche Religion. Je sicherer durch die moderne Astronomie, Physik und Chemie die Alleinherrschaft unbeugsamer Naturgesetze im Universum, durch die moderne Botanik, Zoologie und Anthropologie die Gültigkeit derselben Gesetze im Gesamtbereich der organischen Natur nachgewiesen ist, desto heftiger sträubt sich die christliche Religion, im Vereine mit der dualistischen Metaphysik, die Geltung dieser Naturgesetze im Bereich des sogenannten "Geisteslebens" anzuerkennen, d. h. in einem Teilgebiete der Gehirn-Physiologie.

Diesen offenkundigen und unversöhnlichen Gegensatz zwischen der modernen wissenschaftlichen und der überlebten christlichen Weltanschauung hat Niemand klarer, mutiger und unwiderlegbarer bewiesen als der größte Theologe des 19. Jahrhunderts, David Friedrich Strauß. Sein letztes Bekenntnis: "Der alte und der neue Glaube" (1872, vierzehnte Auflage 1900) ist der allgemeingültige Ausdruck der ehrlichen Überzeugung aller derjenigen Gebildeten der Gegenwart, welche den unvermeidlichen Konflikt zwischen den anerzogenen, herrschenden Glaubenslehren des Christentums und den einleuchtenden, vernunftgemäßen Offenbarungen der modernen Naturwissenschaft einsehen; aller derjenigen, welche den Mut finden, das Recht der Vernunft gegenüber den Ansprüchen des Aberglaubens zu wahren, und welche das philosophische Bedürfnis nach einer einheitlichen Naturanschauung empfinden. Strauß hat als ehrlicher und mutiger Freidenker weit besser, als ich es vermag, die wichtigsten Gegensätze zwischen "altem und neuem Glauben" klargelegt. Die volle Unversöhnlichkeit des Entscheidungskampfes zwischen beiden - "auf Tod und Leben" - hat von philosophischer Seite namentlich Eduard Hartmann nachgewiesen in seiner interessanten Schrift über die Selbstzersetzung des Christentums (1874).

Unter den zahlreichen Werken, die im Laufe des 19. Jahrhunderts die wissenschaftliche Kritik des Christentums, seines Wesens und seiner Lehre gefördert haben, sind außerdem namentlich folgende hervorzuheben: David Strauß, Das Leben Jesu für das deutsche Volk. 1864 (XI. Auflage, Bonn 1890). Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums. 1841 (IV. Aufl. 1883). Paul de Regla (P. Desjardin), Jesus von Nazareth, vom wissenschaftlichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Standpunkt dargestellt. Leipzig, 1894. S. E. Verus, Vergleichende Übersicht der vier Evangelien. Leipzig, 1897.

Wenn man die Werke von Strauß und Feuerbach, sowie die "Geschichte der Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft" von John William Draper (1875) gelesen hat, könnte es überflüssig erscheinen, diesem Gegenstand hier ein besonderes Kapitel zu widmen. Trotzdem wird es nützlich und notwendig sein, hier einen kritischen Blick auf den historischen Verlauf dieses großen Kampfes zu werfen, und zwar deshalb, weil die Angriffe der streitenden Kirche auf die Wissenschaft im Allgemeinen und auf die Entwicklungslehre im Besonderen in neuester Zeit besonders scharf und gefahrdrohend geworden sind. Auch ist leider die geistige Erschlaffung, welche sich neuerdings geltend macht, so wie die steigende Flut der Reaktion auf politischem, sozialem und kirchlichem Gebiet nur zu sehr geeignet, jene Gefahren zu verschärfen. Wollte Jemand daran zweifeln, so braucht er nur die Verhandlungen der christlichen Synoden und des Deutschen Reichstags in den letzten Jahren zu lesen. Im Einklang damit stehen die Bemühungen vieler weltlicher Regierungen, sich mit dem geistlichen Regiment, ihrem natürlichen Todfeind, auf möglichst gutem Fuß zu setzen, d. h. sich dessen Joche zu unterwerfen; als gemeinsames Ziel schwebt dabei den beiden Verbündeten die Unterdrückung des freien Gedankens und der freien wissenschaftlichen Forschung vor, mit dem Zweck, sich auf diese Weise am leichtesten die absolute Herrschaft zu sichern.

Wir müssen ausdrücklich betonen, dass es sich hier um notgedrungene Verteidigung der Wissenschaft und der Vernunft gegen die scharfen Angriffe der christlichen Kirche und ihrer gewaltigen Heerscharen handelt, und nicht etwa um unberechtigte Angriffe der ersteren gegen die letzteren. In erster Linie muss dabei unsere Abwehr gegen den Papismus oder Ultramontanismus gerichtet sein; denn diese "allein selig machende" und "für Alle bestimmte" katholische Kirche ist nicht allein weit größer und weit mächtiger als die anderen christlichen Konfessionen, sondern sie besitzt vor Allem den Vorzug einer großartigen, zentralisierten Organisation und einer unübertroffenen politischen Schläue. Man hört allerdings oft von Naturforschern und von anderen Männern der Wissenschaft die Ansicht äußern, dass der katholische Aberglaube nicht schlimmer sei als die anderen Formen des übernatürlichen Glaubens, und dass diese trügerischen "Gestalten des Glaubens" alle in gleichem Maße die natürlichen Feinde der Vernunft und Wissenschaft seien. Im allgemeinen theoretischen Prinzip ist diese Behauptung richtig, aber in Bezug auf die praktischen Folgen irrtümlich; denn die zielbewussten und rücksichtslosen Angriffe der ultramontanen Kirche auf die Wissenschaft, gestützt auf die Trägheit und Dummheit der Volksmassen, sind vermöge ihrer mächtigen Organisation ungleich schwerer und gefährlicher als diejenigen aller anderen Religionen.

Entwicklung des Christentums

Um die ungeheure Bedeutung des Christentums für die ganze Kulturgeschichte, besonders aber seinen prinzipiellen Gegensatz zur Vernunft und Wissenschaft richtig zu würdigen, müssen wir einen flüchtigen Blick auf die wichtigsten Abschnitte seiner geschichtlichen Entwicklung werfen. Wir unterscheinen in derselben vier Hauptperioden:

I. das Urchristentum (die drei ersten Jahrhunderte),

II. den Papismus (12 Jahrhunderte, vom 4. bis zum 15.),

III. die Reformation (drei Jahrhunderte, vom 16. bis 18.),

IV. das moderne Scheinchristentum (im 19. Jahrhundert).

I. Das Urchristentum

Es umfasst die ersten drei Jahrhunderte. Christus selbst, der edle, ganz von Menschenliebe erfüllte Prophet und Schwärmer, stand tief unter dem Niveau der klassischen Kulturbildung; er kannte nur jüdische Tradition; er hat selbst keine einzige Zeile hinterlassen. Auch hatte er von dem hohen Zustand der Welterkenntnis, zu dem die griechische Philosophie und Naturforschung schon ein halbes Jahrtausend früher sich erhoben hatten, keine Ahnung. Was wir daher von ihm und von seiner ursprünglichen Lehre wissen, schöpfen wir aus den wichtigsten Schriften des Neuen Testaments: erstens aus den vier Evangelien und zweitens aus den paulinischen Briefen. Von den vier kanonischen Evangelien wissen wir jetzt, dass sie im Jahre 325 auf dem Konzil zu Nicäa durch 3318 versammelte Bischöfe aus einem Haufen von widersprechenden und gefälschten Handschriften der drei ersten Jahrhunderte ausgesucht wurden. Auf die weitere Wahlliste kamen vierzig, auf die engere vier Evangelien. Da sich die streitenden, boshaft sich schmähenden Bischöfe über die Auswahl nicht einigen konnten, beschloss man, die Auswahl durch ein göttliches Wunder bewirken zu lassen, man legte alle Bücher zusammen unter den Altar und betete, dass die unechten, menschlichen Ursprungs, darunter liegen bleiben möchten, die echten von Gott selbst eingegebenen dagegen auf den Tisch des Herrn hinaufhüpfen möchten. Und das geschah wirklich! Die drei synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas - alle drei nicht von ihnen, sondern nach ihnen niedergeschrieben, im Beginn des 2. Jahrhunderts -) und das ganz verschiedene vierte Evangelium (angeblich nach Johannes, in der Mitte des 2. Jahrhunderts abgefasst), alle vier hüpften auf den Tisch und wurden nunmehr zu echten (tausendfach sich widersprechenden!) Grundlagen der christlichen Glaubenslehre. Sollte ein moderner "Ungläubiger" dieses "Bücherhüpfen" unglaubwürdig finden, so erinnern wir ihn daran, dass das ebenso glaubhafte "Tischrücken" und "Geisterklopfen" noch heute von Millionen "gebildeter" Spiritisten fest geglaubt wird; und Hunderte von Millionen gläubiger Christen sind noch heute ebenso fest von ihrer eigenen Unsterblichkeit, ihrer "Auferstehung nach dem Tode" und von der "Dreieinigkeit Gottes" überzeugt - Dogmen, welcher der reinen Vernunft nicht mehr und nicht weniger widersprechen als jenes wunderbare Springen der Evangelien-Handschriften. Näheres darüber berichtet der englische Theologe Saladin (Stewart Rofs) in seiner scharfsinnigen, neuerdings vielbesprochenen Schrift: "Jehovahs Gesammelte Werke", eine kritische Untersuchung des jüdisch-christlichen Religions-Gebäudes auf Grund der Bibelforschung, Leipzig 1896. (Vergl. Anm. 4, S. 159.).

Nächst den Evangelien sind bekanntlich die wichtigsten Quellen die 13 verschiedenen (größtenteils gefälschten!) Episteln des Apostels Paulus. Die echten paulinischen Briefe (der neueren Kritik zufolge nur vier: an die Römer, die Galater und die beiden Korinther-Briefe) sind sämtlich früher niedergeschrieben als die vier kanonischen Evangelien und enthalten weniger unglaubliche Wundersagen als die letzteren; auch suchen sie mehr als diese sich mit einer vernünftigen Weltanschauung zu vereinigen. Die aufgeklärte Theologie der Neuzeit konstruiert daher teilweise ihr ideales Christentum mehr auf Grund der Paulus-Briefe als der Evangelien, so dass man das Christentum geradezu als Paulinismus bezeichnet hat. Die bedeutende Persönlichkeit des Apostels Paulus, der jedenfalls viel mehr Weltkenntnis und praktischen Sinn besaß als Christus, ist für die anthropologische Beurteilung auch insofern interessant, als der Rassen-Ursprung der beiden großen Religions-Stifter ähnlich sein soll. Auch den beiden Eltern des Paulus soll (neueren historischen Forschungen zufolge) der Vater griechischer, die Mutter jüdischer Rasse sein. Die Mischlinge dieser beiden Rassen, die ursprünglich ja sehr verschieden sind (obgleich beide Zweige derselben Spezies: Homo mediterraneus!), zeichnen sich oft durch eine glückliche Mischung der Talente und Charakter-Eigenschaften aus, wie auch viele Beispiele aus neuerer Zeit und aus der Gegenwart beweisen. Die plastische orientalische Phantasie der Semiten und die kritische okzidentale Vernunft der Arier ergänzen sich oft in vorteilhafter Weise. Das zeigt sich auch in der paulinischen Lehre, die bald größeren Einfluss gewann als die älteste urchristliche Anschauung. Man hat daher auch den Paulinismus mit Recht als eine neue Erscheinung bezeichnet, deren Vater die griechische Philosophie, deren Mutter die jüdische Religion war; eine ähnliche Mischung zeigte der Neuplatonismus.

Über die ursprünglichen Lehren und Ziele von Christus - ebenso wie über viele wichtige Seiten seines Lebens - sind die Ansichten der streitenden Theologen um so mehr auseinander gegangen, je mehr die historische Kritik (Strauß, Feuerbach, Baur, Renan usw.) die zugänglichen Tatsachen in ihr wahres Licht gestellt und unbefangene Schlüsse daraus gezogen hat. Sicher bleibt davon stehen das edelste Prinzip der allgemeinen Menschenliebe und der daraus folgende höchste Grundsatz der Sittenlehre: die "goldene Regel" - beide übrigens schon Jahrhunderte vuZ. bekannt und geübt (vergl. Kap. 19)! Im Übrigen waren die Urchristen der 1. Jahrhunderte zum größten Teil reine Kommunisten, zum Teil Sozial-Demokraten, die nach den heute in Deutschland herrschenden Grundsätzen mit Feuer und Schwert hätten vertilgt werden müssen.

II. Der Papismus

Das "lateinische Christentum" oder Papsttum, die "romisch-katholische Kirche", oft auch als Ultramontanismus, nach ihrer Residenz Vatikanismus oder kurz Papismus bezeichnet, ist unter allen Erscheinungen der menschlichen Kulturgeschichte eine der großartigsten und merkwürdigsten, eine "welthistorische Größe" ersten Ranges; trotz aller Stürme der Zeit erfreut sie sich noch heute des mächtigsten Einflusses. Von den 410 Millionen Christen, welche die Erde gegewärtig bewohnen, bekennt die größere Hälfte, nämlich 225 Millionen, den römischen, nur 75 Millionen den griechischen Katholizismus, und 110 Millionen sind Protestanten. Während eines Zeitraumes von 1200 Jahren, vom 4. bis zum 16. Jahrhundert, hat der Papismus das geistige Leben Europa's vollkommen beherrscht und vergiftet; dagegen hat er den großen alten Religions-Systemem in Asien und Afrika nur sehr wenig Boden abgewonnen. In Asien zählt der Buddhismus heute noch 503 Millionen, die Brahma-Religion 138 Millionen, der Islam 120 Millionen Anhänger. Die Weltherrschaft des Papismus prägt vor Allem dem Mittelalter seinen finsteren Charakter auf; sie bedeutet Tod allen freien Geisteslebens, den Rückgang aller wahren Wissenschaft, den Verfall aller reinen Sittlichkeit. Von der glänzenden Blüte, zu welcher sich das menschliche Geistesleben im klassischen Altertum erhoben hatte, im ersten Jahrtausend vuZ. und in den ersten Jahrhunderten nach demselben, sank dasselbe unter der Herrschaft des Papsttums bald zu einem Niveau herab, das mit Bezug auf die Erkenntnis der Wahrheit nur als Barbarei bezeichnet werden kann. Man rühmt wohl am Mittelalter, dass andere Seiten des Geisteslebens darin zu reicher Entfaltung gekommen seien, Dichtkunst und bildende Kunst, scholastische Gelehrsamkeit und patristische Philosophie. Aber diese Kulturtätigkeit befand sich im Dienste der herrschenden Kirche und wurde nicht zur Hebung, sondern zur Unterdrückung der freien Geistesforschung verwandt. Die ausschließliche Vorbereitung für ein unbekanntes "ewiges Leben im Jenseits", die Verachtung der Natur, die Abwendung von ihrem Studium, welche im Prinzip der christlichen Religion innewohnt, wurde von der römischen Hierarchie zur heiligen Pflicht gemacht. Eine Wandlung zum Besseren brachte erst im Beginn des 16. Jahrhunderts die Reformation.

Rückschritte der Kultur im Mittelalter

Es würde uns viel zu weit führen, wenn wir hier die jammervollen Rückschritte schildern wollten, welche menschliche Kultur und Gesittung während 12 Jahrhunderten unter der geistigen Gewaltherrschaft des Papismus erlitten. Am prägnantesten sind dieselben wohl durch einen einzigen Satz des größten und geistreichsten Hohenzollern-Fürsten illustriert; Friedrich der Große fasste sein Urteil in dem Satze zusammen, man werde durch das Studium der Geschichte zu der Überzeugung geführt, dass von Konstantin dem Großen bis auf die Zeit der Reformation die ganze Welt wahnsinnig gewesen sei. Eine vortreffliche kurze Schilderung dieser "Wahnsinns-Periode" hat (1887) L. Büchner gegeben in seiner Schrift "Über religiöse und wissenschaftliche Weltanschauung". Wer sich näher darüber unterrichten will, den verweisen wir auf die Geschichtswerke von Ranke, Draper, Kolb, Svoboda usw. Die wahrheitsgemäße Darstellung, welche diese und andere unbefangene Historiker von den grauenhaften Zuständen des christlichen Mittelalters geben, wird bestätigt durch alle ehrliche Quellenforschung und durch die kulturgeschichtlichen Denkmäler, welche diese traurigste Periode der menschlichen Geschichte überall hinterlassen hat. Gebildete Katholiken, welche ehrlich die Wahrheit suchen, können nicht genug auf das eigene Studium dieser Quellen hingewiesen werden. Dies ist um so mehr zu betonen, als auch gegenwärtig noch die ultramontane Literatur einen gewaltigen Einfluss besitzt; das alte Kunststück, durch dreiste Umkehrung der Tatsachen und Erfindung von Wundermärchen das "gläubige Volk" zu betören, wird auch heute noch von ihr mit größtem Erfolge angewendet; wir erinnern nur an Lourdes und an den "Heiligen Rock" von Trier (1844, erneuert 1890). Wie weit die Entstellung der Wahrheit selbst in wissenschaftlichen Werken geht, davon liefert ein auffälliges Beispiel der ultramontane Professor der Geschichte Johannes Janssen in Frankfurt a. M.; seine vielgelesenden Werke (besonders die "Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters", in zahlreichen Auflagen erschienen) leisten das Unglaublichste an dreister Geschichtsfälschung. Die Verlogenheit dieser jesuitischen Fälschungen steht auf gleicher Stufe mit der Leichtgläubigkeit und Kritiklosigkeit des einfältigen deutschen Volkes, das sie als bare Münze annimmt.

Papismus und Wissenschaft

Unter den historischen Tatsachen, welche am einleuchtendsten die Verwerflichkeit der ultramontanen Geistestyrannei beweisen, interessiert uns vor Allem ihre energische und konsequente Bekämpfung der wahren Wissenschaft als solcher. Diese war zwar schon von Anfang an prinzipiell im Christentum dadurch bestimmt, dass dasselbe den Glauben über die Vernunft stellte und die blinde Unterwerfung der Vernunft unter den Glauben forderte; nicht minder dadurch, dass es das ganze Erdenleben nur als eine Vorbereitung für das erdichtete "Jenseits" betrachtete, also auch der wissenschaftlichen Forschung an sich jeden Wert absprach. Allein die planmäßige und erfolgreiche Bekämpfung der letzteren begann doch erst am Anfang des 4. Jahrhunderts, besonders seit dem berüchtigten Konzil von Nicäa (325), welchem Kaiser Konstantin präsidierte, - "der Große" ganannt, weil er das Christentum zur Staatsreligion erhob und Konstantinopel gründete, dabei ein nichtswürdiger Charakter, ein falscher Heuchler und vielfacher Mörder. Wie erfolgreich der Papismus in seinem Kampfe gegen jedes selbstständige wissenschaftliche Denken und Forschen war, beweist am besten der jammervolle Zustand der Naturerkenntnis und ihrer Literatur im Mittelalter. Nicht nur wurden die reichen Geistesschätze, welche das klassische Altertum hinterlassen hatte, zum größten Teil vernichtet oder der Verbreitung entzogen, sondern Folterknechte und Scheiterhaufen sorgten dafür, dass jeder "Ketzer", d. h. jeder selbstständige Denker, seine vernünftigen Gedanken für sich behielt. Tat er das nicht, so musste er sich darauf gefasst machen, lebendig verbrannt zu werden, wie es dem großen monistischen Philosophen Giordano Bruno, dem Reformator Johann Huss und mehr als hunderttausend anderen "Zeugen der Wahrheit" geschah. Die Geschichte der Wissenschaften im Mittelalter belehrt uns auf jeder Seite, dass das selbstständige Denken und die empirische wissenschaftliche Forschung unter dem Drucke des allmächtigen Papismus durch 12 traurige Jahrhunderte wirklich völlig begraben blieben.

Papismus und Christentum

Alles das, was wir am wahren Christentum im Sinne seines Stifters und seiner edelsten Nachfolger hochschätzen, und was wir aus dem unausbleiblichen Untergang dieser "Weltreligion" in unsere neue monistische Religion hinüberzuretten suchen müssen, liegt auf seiner ethischen und sozialen Seite. Die Prinzipien der wahren Humanität, der goldenen Regel, der Toleranz, der Menschenliebe im besten und höchsten Sinne des Wortes, all diese wahren Lichtseiten des Christentums sind zwar nicht von ihm zuerst erfunden und aufgestellt, aber doch erfolgreich in jener kritischen Periode zur Geltung gebracht worden, in der das klassiche Altertum seiner Auflösung entgegenging. Der Papismus aber hat es verstanden, alle jene Tugenden in ihr direktes Gegenteil zu verkehren und dabei doch die alte Firma als Aushängeschild zu bewahren. An die Stelle der christlichen Liebe trat der fanatische Hass gegen alle Andersgläubigen; mit Feuer und Schwert wurden nicht allein die Heiden ausgerottet, sondern auch jene christlichen Sekten, welche in besserer Erkenntnis Einwendungen gegen die aufgezwungenen Lehrsätze des ultramontanen Aberglaubens zu erheben wagten. Überall in Europa blühten die Ketzergerichte und forderten unzählige Opfer, deren Folterqualen ihren frommen, von "christlicher Bruderliebe" erfüllten Peinigern besonderen Vergnügen bereiteten. Die Papstmacht wütete auf ihrer Höhe durch Jahrhunderte erbarmungslos gegen Alles, was ihrer Herrschaft im Wege stand. Unter dem berüchtigten Groß-Inquisitor Torquemada (1481-1498) wurden allein in Spanien achttausend Ketzer lebendig verbrannt, neunzigtausend mit Einziehung des Vermögens und den empfindlichsten Kirchenbußen bestraft, während in den Niederlanden unter der Herrschaft Karl's V. dem klerikalen Blutdurst mindestens fünfzigtausend Menschen zum Opfer fielen. Und während das Geheul gemarterter Menschen die Luft erfüllte, strömten in Rom, dem die ganze christliche Welt tributpflichtig war, die Reichtümer der halben Welt zusammen, und wälzten sich die angeblichen Stellvertreter Gottes auf Erden und ihre Helfershelfer (welche selbst nicht selten dem weitestgehenden Atheismus huldigten!) in Lüsten und Lastern jeder Art. "Welche Vorteile," sagte der frivole und syphilitische Papst Leo X. ironisch, "hat uns doch diese Fabel von Jesus Christus gebracht!" Dabei war der Zustand der europäischen Gesellschaft trotz Kirchenzucht und Gottesfurcht von der allerschlimmsten Art. Feudalismus, Leibeigenschaft, Gottesgnadentum und Mönchtum beherrschten das Land, und die armen Heloten waren froh, wenn sie ihre elenden Hütten im Machtbereich der Schlösser oder Klöster ihrer geistlichen und weltlichen Unterdrücker und Ausbeuter errichten durften. Heutzutage noch leiden wir unter den Nachwehen und Überbleibseln dieser traurigen Zustände und Zeiten, in welchen von Pflege der Wissenschaft und höherer Geistesbildung nur ausnahmsweise und im Verborgenen die Rede sein konnte. "Unwissenheit, Armut und Aberglaube vereinigten sich mit der entsittlichenden Wirkung des im 11. Jahrhundert eingeführten Zölibats, um die absolute Papstmacht immer stärker werden zu lassen" (Büchner a.a.O.). Man hat berechnet, dass während dieser Glanzperiode des Papismus über zehn Millionen Menschen dem fanatischen Glaubenshass; der "christlichen Liebe" zum Opfer fielen; und wie viel mehr Millionen betrugen die geheimen Menschenopfer, welche das Zölibat, die Ohrenbeichte und der Gewissenzwang erforderten, die gemeinschädlichen und fluchwürdigsten Institutionen des päpstlichen Absolutismus! Die "ungläubigen" Philosophen, welche Beweise gegen das Dasein Gottes sammelten, haben einen der stärksten Beweise dagegen übersehen, die Tatsache, dass die römischen "Stattalter Christi" 12 Jahrhunderte hindurch ungestraft die greulichsten Verbrechen und Schandtaten "im Namen Gottes" verüben durften.

III. Die Reformation

Die Geschichte der Kulturvölker, welche wir "die Weltgeschichte" zu nennen belieben, lässt deren dritten Hauptabschnitt, die "Neuzeit", mit der Reformation der christlichen Kirche beginnen, ebenso wie den zweiten, das Mittelalter, mit der Gründung des Christentums, und sie tut recht daran. Denn mit der Reformation beginnt die Wiedergeburt der gefesselten Vernunft, das Wiedererwachen der Wissenschaft, welche die eiserne Faust des christlichen Papismus durch 1200 Jahre gewaltsam niedergehalten hatte. Allerdings hatte die Verbreitung allgemeiner Bildung durch die Buchdruckerkunst schon um die Mitte des 15. Jahrhunderts begonnen, und gegen Ende desselben traten mehrere große Ereignisse ein, welche im Verein mit der "Renaissance" der Kunst auch die Wiedergeburt der Wissenschaft vorbereiteten: vor Allen die Entdeckung von Amerika (1492). Auch wurden in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mehrere höchst wichtige Fortschritte in der Erkenntnis der Natur gemacht, welche die bestehende Weltanschauung in ihren Grundfesten erschütterten; so die erste Umschiffung der Erde durch Magellan, welche den empirischen Beweis für ihre Kugelgestalt lieferte (1522); die Gründung des neuen Weltsystems durch Kopernikus (1543). Aber der 31. Oktober 1517, an welchem Martin Luther seine 95 Thesen an die hölzerne Tür der Schloßkirche zu Wittenberg nagelte, bleibt daneben ein weltgeschichtlicher Tag; denn damit wurde die eiserne Tür des Kerkers gesprengt, in dem der päpstliche Absolutismus durch 1200 Jahre die gefesselte Vernunft eingeschlossen gehalten hatte. Man hat die Verdienste des großen Reformators, der auf der Wartburg die Bibel übersetzte, teils übertrieben, teils unterschätzt; man hat auch mit Recht darauf hingewiesen, wie er gleich den anderen Reformatoren noch vielfach im tiefsten Aberglauben befangen blieb. So konnte sich Luther zeitlebens nicht von dem starren Buchstabenglauben der Bibel befreien; er verteidigte eifrig die Lehre von der Auferstehung, der Erbsünde und Prädestination, der Rechtferigung durch den Glauben usw. Die gewaltige Geistestat des Kopernikus verwarf er als Narrheit, weil in der Bibel "Josua die Sonne stillstehen hieß und nicht das Erdreich". Für die großen politischen Umwälzungen seiner Zeit, besonders die großartige und vollberechtigte Bauernbewegung, hatte er kein Verständnis. Schlimmer noch war der fanatische Reformator Calvin in Genf, welcher (1553) den geistreichen spanischen Arzt Servete lebendig verbrennen ließ, weil er den unsinnigen Glauben an die Dreieinigkeit bekämpfte. Überhaupt traten die fanatischen "Rechtgläubigen" der reformierten Kirche leider nur zu oft in die blutbefleckten Fußstapfen ihrer papistischen Todfeinde, wie sie es auch heute noch tun. Leider folgten auch ungeheure Greueltaten der Reformation auf dem Fuße: Die Bartholomäus-Nacht und die Hugenotten-Verfolgung in Frankreich, blutige Ketzer-Jagden in Italien, lange Bürgerkriege in England, der Dreißigjährige Krieg in Deutschland. Aber trotz alledem bleibt dem sechzehnten und 17. Jahrhundert der Ruhm, dem denkenden Menschengeiste zuerst wieder freie Bahn geschaffen und die Vernunft von dem erstickenden Druck der papistischen Herrschaft befreit zu haben. Erst dadurch wurde die mächtige Entfaltung verschiedener Richtungen der kritischen Philosophie und neuer Bahnen der Naturforschung möglich, welche dann dem folgenden 18. Jahrhundert den Ehrentitel des "Jahrhunderts der Aufklärung" erwarb.

IV. Das Scheinchristentum des 19. Jahrhunderts

Als vierten und letzten Hauptabschnitt in der Geschichte des Christentums stellen wir das 19. Jahrhundert seinen Vorgängern gegenüber. Wenn in diesen letzteren bereits die "Aufklärung" nach allen Richtungen hin die kritische Philosophie gefördert, und wenn das Aufblühen der Naturwissenschaften derselben die stärksten empirischen Waffen in die Hände gegeben hatte, so erscheint uns doch der Fortschritt nach beiden Richtungen hin in unserem 19. Jahrundert ganz gewaltig; es beginnt damit wiederum eine ganz neue Periode in der Geschichte des Menschengeistes, charakterisiert durch die Entwicklung der monistischen Naturphilosophie. Schon am Beginn desselben wurde der Grund zu einer neuen Anthropologie gelegt (durch die vergleichende Anatomie von Cuvier) und zu einer neuen Biologie (durch die Philosophie zoologique von Lamarck). Bald folgten diesen beiden großen Franzosen zwei ebenbürtige Deutsche, Baer als Begründer der Entwicklungsgeschichte (1828) und Johannes Müller (1834) als der der vergleichenden Morphologie und Physiologie. Ein Schüler des Letzteren, Theordor Schwann, schuf 1838, im Verein mit M. Schleiden, die grundlegende Zellentheorie. Schon vorher hatte Lyell (1830) die Entwicklungsgeschichte der Erde auf natürliche Ursachen zurückgeführt und damit auch für unseren Planeten die Geltung der mechanischen Kosmogenie bestätigt, welche Kant bereits 1755 mit kühner Hand entworfen hatte. Endlich wurde durch Robert Mayer und Helmholtz (1842) das Energie-Prinzip festgestellt und damit die zweite, ergänzende Hälfte des großen Substanz-Gesetzes gegeben, dessen erste Hälfte, die Konstanz der Materie, schon Lavoisier endeckt hatte. Allen diesen tiefen Einblicken in das innere Wesen der Natur setzte dann vor vierzig Jahren Charles Darwin die Krone auf durch seine neue Entwicklungslehre, das größte naturphilosophische Ereignis des 19. Jahrhunderts (1859).

Wie verhält sich nun zu diesen gewaltigen, alles Frühere weit überbietenden Fortschritten der Naturerkenntnis das moderne Christentum? Zunächst wurde naturgemäß die tiefe Kluft zwischen den beiden Hauptrichtungen desselben immer größer, zwischen dem konservativen Papismus und dem progressiven Protestantismus. Der ultramontane Klerus (- und im Verein mit ihm die orthodoxe "Evangelische Allianz" -) mussten naturgemäß jenen mächtigen Eroberungen des freien Geistes den heftigsten Widerstand entgegensetzen; sie verharrten unbeirrt auf ihrem strengen Buchstaben-Glauben und verlangten die unbedingte Unterwerfung der Vernunft unter das Dogma. Der liberale Protestantismus hingegen verflüchtigte sich immer mehr zu einem monistischen Pantheismus und strebte nach Versöhnung der beiden entgegengesetzten Prinzipien; er suchte die unvermeidliche Anerkennung der emprisich bewiesenen Naturgesetze und der daraus gefolgerten philosophischen Schlüsse mit einer geläuterten Religionsform zu verbinden, in der freilich von der eigentlichen Glaubenslehre fast nichts mehr übrig blieb. Zwischen beiden Extremen bewegten sich zahlreiche Kompromiss-Versuche; darüber hinaus aber drang in immer weitere Kreise die Überzeugung, dass das dogmatische Christentum überhaupt jeden Boden verloren habe und dass man nur seinen wertvollen ethischen Inhalt in die neue, monistische Religion des 20. Jahrhunderts hinüberretten könne. Da jedoch gleichzeitig die gegebene äußeren Formen der herrschenden christlichen Religion fortbestanden, da sie sogar trotz der fortgeschrittenen politischen Entwicklung mit den praktischen Bedürfnissen des Staats immer enger verknüpft wurden, entwickelte sich jene weitverbreitete religiöse Weltanschauung der gebildeten Kreise, die wir nur als Scheinchristentum bezeichnen können - im Grunde eine "religiöse Lüge" bedenklichster Art. Die großen Gefahren, welche dieser tiefe Konflikt zwischen der wahren Überzeugung und dem falschen Bekenntnis der modernen Scheinchristen mit sich bringt, hat u. a trefflich Max Nordau geschildert in seinem interessanten Werk: "Die Konventionellen Lügen der Kulturmenschheit" (1883; XII. Auflage 1886).

Inmitten dieser offenkundigen Unwahrhaftigkeit des herrschenden Scheinchristentums ist es für den Fortschritt der vernunftgemäßen Naturerkenntnis sehr wertvoll, dass dessen mächtigster und entschiedenster Gegner, der Papismus, um die Mitte des 19. Jahrhunderts die alte Maske angeblicher höherer Geistesbildung fortgeworfen und der selbstständigen Wissenschaft als solcher den entscheidenden "Kampf auf Tod oder Leben" angekündigt hat. Es geschah dies in drei bedeutungsvollen Kriegserklärungen gegen die Vernunft, für deren Unzweideutigkeit und Entschiedenheit die moderne Wissenschaft und Kultur dem römischen "Stattalter Christi" nur dankbar sein kann:

I. Im Dezember 1854 verkündete der Papst das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariä.

II. Zehn Jahre später, im Dezember 1864, sprach der "heilige Vater" in der berüchtigten Enzyklika Quanta cura das absolute Verdammungs-Urteil über die ganze moderne Zivilisation und Geistesbildung aus; in dem begleitenden Syllabus errorum gab er eine Aufzählung und Verfluchung aller einzelnen Vernunftsätze und philosophischen Prinzipien, welche von unserer modernen Wissenschaft als sonnenklare Wahrheit anerkannt sind.

III. Endlich setzte sechs Jahre später, am 13. Juli 1870, der streitbare Kirchenfürst im Vatikan seinem Aberwitz die Krone auf, indem er für sich und alle seine Vorgänger in der Papstwürde die Unfehlbarkeit in Anspruch nahm. Dieser Triumpf der römischen Kurie wurde der erstaunten Welt fünf Tage später verkündet, am 18. Juli 1870, an demselben denkwürdigen Tag, an welchem Frankreich Preußen den Krieg erklärte! Zwei Monate später wurde die weltliche Herrschaft des Papstes infolge dieses Krieges aufgehoben.

Unfehlbarkeit des Papstes

Diese drei wichtigsten Akte des Papismus im 19. Jahrhundert waren so offenkundige Faustschläge in das Antlitz der Vernunft, dass sie selbst innerhalb der orthodoxen katholischen Kreise von Anfang an das höchste Bedenken erregten. Als man im vatikanischen Konzil am 13. Juli 1870 zur Abstimmung über das Dogma von der Unfehlbarkeit schritt, erklärten sich nur drei Viertel der Kirchenfürsten zu Gunsten desselben, nämlich 451 von 601 Abstimmenden; dazu fehlten noch zahlreiche andere Bischöfe, welche sich der gefährlichen Abstimmung enthalten wollten. Indessen zeigte sich bald, dass der kluge und menschenkundige Papst richtiger gerechnet hatte als die zaghaften "besonnenen Katholiken"; denn in den leichtgläubigen und ungebildeten Massen fand auch dieses ungeheuerliche Dogma trotz aller Bedenken blinde Annahme.

Die ganze Geschichte des Papsttums, wie sie durch Tausende von zuverlässigen Quellen und von handgreiflichen historischen Dokumenten unwiderleglich festgenagelt ist, erscheint für den unbefangenen Kenner als ein gewissenloses Gewebe von Lug und Trug, als ein rücksichtsloses Streben nach absoluter Macht, als eine frivole Verleugnung aller hohen sittlichen Gebote, welche das wahre Christentum predigt: Menschenliebe und Duldung, Wahrheit und Keuschheit, Armut und Entsagung. Wenn man die lange Reihe der Päpste und der römischen Kirchenfürsten, aus denen sie gewählt wurden, nach dem Maßstab der reinen christlichen Moral mustert, ergibt sich klar, dass die große Mehrzahl derselben schamlose Gaukler und Betrüger waren, viele von ihnen nichtswürdige Verbrecher. Diese allbekannten historischen Tatsachen hindern aber nicht, dass noch heute Millionen von "gebildeten" Katholiken an die "Unfehlbarkeit" dieses "heiligen Vaters" glauben, die er sich selbst zugesprochen hat; sie hindern nicht, dass heute noch protestantische Fürsten nach Rom fahren und den "heiligen Vater" (ihrem gefährlichsten Feind!) ihre Verehrung bezeugen; sie hindern nicht, dass noch heute im Deutschen Reichstag die Knechte und Helfershelfer dieses "heiligen Gauklers" die Geschicke des Deutschen Volkes bestimmen - dank seiner unglaublichen politischen Unfähigkeit und seiner kritiklosen Gläubigkeit!

Enzyklika und Syllabus

Unter den angeführten drei großen Gewalttaten, durch welche der moderne Papismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine absolute Herrschaft zu retten und zu befestigen suchte, ist für uns am interessantesten die Verkündigung der Enzyklika und des Syllabus im Dezember 1864; denn in diesen denkwürdigen Aktenstücken wird der Vernunft und Wissenschaft überhaupt jede selbstständige Tätigkeit abgesprochen und ihre absolute Unterwerfung unter den "alleinseligmachenden Glauben", d. h. unter die Dekrete des "unfehlbaren Papstes", gefordert. Die ungeheure Erregung, welche diese maßlose Frechheit in allen gebildeten und unabhängig denkenden Kreisen hervorrief, entsprach dem ungeheuerlichen Inhalt der Enzyklika; eine vortreffliche Erörterung ihrer kulturellen und politischen Bedeutung hat u. a Draper in seiner Geschichte der Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft gegeben (1875).

Unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria

Weniger einschneidend und bedeutungsvoll als die Enzyklika und als das Dogma der Infallibilität des Papstes erscheint vielleicht das Dogma von der unbefleckten Empfängnis. Indessen legt nicht nur die römische Hierarchie auf diesen Glaubenssatz das höchste Gewicht, sondern auch ein Teil der orthodoxen Protestanten (z. B. die Evangelische Allianz). Der sogenannte "Immakulat-Eid", d. h. die eidliche Versicherung des Glaubens an die unbefleckte Empfängnis Mariä, gilt noch heute Millionen von Christen als heilige Pflicht. Viele Gläubige verbinden damit einen doppelten Begriff; sie behaupten, dass die Mutter der Jungfrau Maria ebenso durch den "Heiligen Geist" befruchtet worden sei, wie diese selbst. Demnach würde dieser seltsame Gott sowohl zur Mutter als zur Tochter in den intimsten Beziehungen gestanden haben; er müsste mithin sein eigener Schwiegervater sein (Saladin). Die vergleichende und kritische Theologie hat neuerdings nachgewiesen, dass auch dieser Mythos, gleich den meisten anderen Legenden der christlichen Mythologie keienswegs originell, sondern aus älteren Religionen, besonders dem Buddhismus, übernommen ist. Ähnliche Sagen hatten schon mehrere Jahrhunderte vuZ. eine weite Verbreitung in Indien, Persien, Kleinasien und Griechenland. Wenn Königstöchter oder andere Jungfrauen aus höheren Ständen, ohne legitim verheiratet zu sein, durch die Geburt eines Kindes erfreut wurden, so wurde als der Vater dieses illegitimen Sprößlings meistens ein "Gott" oder "Halbgott" ausgegeben, in diesem Fall der mysteriöse "Heilige Geist".

Die besonderen Gaben des Geistes und Körpers, durch welche solche "Kinder der Liebe" oft vor gewöhnlichen Menschenkindern sich auszeichneten, wurden damit zugleich teilweise durch Vererbung erklärt. Solche hervorragende "Göttersöhne" standen sowohl im Altertum als im Mittelalter in hohem Ansehen, während der Moral-Kodex der modernen Zivilisation ihnen den Mangel der "legitimen" Eltern als Makel anrechnet. In noch höherem Maße gilt dies von den "Göttertöchtern", obwohl diese armen Mädchen an dem fehlenden Titel ihres Vaters ebenso unschuldig sind. Übrigens weiß Jeder, der sich an der schönheitsvollen Mythologie des klassischen Altertums erfreut hat, wie gerade die angeblichen Söhne und Töchter der griechischen und römischen "Götter" sich oft den höchsten Idealen des reinen Menschen-Typus am meisten genähert haben; man denke nur an die große legitime und die noch viel größere illegitime Familie des Göttervaters Zeus usw. (Vgl. auch Shakespeare.)

Was nun speziell die Befruchtung der Jungfrau Maria durch den heiligen Geist betrifft, so werden wir duch das Zeugnis der Evangelien selbst darüber aufgeklärt. Die beiden Evangelisten, welche allein daüber Bericht erstatten, Matthäus und Lukas, erzählen übereinstimmend, dass die jüdische Jungfrau Maria mit dem Zimmermann Joseph verlobt war, aber ohne dessen Mitwirkung schwanger wurde, und zwar durch den "Heiligen Geist". Matthäus sagt ausdrücklich (Kap. 1, Vers 19): "Joseph aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht in Schande bringen, gedachte aber, sie heimlich zu verlassen"; er wurde erst beschwichtigt, als ihm der "Engel des Herrn" mitteilte: "Was in ihr geboren ist, das ist von dem heiligen Geist." Ausführlicher erzählt Lukas (Kap. 1, Vers 26-38) die "Verkündigung Mariä" durch den Erzengel Gabriel mit den Worten: "Der heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten" - worauf Maria antwortet; "Siehe, ich bin des Herrn Magd, mir geschehe, wie du gesagt hast." Bekanntlich ist dieser Besuch des Engels Gabriel und seine Verkündigung von vielen berühmten Malern zum Vorwurf interessanter Gemälde gewählt worden. Svoboda sagt darüber: "Der Erzengel spricht da mit einer Aufrichtigkeit, welche die Malerei zum Glück nicht wiederholen konnte. Es zeigt sich auch in diesem Falle die Veredelung eines prosaischen Bibelstoffes durch die bildende Kunst. Allerdings gab es auch Maler, welche für die embryologischen Betrachtungen des Erzengels Gabriel in ihren Darstellungen volles Verständnis bekundeten."

Wie schon früher angeführt wurde, sind die vier kanonischen Evangelien, welche von christlichen Kirche allein als die echten anerkannt und als die Grundlagen des Glaubens hochgehalten werden, willkürlich ausgewählt aus einer viel größeren Zahl von Evangelien, deren tatsächliche Angaben sich oft unter sich nicht weniger widersprechen als die Sagen der ersteren. Die Kirchenväter selbst zählen nicht weniger als 40-50 solcher unechter oder apokrypher Evangelien auf; einige davon sind sowohl in griechischer als in lateinischer Sprache vorhanden, so z. B. das Evangelium des Jakobus, des Thomas, des Nikodemus u.a. Die Angaben, welche diese apokryphen Evangelien über das Leben Jesu machen, bsonders über seine Geburt und Kindheit, können ebenso gut (oder größtenteils ebenso wenig!) Anspruch auf historische Glaubwürdigkeit erheben wie die vier kanonischen, die sogenannten "echten" Evangelien. Nun findet sich aber in einer jener apokryphen Schriften eine historische Angabe, die wahrscheinlich das "Welträtsel" von der übernatürlichen Empfängnis und Geburt Christi ganz einfach und natürlich löst. Jener Geschichtsschreiber erzählt mit trockenen Worten in einem Satze die merkwürdige Novelle, welche diese Lösung enthält: "Josephus Pandera, der römische Hauptmann einer kalabresischen Legion, welche in Judäa stand, verführte Mirjam von Bethlehem, ein hebräisches Mädchen und wurde der Vater von Jesus." (Vergl. Celsus, 178 )

Natürlich werden diese historischen Angaben von den offiziellen Theologen sorgfältig verschwiegen, da sie schlecht zu dem traditionellen Mythos passen und den Schleier von dessen Geheimnis in sehr einfacher und natürlicher Weise lüften. Um so mehr ist es gutes Recht der objektiven Wahrheitsforschung und heilige Pflicht der reinen Vernunft, diese wichtigen Angaben kritisch zu prüfen. Da ergibt sich denn, dass dieselben sicher weit mehr Anrecht auf Glaubwürdigkeit haben, als alle anderen Behauptungen über den Ursprung Christi. Da wir seine Parthenogenesis, die übernatürliche Erzeugung durch "Überschattung des Höchsten", aus den bekannten wissenschaftlichen Prinzipien überhaupt als reinen Mythos ablehnen müssen, bleibt nur noch die weitverbreitete Behauptung der modernen "rationellen Theologie" übrig, dass der jüdische Zimmermann Joseph der wahre Vater von Christus gewesen sei. Diese Annahme wird aber durch verschiedene Sätze des Evangeliums ausdrücklich wiederlegt; Christus selbst war überzeugt, "Gottes Sohn" zu sein, und hat niemals seinen Stiefvater Joseph als seinen Erzeuger anerkannt. Joseph aber wollte seine Braut Maria verlassen, als er entdeckte, dass sie ohne sein Zutun schwanger geworden war. Er gab diese Absicht erst auf, nachdem ihm im Traum ein "Engel des Herrn" erschienen war und ihn beschwichtigt hatte. Wie im ersten Kapitel des Evangeliums Matthäi (Vers 24, 25) ausdrücklich hervorgehoben wird, fand die sexuelle Verbindung von Joseph und Maria zum ersten Male statt, nachdem Jesus geboren war.

Die Angabe der alten apokryphen Schriften, dass der römische Hauptmann Pandera oder Pantheras der wahre Vater von Christus gewesen, erscheint um so glaubhafter, wenn man von streng anthropologischen Gesichtspunkten aus die Person Christi kritisch prüft. Gewöhnlich wird derselbe als reiner Jude betrachtet. Allein gerade die Charakter-Züge, die seine hohe und edle Persönlichkeit besonders auszeichnen und welche seiner "Religion der Liebe" den Stempel aufdrücken, sind entschieden nicht semitisch; vielmehr erscheinen sie als Grundzüge der höheren arischen Rasse und vor allem ihres edelsten Zweiges, der Hellenen. Nun deutet aber der Name von Christus' wahrem Vater: "Pandera", unzweifelhaft auf hellenischen Ursprung; in einer Handschrift wird er sogar "Pandora" geschrieben. Pandora war aber bekanntlich nach der griechischen Sage die erste, von Vulkan aus Erde gebildete und von den Göttern mit allen Liebreizen ausgestattete Frau, welche Epimetheus heiratete, und welche der Götter-Vater mit der schrecklichen, alle Übel enthaltenden "Pandora-Büchse" zu den Menschen schickte, zur Strafe dafür, dass der Lichtbringer Prometheus das göttliche Feuer (der "Vernunft"!) vom Himmel entwendet hatte.

Interessant ist übrigens die verschiedene Auffassung und Beurteilung, welche der Liebesroman der Mirjam von Seiten der vier großen christlichen Kultur-Nationen Europa's erfahren hat. Nach den strengeren Moral-Begriffen der germanischen Rassen wird derselbe schlechtweg verworfen; lieber glaubt der ehrliche Deutsche und der prüde Brite blind an die unmögliche Sage von der Erzeugung durch den "heiligen Geist". Wie bekannt, entspricht diese strenge, sorgfältig zur Schau getragene Prüderie der feineren Gesellschaft (besonders in England!) keineswegs dem wahren Zustande der sexuellen Sittlichkeit in dem dortigen "High life". Die Enthüllungen z. B., welche darüber vor einem Dutzend Jahren die "Pall Mall Gazette" brachte, erinnerten sehr an die Zustände von Babylon und an das Rom der Kaiserzeit.

Die romanischen Rassen, welche diese Prüderie verlachen und die sexuellen Verhältnisse leichtfertiger beurteilen, finden jenen "Roman der Maria" recht anziehend, und der besondere Kultus, dessen gerade in Frankreich und Italien "Unsere liebe Frau" sich erfreut, ist oft in merkwürdiger Naivität mit jener Liebesgeschichte verknüpft. So finden z. B. Paul de Regla (Dr. Desjardin), welcher (1894) "Jesus von Nazareth vom wissenschaftlichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Standpunkte aus dargestellt" hat, gerade in der unehelichen Geburt Christi ein besonderes "Anrecht auf den Heiligenschein, der seine herrliche Gestalt umstrahlt"!

Es erschien mir notwendig, diese wichtigen Fragen der Christus-Forschung hier offen im Sinne der objektiven Geschichts-Wissenschaft zu beleuchten, weil die streitende Kirche selbst darauf das größte Gewicht legt, und weil sie den darauf gegründeten Wunderglauben als stärkste Waffe gegen die moderne Weltanschauung verwendet. Der hohe ethische Wert des ursprünglichen reinen Christentums, der veredelnde Einfluss dieser "Religion der Liebe" auf die Kulturgeschichte, ist ganz unabhängig von jenen mythologischen Dogmen. Die angeblichen "Offenbarungen", auf welche sich diese Mythen stützen, sind dagegen unvereinbar mit den sichersten Ergebnissen unserer modernen Naturerkenntnis.