Ernst Haeckel, Die Welträtsel - 10. Kapitel

10. Kapitel

Bewusstsein der Seele

Monistische Studien über bewusstes und unbewusstes Seelenleben. Entwicklungsgeschichte und Theorie des Bewusstseins.

Inhalt: Das Bewusstsein als Naturerscheinung. Begriff desselben. Schwierigkeiten der Beurteilung. Sein Verhältnis zum Seelenleben. Unser menschliches Bewusstsein. Verschiedene Theorien:
I. Anthropistische Theorie (Descartes).
II. Neurologische Theorie (Darwin).
III. Animalische Theorie (Schopenhauer).
IV. Biologische Theorie (Fechner).
V. Zellulare Theorie (Fritz Schultze).
VI. Atomistische Theorie.
Monistische und dualistische Theorie. Transzendenz des Bewusstseins. Ignorabimus (Du Bois-Reymond). Physiologie des Bewusstseins. Entdeckung der Denkorgane (Flechsig). Pathologie. Doppeltes und intermittierendes Bewusstsein. Ontogenie des Bewusstseins; Veränderung in den verschiedenen Lebensaltern. Phylogenie des Bewusstseins. Begriffs-Bildung.

Unter allen Äußerungen des Seelenlebens gibt es keine, die so wunderbar erscheint und so verschieden beurteilt wird wie das Bewusstsein. Nicht allein über das eigentliche Wesen dieser Seelentätigkeit und über ihr Verhältnis zum Körper, sondern auch über ihre Verbreitung in der organischen Welt, über ihre Entstehung und Entwicklung stehen sich noch heute, wie seit Jahrtausenden, die widersprechendsten Ansichten gegenüber. Mehr als jede andere psychische Funktion hat das Bewusstsein zu der irrtümlichen Vorstellung eines "immatierellen Seelenwesens" und im Anschluss daran zu dem Aberglauben der "persönlichen Unsterblichkeit" Veranlassung gegeben; viele der schwersten Irrtümer, die unser modernes Kultur-Leben noch heute beherrschen, sind darauf zurückzuführen. Ich habe daher schon früher das Bewusstsein als das "psychologische Zentral-Mysterium" bezeichnet; es ist die feste Zitadelle aller mystischen und dualistischen Irrtümer, an deren gewaltigen Wällen alle Angriffe der bestgerüsteten Vernunft zu scheitern drohen. Schon diese Tatsache allein rechtfertigt es, dass wir hier dem Bewusstsein eine besondere kritische Betrachtung von unserem monistischen Standpunkte aus widmen. Wir werden sehen, dass das Bewusstsein nicht mehr und nicht minder wie jede andere Seelentätigkeit eine Natur-Erscheinung ist, und dass es gleich allen anderen Natur-Erscheinungen dem Substanz-Gesetz unterworfen ist.

Begriff des Bewusstseins

Schon über den elementaren Begriff dieser Seelentätigkeit, über seinen Inhalt und Umfang, gehen die Ansichten der angesehensten Philosophen und Naturforscher weit auseinander. Vielleicht am besten bezeichnet man den Inhalt des Bewusstseins als innere Anschauung und vergleicht diese einer Spiegelung. Als zwei Hauptbezirke desselben unterscheiden wir das objektive und subjektive Bewusstsein, das Weltbewusstsein und Selbstbewusstsein. Bei Weitem der größte Teil aller bewussten Seelentätigkeit betrifft, wie schon Schopenhauer richtig erkannte, das Bewusstsein der Außenwelt, der "anderen Dinge"; dieses Weltbewusstsein umfasst alle möglichen Erscheinungen der Außenwelt, welche überhaupt unserer Erkenntnis zugänglich sind. Viel beschränkter ist unser Selbstbewusstsein, die innere Spiegelung unserer eigenen gesamten Seelentätigkeit, aller Vorstellungen, Empfindungen und Strebungen oder Willenstätigkeiten.

Bewusstsein und Seelenleben

Viele und angesehene Denker, namentlich unter den Physiologen (z. B. Wundt und Ziehen), halten die Begriffe des Bewusstseins und der psychischen Funktionen für identisch: "alle Seelentätigkeit ist bewusste"; das Gebiet des psychischen Lebens reicht nun soweit wie dasjenige des Bewusstseins. Nach unserer Ansicht erweitert diese Definition die Bedeutung des letzteren in ungebührlicher Weise und gibt Veranlassung zu zahlreichen Irrtümern und Missverständnissen. Wir teilen vielmehr die Ansicht anderer Philosophen (z. B. Romanes, Fritz Schultze, Paulsen), dass auch die unbewussten Vorstellungen, Empfindungen und Strebungen zum Seelenleben gehören; in der Tat ist sogar das Gebiet der unbewussten psychischen Aktionen (der Reflextätigkeit usw.) viel ausgedehnter als dasjenige der bewussten. Beide Gebiete stehen übrigens im engsten Zusammenhang und sind durch keine scharfe Grenze getrennt; jederzeit kann uns eine unbewusste Vorstellung plötzlich bewusst werden; wird unsere Aufmerksamkeit darauf durch ein anderes Objekt gefesselt, so kann sie ebenso rasch wieder unserem Bewusstsein völlig entschwinden.

Bewusstsen des Menschen

Die einzige Quelle unserer Erkenntnis des Bewusstseins ist dieses selbst, und hierin liegt in erster Linie die außerordentliche Schwierigkeit seiner wissenschaftlichen Untersuchung und Deutung. Subjekt und Objekt fallen hier in Eins zusammen; das erkennende Subjekt spiegelt sich in seinem eigenen inneren Wesen, welches Objekt der Erkenntnis sein soll. Auf das Bewusstsein anderer Wesen können wir also niemals mit voller objektiver Sicherheit schließen, sondern immer nur durch Vergleichung seiner Seelen-Zustände mit unseren eigenen. Soweit diese Vergleichung sich nur auf normale Menschen erstreckt, können wir allerdings auf deren Bewusstsein gewisse Schlüsse ziehen, deren Richtigkeit Niemand bezweifelt. Aber schon bei abnormen Persönlichkeiten (bei genialen und exzentrischen, stumpfsinnigen und geisteskranken Menschen) sind diese Analogie-Schlüsse entweder unsicher oder falsch. In noch höherem Grade gilt das, wenn wir das Bewusstsein des Menschen mit demjenigen der Tiere (zunächst der höheren, weiterhin der niederen Tiere) in Vergleich stellen. Da ergeben sich alsbald so große tatsächliche Schwierigkeiten, dass die Ansichten der hervorragendsten Physiologen und Philosophen himmelweit auseinander gehen. Wir wollen hier nur die wichtigsten Anschauungen darüber kurz einander gegenüberstellen.

I. Anthropistische Theorie des Bewusstseins

Es ist dem Menschen eigentümlich. Die weitverbreitete Anschauung, dass Bewusstsein und Denken ausschließliches Eigentum des Menschen seien, und dass auch ihm allein eine "unsterbliche Seele" zukomme, ist auf Descartes zurückzuführen (1643). Dieser geistreiche französische Philosoph und Mathematiker (erzogen in einem Jesuiten-Kollegium!) begründete eine vollkommene Scheidewand zwischen der Seelentätigkeit des Menschen und der Tiere. Die Seele des Menschen als denkendes, immaterielles Wesen ist nach ihm vom Körper, als ausgedehntem, materiellem Wesen, vollständig getrennt. Trotzdem soll sie an einem Punkte des Gehirns (an der Zirbeldrüse!) mit dem Körper verbunden sein, um hier Einwirkungen der Außenwelt aufzunehmen und ihrerseits auf den Körper auszuüben. Die Tiere dagegen, als nicht denkende Wesen, sollen keine Seele besitzen und reine Automaten sein, kunstvoll gebaute Maschinen, deren Empfinden, Vorstellen und Wollen rein mechanisch zu Stande kommt und nach physikalischen Gesetzen verläuft. Für die Psychologie des Menschen vertrat demnach Descartes den reinen Dualismus, für diejenige der Tiere den reinen Monismus. Dieser offenkundige Widerspruch bei einem so klaren und scharfsinnigen Denker muss höchst auffallend erscheinen; zur Erklärung desselben darf man wohl mit Recht annehmen, dass er seine wahre Überzeugung verschwieg und deren Erkenntnis dem selbstständigen Denken überließ. Als Zögling der Jesuiten war Descartes schon frühzeitig dazu erzogen, wider bessere Einsicht die Wahrheit zu verleugnen; vielleicht fürchtete er auch die Macht der Kirche und ihre Scheiterhaufen. Ohnehin hatte ihm seine skeptische Forderung, dass jedes reine Erkenntnisstreben vom Zweifel am überlieferten Dogma ausgehen müse, fanatische Anklagen wegen Skeptizismus und Atheismus zugezogen. Die mächtige Wirkung, welche Descartes auf die nachfolgende Philosophie ausübte, war sehr merkwürdig und seiner "doppelten Buchführung" entsprechend. Die Materialisten des 17. und 18. Jahrhunderts beriefen sich für ihre monistische Psychologie auf die cartesianische Theorie von der Tierseele und ihrer mechanischen Maschinentätigkeit. Die Spiritualisten umgekehrt behaupteten, dass ihr Dogma von der Unsterblichkeit der Seele und ihrer Unabhängigkeit vom Körper durch die cartesianische Theorie der Menschenseele unwiderleglich begründet sei. Diese Ansicht ist auch heute noch im Lager der Theologen und der dualistischen Metapysiker die herrschende. Die naturwissenschaftliche Anschauung des 19. Jahrhunderts hat sie mit Hilfe der empirischen Fortschritte im Gebiete der physiologischen und vergleichenden Psychologie völlig überwunden.

II. Neurologische Theorie des Bewusstseins

Es kommt nur dem Menschen und jenen höheren Tieren zu, welche ein zentralisiertes Nerven-System und Sinnesorgane besitzen. Die Überzeugung, dass ein großer Teil der Tiere - zum mindesten die höheren Säugetiere - ebenso eine denkende Seele und also auch Bewusstsein besitzt, wie der Mensch, beherrscht die Kreise der modernen Zoologie, der exakten Physiologie und der monistischen Psychologie. Die großartigen Fortschritte der Neuzeit in mehreren Gebieten der Biologie haben uns übereinstimmend zu der Anerkennung dieser bedeutungsvollen Erkenntnis geführt. Wir beschränken uns bei ihrer Würdigung zunächst auf die höheren Wirbeltiere und vor Allem auf die Säugetiere. Dass die intelligentesten Vertreter dieser höchst entwickelten Vertebraten - Allen voran die Affen und Hunde - in ihrer gesamten Seelentätigkeit sich dem Menschen höchst ähnlich verhalten, ist seit Jahrtausenden bekannt und bewundert. Ihre Vorstellungs- und Sinnes-Tätigkeit, ihr Empfinden und Begehren ist dem menschlichen so ähnlich, dass wir keine Beweise dafür anzuführen brauchen. Aber auch die höhere Assoziations-Tätigkeit ihres Gehirns, die Bildung von Urteilen und deren Verbindung zu Schlüssen, das Denken und das Bewusstsein im engeren Sinne, sind bei ihnen ähnlich entwickelt wie beim Menschen - nur dem Grade, nicht der Art nach verschieden. Überdies lehrt uns die vergleichende Anatomie und Histologie, dass die verwickelte Zusammensetzung des Gehirns (sowohl die feinere als die gröbere Struktur) bei diesen höheren Säugetieren im Wesentlichen dieselbe wie beim Menschen ist. Dasselbe zeigt uns die vergleichende Ontogenie bezüglich der Entstehung dieser Seelen-Organe. Die vergleichende Physiologie lehrt, dass die verschiedenen Zustände des Bewusstseins sich bei diesem höchstentwickelten Plazentaltieren ganz ähnlich wie beim Menschen verhalten, und das Experiment beweist, dass sie auch auf äußere Eingriffe ebenso reagieren. Man kann höhere Tiere durch Alkohol, Chloroform, Äther usw. ebenso betäuben, durch geeignete Behandlung ebenso hypnotisiren usw. wie den Menschen. Dagegen ist es nicht möglich, die Grenze scharf zu bestimmen, wo auf den niederen Stufen des Tierlebens das Bewusstsein zuerst als solches erkennbar wird. Die einen Zoologen setzen dieselbe sehr hoch oben an, die anderen sehr tief unten. Darwin, der die verschiedenen Abstufungen des Bewusstseins, der Intelligenz und des Gemüts bei den höheren Tieren sehr genau unterscheidet und durch zunehmende Entwicklung erklärt, weist zugleich darauf hin, wie schwer oder eigentlich wie unmöglich es ist, die ersten Anfänge dieser höchsten Seelentätigkeiten bei den niederen Tieren zu bestimmen. Nach meiner persönlichen Auffassung dünkt mir unter den verschiedenen widersprechenden Theorien am wahrscheinlichsten die Annahme, dass das Zustandekommen des Bewusstseins an die Zentralisation des Nervensystems gebunden ist, die den niederen Tierklassen noch fehlt. Die Anwesenheit eines nervösen Zentralorgans, hoch entwickelte Sinnesorgane und eine weit ausgebildete Assoziation der Vorstellungs-Gruppen scheinen mir erforderlich, um das einheitliche Bewusstsein zu ermöglichen.

III. Animalische Theorie des Bewusstseins

Es findet sich bei allen Tieren und nur bei diesen. Hiernach würde ein scharfer Unterschied im Seelenleben der Tiere und Pflanzen bestehen; ein solcher wurde schon von vielen alten Autoren angenommen und von Linné scharf formuliert in seinem grundlegenden "Systema naturae" (1735); die beiden großen Reiche der organischen Natur unterscheiden sich nach ihm dadurch, dass die Tiere Empfindung und Bewusstsein haben, die Pflanzen nicht. Später hat besonders Schopenhauer diesen Unterschied scharf betont: "Das Bewusstsein ist bei uns schlechthin nur als Eigenschaft animaler Wesen bekannt. Auch nachdem es sich durch die ganze Tierreihe, bis zum Menschen und seiner Vernunft, gesteigert hat, bleibt die Bewusstlosigkeit der Pflanze, von der er ausging, noch immer die Grundlage. Die untersten Tiere haben bloß eine Dämmerung desselben." Die Unhaltbarkeit dieser Ansicht wurde schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts klar, als man das Seelenleben der niederen Cölenteraten (Schwämme und Nesseltiere) näher kennen lernte: echte Tiere, die ebenso wenig Spuren von klarem Bewusstsein besitzen wie die meisten Pflanzen. Noch mehr wurde der Unterschied zwischen den beiden Reichen verwischt, als man die einzelligen Lebensformen genauer untersuchte. Die plasmophagen Urtiere (Protozoa) und die plasmodomen Urpflanzen (Protophyta) zeigen keine psychologischen Unterschiede, auch nicht in Beziehung auf ihr fragliches Bewusstsein.

Biologische Theorie des Bewusstseins

IV. Es ist allen Organismen gemeinsan, es findet sich bei allen Tieren und Pflanzen, während es den anorganischen Naturkörpern (Kristallen usw.) fehlt. Diese Annahme wird gewöhnlich mit der Ansicht verknüpft, dass alle Organismen (im Gegensatz zu den Anorganen) beseelt sind; die drei Begriffe: Leben, Seele und Bewusstsein, fließen dann gewöhnlich zusammen. Eine andere Modifikation dieser Anschauung ist, dass diese drei Grunderscheinungen des organischen Lebens zwar untrennbar verknüpft sind, dass aber das Bewusstsein nur ein Teil der psychischen Tätigkeit ist, wie diese selbst ein Teil der Lebenstätigkeit. Dass die Pflanzen in demselben Sinne wie die Tiere eine "Seele" besitzen, hat namentlich Fechner sich zu zeigen bemüht, und Manche schreiben der Pflanzen-Seele ein Bewusstsein von ähnlicher Art zu wie der Tier-Seele. In der Tat sind ja bei sehr empfindlichen "Sinnpflanzen" (Mimosa, Drosera, Dionea) die auffallenden Reizbewegungen der Blätter, bei manchen anderen (Klee und Sauerklee, besonders aber Hedysarum) die autonomen Bewegungen bei "schlafenden Pflanzen" (auch vorzugsweise [Papilionaceen], Fabaceae) die Schlafbewegungen usw. auffallend ähnlich denjenigen vieler niederen Tiere; wer den letzteren Bewusstsein zuschreibt, darf es ganz gewiss auch den ersteren nicht absprechen.

Zellulare Theorie des Bewusstseins

V. Es ist eine Lebens-Eigenschaft jeder Zelle. Die Anwendung der Zellen-Theorie auf alle Zweige der Biologie verlangt auch ihre Verknüpfung mit der Psychologie. Mit demselben Recht, mit dem man in der Anatomie und Physiologie die lebendige Zelle als einen "Elementar-Organismus" behandelt und das ganze Verständnis des höheren, vielzelligen Tier- und Pflanzen-Körpers daraus ableitet, mit demselben Recht kann man auch die "Zellseele" als das psychologische Element betrachten und die zusammengesetzte Seelentätigkeit der höheren Organismen als das Resultat aus dem vereinigten Seelenleben der Zellen, die sie zusammensetzen. Ich habe die Grundzüge dieser Zellular-Psychologie schon 1866 in meiner "Generellen Morphologie" entworfen und sie später weiter ausgeführt in meinem Aufsatz über "Zellseelen und Seelenzellen". Zum tieferen Eindringen in diese "Elementar-Psychologie" wurde ich durch meine langjährige Beschäftigung mit den einzelligen Lebensformen geführt. Viele von diesen kleinen (meist mikroskopischen) Protisten zeigen ähnliche Äußerungen von Empfindung und Willen, ähnliche Instinkte und Bewegungen wie höhere Tiere: besonders gilt das von den sehr empfindlichen und lebhaft beweglichen Infusorien. Sowohl in dem Verhalten dieser reizbaren Zellinge gegenüber der Außenwelt, wie in vielen anderen Lebensäußerungen derselben (z. B. in dem wunderbaren Gehäuse-Bau der Rhizopoden, der Thalamophoren und Infusorien) könnte man deutliche Spuren bewusster Seelentätigkeit zu erkennen glauben. Wenn man nun die biologische Theorie des Bewusstseins akzeptiert (Nr. IV), und wenn man jede psychische Funktion mit einem Bewusstseins-Anteil ausstattet, dann wird man auch jeder selbstständigen Protisten-Zelle Bewusstsein zuschreiben müssen. Die materielle Grundlage desselben wäre dann entweder das ganze Plasma der Zelle oder deren Kern oder ein Teil desselben. In der Psychaden-Theorie von Fritz Schultze verhält sich das Elementar-Bewusstsein der Psychade zur einzelnen Zelle ähnlich wie im höheren Tier und im Menschen das persönliche Bewusstsein zum vielzelligen Organismus der Person. Definitiv widerlegen lässt sich diese Annahme, die ich früher vertrat, nicht. Ich muss aber jetzt Max Verworn zustimmen, welcher in seinen ausgezeichneten "Psychologischen Protisten-Studien" annimmt, dass wohl sämtlichen Protisten ein entwickeltes "Ichbewusstsein" fehlt, und dass ihre Empfindungen und Bewegungen den Charakter des "Unbewussten" tragen.

VI. Atomistische Theorie des Bewusstseins

Es ist eine Elementar-Eigenschaft aller Atome. Unter allen verschiedenen Anschauungen über die Verbreitung des Bewusstseins geht diese atomistische Hypothese am weitesten. Sie ist wohl hauptsächlich der Schwierigkeit entsprungen, welche manche Philosophen und Biologen bei der Frage nach der ersten Entstehung des Bewusstseins empfinden. Diese Erscheinung trägt ja einen so eigenartigen Charakter, dass ihre Ableitung aus anderen psychischen Funktionen höchst bedenklich erscheint; man glaubte daher dieses Hindernis am leichtesten dadurch zu überwinden, dass man sie als eine Elementar-Eigenschaft aller Materie annahm, gleich der Massen-Anziehung oder der chemischen Wahlverwandtschaft. Es würde danach so viele Formen des Elementar-Bewusstseins geben, als es chemische Elemente gibt; jedes Atom Wasserstoff würde sein hydrogeness Bewusstsein haben, jedes Atom Kohlenstoff sein karbonisches Bewusstsein usw. Auch den alten vier Elementen des Empedokles, deren Mischung durch "Lieben und Hassen" das Werden der Dinge bewirkt, schrieben manche Philosophen Bewusstsein zu.

Ich selbst habe diese Hypothese des Atombewusstseins niemals vertreten; ich bin gezwungen, dies hier besonders hervorzuheben, weil E. Du Bois-Reymond mir diese Ansicht fälschlicherweise untergeschoben hat. In der scharfen Polemik, welche derselbe (1880) in seiner Rede über "die sieben Welträtsel" gegen mich führt, bekämpft er meine "verderbliche falsche Natur-Philosophie" auf das Heftigste und behauptet, ich hätte in meinem Aufsatz über die Perigenesis der Plastidule die "Annahme, dass die Atome einzeln Bewusstsein haben, als metaphysisches Axiom hingestellt". Ich habe vielmehr ausdrücklich betont, dass ich mir die elementaren psychischen Tätigkeiten der Empfindung und des Willens, die man den Atomen zuschreiben kann, unbewusst vorstelle, ebenso unbewusst, wie das elementare Gedächtnis, welches ich nach dem Vorgange des ausgezeichneten Physiologen Ewald Hering (1870) als "eine allgemeine Funktion der organisierten Materie" (besser der lebendigen Substanz") betrachte. Du Bois-Reymond verwechselt hier in auffälliger Weise "Seele" und "Bewusstsein"; ich will dahin gestellt sein lassen, ob er diese Konfusion nur aus Versehen begeht. Da er selbst das Bewusstsein für eine transzendente Erscheinung erklärt, einen Teil der anderen Seelen-Funktionen (z. B. Sinnes-Tätigkeit) aber nicht, muss ich annehmen, dass er beide Begriffe für verschieden hält. Aus anderen Stellen seiner eleganten Reden geht freilich das Gegenteil hervor, wie denn überhaupt dieser berühmte Rhetor sich gerade in Bezug auf wichtige Prinzipien-Fragen oft auffallend widerspricht. Ich betone hier nochmals, dass für mich das Bewusstsein nur einen Teil der Seelen-Erscheinungen bildet, die wir am Menschen und den höheren Tieren beobachten, während der weitaus größere Teil derselben unbewusst abläuft.

Monistische und dualistische Theorie des Bewusstseins

Soweit auch die verschiedenen Ansichten über die Natur und die Entstehung des Bewusstseins auseinander gehen, so lassen sich doch alle schließlich - bei klarer und konsequenter logischer Behandlung - auf zwei entgegengesetzte Grund-Anschauungen zurückführen, auf die transzendente (dualistische) und die physiologische (monistische). Ich selbst habe von jeher diese letztere Aufassung, und zwar im Lichte der Entwicklungslehre, vertreten, und sie wird gegenwärtig von einer großen Anzahl hervorragender Naturforscher geteilt, wenn auch bei weitem nicht von allen. Die erste Ansicht dagegen ist die ältere und die weitaus verbreitetere; sie ist in neuerer Zeit vor Allem durch Emil du Bois-Reymond wieder zu hohem Ansehen gelangt und durch seine berühmte "Ignorabimus-Rede" zu einem der meistbesprochenen Gegenstände in den modernen "Welträtsel-Diskussionen" geworden. Bei der außerordentlichen Bedeutung dieser Grundfrage können wir nicht umhin, hier nochmals auf den Kern derselben kurz einzugehen.

Transzendenz des Bewusstseins

In dem berühmten Vortrag "über die Grenzen des Naturerkennens", welchen E. Du Bois-Reymond am 14. August 1872 auf der Naturforscher-Versammlung in Leipzig hielt, stellte derselbe zwei verschiedene "unbedingte Grenzen" unseres Naturerkennens auf, welche der menschliche Geist auch bei vorgeschrittenster Natur-Erkenntnis niemals überschreiten werde - niemals, wie das oft zitierte Schlusswort des Vortrags emphatisch betont:
"Ignorabimus!" Das eine absolut unlösbare "Welt-Rätsel" ist der "Zusammenhang von Materie und Kraft" und das eigentliche Wesen dieser fundamentalen Natur-Erscheinungen; wir werden dieses "Substanz-Problem" im zwölften Kapitel eingehend behandeln. Das zweite unübersteigliche Hindernis der Philosophie soll das Problem des Bewusstseins bilden, die Frage: wie unsere Geistestätigkeit aus materiellen Bedingungen, bezüglich Bewegungen zu erklären ist, wie die (der Materie und Kraft zu Grunde liegende) "Substanz unter bestimmten Bedingungen empfindet, begehrt und denkt".

Der Kürze halber, und zugleich um das Wesen des Leipziger Vortrages mit einem Schlagworte zu charakterisieren, habe ich dieselbe als "Ignorabimus-Rede" bezeichnet; es ist dies um so mehr gestattet, als E. Du Bois-Reymond selbst acht Jahre später (in der Rede über die sieben Welträtsel, 1880) den außerordentlichen Erfolg derselben mit berechtigtem Stolze rühmen und dabei sagen konnte; "Die Kritik schlug alle Töne vom freudig zustimmenden Lobe bis zum wegwerfendsten Tadel an, und das Wort 'Ignorabimus', in welchem meine Untersuchung gipfelte, ward förmlich zu einer Art von naturphilosophischem Schiboleth." Tatsächlich erschollen die lauten "Töne des freudig zustimmenden Lobes" aus den Hörsälen der dualistischen und spiritualistischen Philosophie und besonders aus dem Heerlager der Ecclesia militans (der "schwarzen Internationale"); aber auch alle Spiritualisten und alle gläubigen Gemüter, welche durch das 'Ignorabimus' die Unsterblichkeit ihrer teuren "Seele" gerettet wähnten, waren davon entzückt. Den "wegwerfendsten Tadel erfuhr die glänzende Ignorabimus-Rede dagegen anfänglich nur von Seiten weniger Naturforscher und Philosophen, von jenen Wenigen, die gleichzeitig über hinreichende naturphilosophische Kenntnisse und über den erforderlichen moralischen Mut verfügten, um den dogmatischen Machtsprüchen des allgewaltigen Sekretärs und Diktators der Berliner Akademie der Wissenschaften entgegenzutreten.

Der merkwürdige Erfolg der Ignorabimus-Rede (den der Redner selbst später gelegentlich als unberechtigt und übertrieben bezeichnet hat!) erklärt sich aus zwei Gründen, einem äußeren und einem inneren. Äußerlich betrachtet war dieselbe unzweifelhaft "ein bedeutungsvolles rhetorisches Kunstwerk, eine schöne Predigt von hoher Vollendung der Form und überraschendem Wechsel naturphilosophischer Bilder. Bekanntlich beurteilt aber die Mehrheit - und besonders das "schöne Geschlecht"! - eine schöne Predigt nicht nach dem wahren Ideen-Gehalte, sondern nach dem ästhetischen Unterhaltungswerte" (Monismus S. 44). Innerlich analysiert dagegen enthält die Ignorabimus-Rede das entschiedene Programm des metaphysischen Dualismus: die Welt ist "doppelt unbegreiflich": einmal die materielle Welt, in welcher "Materie und Kraft" ihr Wesen treiben, und gegenüber, ganz getrennt, die immaterielle Welt des "Geistes", in welcher "Denken und Bewusstsein nicht aus materiellen Bedingungen erklärbar" sind, wie bei der ersteren. Es war ganz naturgemäß, dass der herrschende Dualismus und Mystizismus diese Anerkennung der zwei verschiedenen Welten mit Begierde ergriff, um damit die Doppelnatur des Menschen und die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen. Der Jubel der Spiritualisten darüber war um so heller und berechtigter, als E. Du Bois-Reymond bis dahin als ein bedeutender prinzipieller Vertreter des wissenschaftlichen Materialismus gegolten hatte; und das war und blieb er auch (trotz seiner "schönen Reden"!), ebenso wie alle anderen sachkundigen, klaren und konsequent denkenden Naturforscher der Gegenwart.

Allerdings hat der Verfasser der Ignorabimus-Rede am Schlusse derselben kurz auf die Frage hingewiesen, ob nicht jene beiden gegenüberstehenden "Welträtsel", das allgemeine Substanz-Problem und besondere Bewusstseins-Problem, zusammenfallen. Er sagt: "Freilich ist diese Vorstellung die einfachste und der vorzuziehen, wonach die Welt doppelt unbegreiflich erscheint. Aber es liegt in der Natur der Dinge, dass wir auch in diesem Punkte nicht zur Klarheit kommen, und alles weitere Reden darüber bleibt müßig." - Dieser letzteren Ansicht bin ich von Anfang an entschieden entgegengetreten und habe mich zu zeigen bemüht, dass jene beiden großen Fragen nicht zwei verschiedene Welträtsel sind. "Das neurologische Problem des Bewusstseins ist nur ein besonderer Fall von dem allumfassende kosmologischen Problem, der Substanz-Frage." (Monismus, 1892, S. 23).

Es ist hier nicht der Ort, um nochmals auf die betreffende Polemik und die sehr umfangreiche, darüber entstandene Literatur einzugehen. Ich habe schon vor 30 Jahren, im Vorwort zur ersten Auflage meiner Anthropogenie, gegen die Ignorabimus-Rede, ihre dualistischen Prinzipien und ihre metaphysischen Trugschlüsse entschiedenen Protest erhoben, und ich habe denselben ausführlich begründet in meiner Schrift über "Freie Wissenschaft und freie Lehre" (Stuttgart 1878, s. 78, 82 etc.). Auch in "Monismus" habe ich denselben wieder berührt (S. 23, 44). Du Bois-Reymond, welcher dadurch an seiner empfindlichsten Stelle getroffen war, antwortete sehr gereizt in verschiedenen Reden; auch diese sind, wie die meisten seiner vielgelesenen Reden, blendend durch den eleganten französischen Stil und fesselnd durch den Bilderreichtum und die überraschenden Redewendungen. Aber eine wesentliche Förderung der Welterkenntnis liefert ihre oberflächliche Betrachtungsweise nicht. Am wenigsten gilt das vom Darwinismus, als dessen Anhänger sich der Berliner Physiologe später bedingungsweise bekennt, obgleich er nie das Geringste zu seiner Förderung getan hat; seine absprechenden Bemerkungen über das biogenetische Grundgesetz, seine Verwerfung der Stammesgeschichte usw. bekunden hinlänglich, dass derselbe weder mit den empirischen Tatsachen der vergleichenden Morphologie und Entwicklungsgeschichte hinreichend vertraut, noch zu der philosophischen Würdigung ihrer hohen theoretischen Bedeutung befähigt war.

Physiologie des Bewusstseins

Die eigenartige Natur-Erscheinung des Bewusstseins ist nicht, wie Du Bois-Reymond und die dualistische Philosophie behauptet, ein völlig und "durchaus transzendentes Problem"; sondern sie ist, wie ich schon seit 33 Jahren behauptet habe, ein physiologisches Problem, und als solches auf die Erscheinungen im Gebiete der Physik und Chemie zurückzuführen. Ich habe dasselbe später noch bestimmter als ein neurologisches Problem bezeichnet, weil ich der Ansicht bin, dass wahres Bewusstsein (Denken und Vernunft) nur bei jenen höheren Tieren zu finden ist, welche ein zentralisiertes Nerven-System und Sinnes-Organe von einer gewissen Höhe der Ausbildung besitzen. Mit voller Sicherheit lässt sich das für die höheren Wirbeltiere behaupten, und vor Allem für die plazentalen Säugetiere, aus deren Stamm das Menschen-Geschlecht selbst entsprossen ist. Das Bewusstsein der höchstentwickelten Affen, Hunde, Elephanten usw. ist von demjenigen des Menschen nur dem Grade, nicht der Art nach verschieden, und die graduellen Unterschiede im Bewusstsein dieser "vernünftigsten" Zottentiere und der niedersten Menschen-Rassen (Weddas, Australneger usw.) sind geringer als die entsprechenden Unterschiede zwischen letzteren und den höchst entwickelten Vernunft-Menschen (Spinoza, Goethe, Lamark, Darwin usw.). Das Bewusstsein ist mithin nur ein Teil der höheren Seelentätigkeit, und als solche abhängig von der normalen Struktur des betreffenden Seelen-Organs, des Gehirns.

Physiologische Beobachtung und Experiment haben seit zwanzig Jahren den sicheren Beweis geführt, dass derjenige engere Bezirk des Säugetier-Gehirns, den man in diesem Sinne als "Sitz" (besser als "Organ") des Bewusstseins bezeichnet, ein Teil des Großhirns ist, und zwar jener spät entstandene "graue Mantel" oder die "Großhirnrinde", welche aus dem konvexen Dorsal-Teil der primären Hirnblase, des Vorderhirns, sich entwickelt. Aber auch die morphologische Begründung dieser physiologischen Erkenntnis ist den bewunderungswürdigen Fortschritten der mikroskopischen Gehirn-Anatomie gelungen, welche wir den vervollkommneten Forschungs-Methoden der neuesten Zeit verdanken (Kölliker, Flechsig, Golgi, Edinger, Weigert usw.).

Wohl die wichtigste von diesen Erkenntnissen ist die Entdeckung der Denkorgane durch Paul Flechsig in Leipzig; er wies nach, dass in der grauen Rindenzone des Hirnmantels vier Gebiete der zentralen Sinnesorgane oder "innere Enpfindungssphären" liegen, die Körperfühlsphäre im Scheitellappen, die Riechsphäre im Stirnlappen, die Sehsphäre im Hinterhauptslappen, die Hörsphäre im Schläfenlappen. Zwischen diesen vier "Sinnesherden" liegen die vier großen "Denkherde" oder Assoziations-Zentren, die realen Organe des Geisteslebens; sie sind jene höchsten Werkzeuge der Seelentätigkeit, welche das Denken und das Bewusstsein vermitteln: vorn das Stirnhirn oder das frontale Assoziations-Zentrum, hinten oben das Scheitelhirn oder parietale Assoziations-Zentrum, hinten das Prinzipalhirn oder das "große okzipito-temporale Assoziations-Zentrum" (das wichtigste von allen!) und endlich tief unten, im Innern versteckt, das Inselhirn oder "die Reil«sche Insel", das insulare Assoziations-Zentrum. Diese vier Denkherde, durch eigentümliche und höchst verwickelte Nervenstruktur vor den zwischenliegenden Sinnesherden ausgezeichnet, sind die wahren "Denkorgane", die einzigen Organe unseres Bewusstseins. In neuester Zeit hat Flechsig nachgewiesen, dass in einem Teil derselben sich beim Menschen noch ganz besonders verwickelte Strukturen finden, welche den übrigen Säugetieren fehlen, und welche die Überlegenheit des menschlichen Bewusstseins erklären.

Pathologie des Bewusstseins

Die bedeutungsvolle Erkenntnis der modernen Physiologie, dass das Großhirn beim Menschen und den höheren Säugetieren das Organ des Geisteslebens und des Bewusstseins ist, wird einleuchtend bestätigt durch die Pathologie, durch die Kenntnis seiner Erkrankungen. Wenn die betreffenden Teile der Großhirnrinde durch Krankheit zerstört werden, erlischt ihre Funktion, und zwar lässt sich hier die Lokalisation der Gehirn-Funktionen sogar partiell nachweisen; wenn einzelne Stellen jenes Gebietes erkranken, verschwindet auch der Teil des Denkens und des Bewusstseins, welcher an die betreffende Stelle gebunden ist. Dasselbe Ergebnis liefert das pathologische Experiment; Zerstörung einer solchen bekannten Stelle (z. B. im Sprach-Zentrum) vernichtet deren Funktion (die Sprache). Übrigens genügt ja der Hinweis auf die bekanntesten alltäglichen Erscheinungen im Gebiete des Bewusstseins, um die völlige Abhängigkeit desselben von den chemischen Veränderungen der Gehirn-Substanz zu beweisen. Viele Genussmittel (Kaffee, Tee) regen unser Denkvermögen an; andere (Wein, Bier) stimmen unser Gemüt heiter; Moschus und Kampfer als "Excitantia" beleben das erlöschende Bewusstsein; Äther und Chloroform betäuben dasselbe usw. Wie wäre das Alles möglich, wenn das Bewusstsein ein immaterielles Wesen, unabhängig von jenen anatomisch nachgewiesenen Organen wäre? Und worin besteht das Bewusstsein der "unsterblichen Seele", wenn sie nicht mehr jene Organe besitzt?

Alle diese und andere bekannte Tatsachen beweisen, dass das Bewusstsein beim Menschen - und genau ebenso bei den nächstverwandten Säugetieren - veränderlich ist, und dass seine Tätigkeit jederzeit abgeändert werden kann durch innere Ursachen (Stoffwechsel, Blutkreislauf) und äußere Ursachen (Verletzung des Gehirns, Reizung usw.). Sehr lehrreich sind auch die merkwürdigen Zustände des alternierenden oder doppelten Bewusstseins, welche an einen "Generationswechsel der Vorstellungen" erinnern; derselbe Mensch zeigt an verschiedenen Tagen, unter veränderten Umständen ein ganz verschiedenes Bewusstsein; er weiß heute nicht mehr, was er gestern getan hat; gestern konnte er sagen "Ich bin Ich" - heute muss er sagen "Ich bin ein Anderer". Solche Intermissionen des Bewusstseins können nicht bloß Tage, sondern Monate und Jahre dauern, sie können selbst bleibend werden.

Ontogenie des Bewusstseins

Wie jedermann weiß, ist das neugeborene Kind noch ganz ohne Bewusstsein, und wie Preyer gezeigt hat, entwickelt sich dasselbe erst spät, nachdem das kleine Kind zu sprechen angefangen hat; es spricht von sich lange Zeit in der dritten Person. Erst in dem bedeutungsvollen Moment, in welchem es zum ersten Male "Ich" sagt, in welchem das "Ichgefühl" klar wird, beginnt sein Selbstbewusstsein zu keimen und damit auch der Gegensatz zur Außenwelt. Die schnellen und tiefgreifenden Fortschritte der Erkenntnis, welche das Kind durch den Unterricht der Eltern und der Schule in den ersten zehn Lebensjahren macht, und später langsamer im zweiten Dezennium bis zur vollendeten geistigen Reife, sind eng verknüpft mit unzähligen Fortschritten im Wachstum und in der Entwicklung des Bewusstseins und mit derjenigen seines Organs, des Gehirns. Aber auch wenn der Schüler das "Zeugnis der Reife" erlangt hat, so ist in Wahrheit sein Bewusstsein noch lange nicht reif, und jetzt beginnt erst recht, in vielseitiger Berührung mit der Außenwelt, das "Weltbewusstsein" sich zu entwickeln. Jetzt erst reift im dritten Dezennium jene volle Ausbildung des vernünftigen Denkens und damit des Bewusstseins, welche dann bei normaler Entwicklung in den folgenden drei Jahrzehnten ihre reifen Früchte trägt. Gewöhnlich mit Beginn des siebenten Dezenniums (bald früher, bald später) beginnt dann jene langsame und allmähliche Rückbildung der höheren Geistestätigkeit, welche das Greisenalter charakterisiert. Gedächtnis, Rezeptions-Fähigkeit und Interesse an speziellen Objekten nehmen mehr und mehr ab; dagegen bleibt die Produktionsfähigkeit, das gereifte Bewusstsein und das philosophische Interesse an allgemeinen Beziehungen, oft noch lange erhalten. Die individuelle Entwicklung des Bewusstseins in früher Jugend beweist die allgemeine Geltung des biogenetischen Grundgesetzes; aber auch in späteren Jahren ist dieselbe noch vielfach erkennbar. Jedenfalls überzeugt uns die Ontogenese des Bewusstseins auf's Klarste von der Tatsache, dass dasselbe kein "immaterielles Wesen", sondern eine physiologische Funktion des Gehirns ist, und dass es also auch keine Ausnahme vom Substanz-Gesetze bildet.

Phylogenie des Bewusstseins

Die Tatsache, dass das Bewusstsein, gleich allen anderen Seelentätigkeiten, an die normale Ausbildung bestimmter Organe gebunden ist, und dass sich dasselbe beim Kind, in Zusammenhang mit diesen Gehirn-Organen, allmählich entwickelt, lässt schon von vornherein schließen, dass dasselbe auch innerhalb der Tierreihe sich stufenweise historisch entwickelt hat. So sicher wir aber auch eine solche natürliche Stammesgeschichte des Bewusstseins im Prinzip behaupten müssen, so wenig sind wir doch leider im Stande, tiefer in dieselbe einzudringen und spezielle Hypothesen darüber aufzustellen. Indessen liefert uns die Paläontologie doch einige interessante Anhaltspunkte, die nicht ohne Bedeutung sind. Auffallend ist z. B. die bedeutende, quantitative und qualitative Entwicklung des Gehirns der plazentalen Säugetiere innerhalb der Tertiär-Zeit. An vielen fossilen Schädeln derselben, ist die innere Schädelhöhle genau bekannt und liefert uns sichere Aufschlüsse über die Größe und teilweise auch über den Bau des davon umschlossenen Gehirns. Da zeigt sich denn innerhalb einer und derselben Legion (z. B. der Huftiere, der Raubtiere, der Herrentiere) ein gewaltiger Fortschritt von den älteren eozänen und oligozänen zu den jüngeren miozänen und pliozänen Vertretern desselben Stammes; bei den letzteren ist das Gehirn (im Verhältnis zur Körpergröße) 6-8 mal so groß als bei den ersteren.

Auch jene höchste Entwicklungsstufe des Bewusstseins, welche nur der Kulturmensch erreicht, hat sich erst allmählich und stufenweise - eben durch den Fortschritt der Kultur selbst - aus niederen Zuständen entwickelt, wie wir sie noch heute bei primitiven Naturvölkern antreffen. Das zeigt uns schon der Vergleich ihrer Sprachen, welche mit derjenigen der Begriffe eng verknüpft ist. Je höher sich beim denkenden Kultur-Menschen die Begriffs-Bildung entwickelt, je mehr er fähig wird, aus zahlreichen verschiedenen Einzelheiten die gemeinsamen Merkmale zusammenzufassen und unter allgemeine Begriffe zu bringen, desto klarer und tiefer wird damit sein Bewusstsein.