Homers Iliade•Schliemann•Troja•Autodidakt•Archäologe
Visionär•Schlitzohr•Calvert•Virchow•Ausgrabung Trojas
zu Homer
Ilias und Odyssee
Homers Epen "Ilias" und "Odyssee" werden zurecht als gewaltige literarische und dichterische Höchstleistungen gefeiert. Ganz dem Zeitgeist entsprechend hat Homer den Menschen einen kaum fassbar facettenreichen Spiegel geschenkt, der uns späten Nachfahren das Entsetzen über die Gewalttätigkeit und Hinterlist unserer Gattung vor Augen führt und in den gleichen Augen auch die Tränen der Rührung quellen lässt. Und die Tränen der Scham! Denn trotz unserer sehr späten Nachfahrenschaft müssen wir bekennen, im Grunde nichts dazugelernt zu haben: Noch immer lassen wir auf Geheiß der Obrigkeit die Nachfolger olympischer Götter scheinheilig getarnt über uns herrschen und beugen uns unter das Joch immer neuer Herrschaften, glauben ihren falschen Verheißungen und nehmen die noch übleren Enttäuschungen hin wie Schicksale. Denn immer noch müssen religiöse Fantasie-Gestalten herhalten, um Herrschaft zu recht-fertigen und Menschenwerk in diesem Sinne gut zu heißen oder zu verdammen. Odysseus' erschütterndes Beispiel eines Kriegsflüchtlings mag ja im späteren antiken Griechenland zu den ersten zaghaften Versuchen einer Demokratie geführt haben. Doch dem stellt sich bis heute eine Herrschergewalt nach der anderen entgegen und quer in den Weg einer Höherentwicklung der Menschheit. Denn Herrscher beanspruchen die Akkumulation der Macht, des Reichtums, der Befehlsgewalt, der Gewaltausübung und eines für sie maßgeschneiderten Rechts. Möglich ist diese Einseitigkeit nur, wenn die Menschen durch institutionelle Religionen infantil gehalten werden, die Kindheit nicht als Entwicklungsphase, sondern als gottgewollter Dauerzustand gepredigt oder verordnet wird. Die anthropomorphe Darstellung aller Götter erlaubt bis heute jede Wohl- oder Untat, jedes Unrecht, jede Rechtschaffenheit - immer hinter einem Gotteswillen verborgen.
Dies vor Augen den Spuren unserer Vorfahren zu folgen, ist reizvoll schon wegen der Hexameter-Verse und dichterischen Einfälle und - zwischen den Zeilen - informativer als heutige Tageszeitungen oder Staats-Nachrichten, die nur noch im Ausmaß der Verlogenheit episch sind: "Die Deutschen werden immer reicher (Tagesschau)" an bösen Erfahrungen (Bürger)!
So war die rührend aufrührerische Geschichte um Helena eher der willkommene Anlass, keineswegs aber der ehrliche Grund für den Trojanischen Krieg. Der lag damals wie heute bei der Gier nach Macht, Geld und Herrschaft. Trojas Herrscher hatten durch die Ausbeutung geographischer, meteorologischer und maritimer Begünstigungen im Bereich der Dardanellen Geld und Macht so sehr angehäuft, dass "die olympischen Götter den Neidern einen Kriegszug anraten mussten".
zu Heinrich Schliemann
"Ilios: Stadt und Land der Trojaner"
Ein Buch, wie das vorliegende, das auf eine so lange Nachrede rechnen darf, hat eigentlich eine Vorrede nicht nötig. Da indes mein Freund Schliemann darauf besteht, dass ich dasselbe bei dem Publikum einführen soll, so gehe ich über alle Bedenken hinweg, welche mir, wenigstens meinem Gefühle nach, eine einfache Nebenstellung anweisen. Ein besonderer Glücksfall hat es mir gestattet, einer der wenigen Augenzeugen der letzten Ausgrabungen auf Hissarlik zu sein und die "gebrannte" Stadt in ihrer ganzen Ausdehnung aus dem Schutt der Vorzeit hervortreten zu sehen. Von Woche zu Woche habe ich die Troas selbst aus dem Winterschlafe erwachen und die Herrlichkeiten ihrer Natur in immer neuen, immer mächtigen Bildern sich entfalten gesehen. Ich kann daher Zeugnis ablegen sowohl für die Arbeiten des unermüdlichen Forschers, der nicht eher Ruhe fand, als bis das Werk vollendet vor ihm lag, sondern auch für die Wahrheit der Grundlagen, auf welchen die dichterische Anschauung ruht, die seit Jahrtausenden das Entzücken der gebildeten Welt hervorgerufen hat. Und ich erkenne die Pflicht, mein Zeugnis abzulegen, gegenüber der Schar von Zweiflern, die im guten und im bösen Sinne nicht müde geworden sind, an der Zuverlässigkeit sowohl der Funde als ihrer Deutung zu mäkeln.
Es ist heute eine müßige Frage, ob Schliemann im Beginn seiner Untersuchungen von richtigen oder von unrichtigen Voraussetzungen ausging. Nicht nur der Erfolg hat für ihn entschieden, sondern auch die Methode seiner Untersuchung hat sich bewährt. Es mag sein, dass seine Voraussetzungen zu kühn, ja willkürlich waren, dass das bezaubernde Gemälde der unsterblichen Dichtung seine Phantasie zu sehr bestrickte, aber dieser Fehler des Gemüts, wenn man ihn so nennen darf, enthielt doch auch das Geheimnis seines Erfolges. Wer würde so große, durch lange Jahre fortgesetzte Arbeiten unternommen, so gewaltige Mittel aus eigenem Besitz aufgewendet, durch eine fast endlos scheinende Reihe aufeinandergehäufter Trümmersehichten bis auf den in weiter Tiefe gelegenen Urboden durchgegraben haben, als ein Mann, der von einer sicheren, ja schwärmerischen Überzeugung durchdrungen war? Noch heute würde die gebrannte Stadt in der Verborgenheit der Erde ruhen, wenn nicht die Phantasie den Spaten geleitet hätte.
Aber ganz von selbst ist an die Stelle der Phantasie die nüchterne Forschung getreten. Mit jedem Jahr sind die Tatsachen mehr zur Geltung gelangt. Das Streben nach Wahrheit, nach ganzer und voller Wahrheit hat zuletzt die Voraussetzungen der Dichtung so sehr in den Hintergrund gedrängt, dass ich, der Naturforscher mit der Gewohnheit der kältesten Objektivität, mich gedrängt fühlte, meinen Freund daran zu erinnern, dass der Dichter doch nicht bloß Dichter war, dass auch seine Bilder einen objektiven Grund haben mussten und dass nichts uns hindern dürfe, die Wirklichkeit, wie sie sich uns darstellte, in Verbindung zu setzen mit den alten Sagen, welche an bestimmte Erinnerungen des Orts und der Ereignisse der Vorzeit anknüpften. Ich freue mich, dass das Buch, wie es nun vorliegt, beiden Forderungen Genüge leistet: während es eine wahrheitsgetreue Schilderung der Funde und der Verhältnisse des Landes und des Ortes bringt, knüpft es doch überall die Fäden, welche der Phantasie gestatten, die handelnden Personen in bestimmte Beziehungen zu wirklichen Dingen zu setzen.
Die Ausgrabungen von Hissarlik würden einen unvergänglichen Wert haben, auch wenn die Ilias niemals gedichtet worden wäre. Nirgends in der Welt ist eine gleiche Zahl übereinandergelagerter Reste alter Ansiedelungen mit so reichen Einschlüssen aufgedeckt worden. Wenn man im Grunde des großen Trichters steht, welcher das Herz des Burgberges erschlossen hat, wenn das Auge an den hohen Wänden der Ausgrabung hingleitet, hier die Trümmer der Wohnungen, dort die Geräte der alten Bewohner, an anderer Stelle die Abfälle ihrer Nahrung erschauend, so schwindet bald jeder Zweifel an dem Alter dieser Stätte. Eine bloß träumerische Betrachtung ist hier ausgeschlossen. Die Gegenstände bieten so auffällige Besonderheiten, je nach Lage und Schichtung, dass die Vergleichung ihrer Eigenschaften, sei es unter sich, sei es mit andern entfernten Funden, sich mit Notwendigkeit aufzwängt. Man kann nicht anders, als objektiv sein, und mit Vergnügen bezeuge ich, dass die Aufzeichnungen Schliemann's jeder Forderung der Treue und Zuverlässigkeit entsprechen. Wer je selbst eine Ausgrabung geleitet hat, weiß, dass kleinere Irrtümer schwer auszuschließen sind, und dass der Fortgang einer Untersuchung jedesmal gewisse Ergebnisse der frühem Stadien der Vorsehung korrigiert. Aber auf Hissarlik war die Korrektur einfach genug, um die Zuverlässigkeit des Gesammtergehnisses zu sichern, und was jetzt der Welt geboten wird, darf in Bezug auf tatsächliche Beglaubigung den besten Untersuchungen der Archäologie an die Seite gestellt werden. Überdies könnte ein Irrtum in der Feststellung der Lagerung sich immer nur auf Einzelheiten beziehen; das Massenresultat kann dadurch überhaupt nicht beeinflusst werden.
Die einfache Untersuchung des Burgberges von Hissarlik weist mit vollständiger Genauigkeit die Aufeinanderfolge der Ansiedelungen nach. Schliemann nimmt deren gegenwärtig sieben an. Aber Reihenfolge ist noch nicht Chronologie. Man erfährt durch die erstere, was älter und was jünger ist, aber nicht, wie alt jede einzelne Schicht ist. Dazu gehört die Vergleichung mit zeitlich gut bestimmten ähnlichen Stellen oder mindestens Gegenständen, mit andern Worten, die Deutung. Mit der Deutung aber beginnt auch die Unsicherheit. Selten ist der Altertumsforscher in der Lage, seine Deutung durch die Identität aller Funde stützen zu können. Namentlich je weiter die Vergleichungen hergeholt werden müssen, um so weniger ist darauf zu rechnen, dass sämntliehe Fundstücke übereinstimmen werden. Die Aufmerksamkeit richtet sieh dann auf einzelne Objekte, wie sie der Paläontologe in seinen Leitmuscheln sucht. Die Erfahrung hat aber gelehrt, wie unsicher die archäologischen "Leitmuscheln" sind. Der menschliche Geist erfindet an verschiedenen Orten dasselbe und an demselben Orte Verschiedenes. Zu derselben Zeit entwickeln sich gewisse artistische oder technische Formen ohne allen Zusammenhang der Künstler oder Handwerker. Ich erinnere an den Mäander, der in Deutschland ganz spät, wahrscheinlich erst in der Zeit der römischen Kaiser, erscheint, aber der noch viel später in Peru und am Amazonenstrome auftritt, ohne dass es bis jetzt zulässig erschiene, ihn auch hier als importiert anzusehen. Lokale Moden und Kunstformen sind so wenig ungewöhnlich, dass der Kenner zuweilen aus einem Stück erkennt, wohin der Fund gehört.
Auf Hissarlik finden sich die ihrer Totalität nach zu bestimmenden Schichten sehr nahe an der Oberfläche. Unter der griechischen Stadt (Xovuin Ilium) und der wahrscheinlich macedonischen Mauer stößt man auf Fundstücko, vornehmlich auf Tongerät, welches nach Form, Material und Bemalung der sogenannten archaischen Zeit hellenischer Kunst angehört. Dann beginnt die Prähistorie im engem Sinne des Wortes. Dr. Schliemann hat mit guten Gründen zu zeigen gesucht, dass die sechste Stadt, von unten auf gerechnet, der Überlieferung nach den Lydiern zuzuschreiben sei, und dass ihre Kunstformen Annäherungen an etrurische oder umbrische Tongefäße erkennen lassen. Aber je tiefer wir kommen, um so weniger Anklänge finden sich. In der gebrannten Stadt kommt gelegentlich ein oder das andere Stück vor, das an Mykenae, an Cypern, an Aegypten, an Assyrien erinnert, oder vielleicht noch mehr, das auf gleiche Herkunft oder wenigstens auf gleiche Muster hinweist. Vielleicht wird es gelingen, diese Anknüpfungen zu vermehren, aber bis jetzt weiß man noch so wenig von allen diesen Beziehungen, dass eine Übertragung fremder Zeitrechnung in hohem Maße gefährlich erscheint.
Ein warnendes Beispiel für diese Art von casuistischer Archäologie bietet das neueste Vorgehen eines Petersburger Gelehrten gegen Herrn Schliemann. Weil Hissarlik gewisse Anklänge an Mykenae, dieses aber an Südrussland darbietet, so schließt dieser Gelehrte, dass die südrussische Chronologie auch für Hissarlik maßgebend sein müsse, und dass sowohl Mykenae als Hissarlik auf schwärmende Heruler des 3. Jahrhunderts n. Chr. zurückzuführen seien. Gerade umgekehrt waren andere Gelehrte geneigt, die ältesten "Städte" von Hissarlik der neolithischen Zeit zuzurechnen, weil sich ausgezeichnete Waffen und Geräte aus poliertem Stein darin fanden. Beides sind gleich unberechtigte und unzulässige Auffassungen. Dem 3. Jahrhundert n. Chr. gehört die Oberfläche des Burgberges von Hissarlik, noch über der macedonischen Mauer, an, und die ältesten "Städte", obwohl darin nicht bloß polierter Stein, sondern auch geschlagene Chalcedone und Obsidiane vorkommen, fallen doch schon in die Metallzeit. Denn schon in der ersten Stadt wurden Geräte aus Kupfer, Gold, ja selbst Silber gehoben.
Es ist zweifellos, dass auf dem Burgberg von Hissarlik, soweit er bis jetzt aufgedeckt ist, kein eigentliches Steinvolk gewohnt hat, Von einer allmählichen Entwicklung eines solchen Volkes zu höherer, metallischer Kultur kann hier ebenso wenig die Rede sein, wie von irgendeinem andern bis jetzt bekannten Punkt Kleinasiens. Poliertes Steingerät findet sich auch anderswo, zB in der Gegend des alten Sardes, häufig genug, aber noch ist nicht dargetan, dass es der "Steinzeit" angehört. Wahrscheinlich wanderte dieses Volk ein in einer Periode seiner eigenen Entwicklung, wo es schon in die Metallzeit eingetreten war. Legt man, was sehr nahe liegt, das häufige Vorkommen von Nephrit und Jadeit der Betrachtung zu Grunde, so könnte man annehmen, dass die Einwanderung von den Grenzen Chinas her erfolgte und dass, als das Volk am Hellespont anlangte, schon eine Fülle technischer Fertigkeiten und vollendeter Manufakte in seinen Besitz übergegangen war.
Es mag ein Zufall sein, dass schon in der ältesten Stadt zwei Steinhämmer mit gebohrtem Loch gefunden sind, während sonst meines Wissens aus ganz Kleinasien kein ähnliches Stück vorhanden ist. Jedenfalls war die Technik der Steinbearbeitung schon sehr vorgeschritten und die Sage von der Gründung Ilions deckt sich vollständig mit den Funden. Auch die wenigen Schädel, welche aus den untern "Städten" gerettet wurden, haben das Gemeinsame, dass sie ohne Ausnahme den Habitus eines mehr gesitteten Volksstammes darbieten; alle im strengen Sinne "wilden" Eigentümlichkeiten fehlen ihnen gänzlich.
Sonderbar genug ist es, dass diesem Stamm, allem Anschein nach, das Eisen gefehlt hat, obwohl gelegentlich Roteisensteine vorkommen, die offenbar gebraucht worden sind, so hat sich doch alles, was ursprünglich als eisernes Gerät angesehen wurde, bei genauerer Untersuchung als nicht eisern erwiesen.
Nicht minder sonderbar ist es, dass selbst in der gebrannten Stadt nirgends ein eigentliches Schwert gefunden ist. Waffen von Kupfer und Bronze kommen nicht ganz selten vor: Lanzenspitzen, Dolche, Pfeilspitzen, Messer, wenn man sie noch als Waffen bezeichnen will, aber keine Schwerter. Diesem Mangel entspricht ein anderer in Bezug auf den Schmuck, der uns Abendländern fast noch auffälliger ist, ich meine das Fehlen jeder Fibula (Heftel, Schließe, Haken + Öse). Unter den Kupfer- und Bronzenadeln sind viele, welche nach Größe und Biegung als Gewandnadeln angesehen werden dürfen, aber keine einzige Fibula im abendländischen Sinne ist vorhanden. Ich war immer der Ansicht, dass der Reichtum an Fibeln in den nordischen Funden sich durch das stärkere Bedürfnis, in kältern Klimaten die Gewänder dichter zu schließen, erklärt. Die römische Provinzialfibula, welche in den nördlichen Ländern fast das häufigste Fundstück der Kaiserzeit ist, tritt selbst in Italien ganz in den Hintergrund. Dass aber bei einem so metallreichen Stamm, wie dem alttrojanischen, gar keine Fibula vorbanden war, ist sicherlich ein Zeichen sehr hohen Alters und ein sicheres Unterscheidungsmerkmal von der Mehrzahl der abendländischen Funde, welche man in Vergleich gezogen hat. Beiläufig gesagt, gilt dasselbe von dem Fehlen der Lampen in den alten "Städten".
xxxxxViel mehr Anklänge an abendländische Verhältnisse bietet das Topfgerät. Freilich wüsste ich keinen Platz, wo die Gesamtheit der Tonfunde mit einer der altern "Städte" auf Hissarlik übereinstimmte. Erst in der sechsten Stadt finden sich vielfach, wie Dr. Schliemann sehr überzeugend nachgewiesen hat, Verwandtschaften mit etrurischen Gefäßen und ich möchte noch weiter darauf hinweisen, dass nicht wenige der Formen, welche in Hissarlik in Ton vorkommen, in Etrurien in Bronze ausgeführt sind. Ich erinnere in dieser Beziehung an die etrurisehen Schnabelkannen, die als "Leitmuscheln" bis tief in Deutschland und Belgien ausgegraben worden sind. In der Mehrzahl der prähistorischen Städte von Hissarlik gibt es Tonsachen, wie man sie vielfach in Ungarn und Siebenbürgen, in Ost- und Mitteldeutschland, ja selbst in den Pfahlbauten der Schweiz antrifft. Ich besitze durch die Güte des Herrn Dr. V. Gross Stücke von schwarzen geglätteten Tonschalen aus dem Bieler See, deren innere Flächen mit geometrischen Einritzungen, gefüllt mit weißer Erde, bedeckt sind, wie ich sie aus der ältesten Stadt von Hissarlik mitgebracht habe. Erst neulich wohnte ich der Ausgrabung eines großen Hügelgrabes bei, welche Professor Klopfleisch im Anhaltischen leitete: die Mehrzahl der darin entdeckten Tongefäße hatte breite, flügelförmige Anhänge mit senkrechter Durchbohrung und ganz großen, namentlich sehr breiten Henkeln, die ganz tief unten, in der Nähe des Bodens, angesetzt waren, ähnlich wie sie in der gebrannten Stadt angetroffen wurden. Auf die Ähnlichkeit der kleinen Tierfiguren, der ornamentierten Stempel und anderer Tongeräte in Ungarn habe ich schon früher hingewiesen. Die sonderbaren, mit Fenstern versehenen Räuchergefäße (Laternen) von Hissarlik finden zahlreiche Analogien in lausitzer und posener Gräberfeldern.
Ich will nicht behaupten, dass dies Beweise eines direkten Zusammenhanges seien. Das wird sich erst übersehen lassen, wenn die Länder der Balkanhalbinsel archäologisch genauer untersucht sein werden, was dringend wünschenswert ist. Allein, wenn sich auch ein wirklicher Zusammenhang zeigen sollte, so wird es immer noch fraglich sein, oh die Wege der Kultur von Kleinasien nach Osteuropa oder umgekehrt gegangen sind, und da das Erstere vorläufig das Wahrscheinlichere ist, so würde für die Chronologie von Hissarlik damit wenig gewonnen.
Es ließe sich Vieles hier anknüpfen, wie das Hakenkreuz (Swastika), das Triquetrum (Dreistab, parallaktisches Lineal), die Kreis- und Spiralornamente, das Wellenornament, aber ich übergehe es, da dies sehr weit verbreitete Zeichen sind, welche erfahrungsgemäß für Zeitbestimmung wenig Anhalt bieten. Dagegen kann ich es mir nicht versagen, einen Punkt zu berühren, in dem ich mit Schliemann nicht völlig übereinstimme. Es betrifft dies unsere Gesichtsurnen, wie sie in Pomerellen und Ostpommern bis nach Posen und Schlesien in einem auffallend abgegrenzten Gebiet zahlreich vorkommen. Ich kann nicht umhin zu sagen, dass große Ähnlichkeit zwischen ihnen und den trojanischen "Eulenurnen" besteht, wenn ich auch zugestehe, dass das "Eulengesicht" an ihnen nicht vorkommt. Aber auch in dieser Beziehung möchte ich den Ausdruck meines Freundes etwas mildern. Soviel ich sehe, gibt es keine einzige trojanische Gesichtsurne, welche einen wirklichen Eulenkopf besäße oder bei welcher der betreffende Teil des Gefäßes ganz vogelartig gestaltet wäre. Naturwissenschaftlich gesprochen, ist der Typus der Bildung an diesem Oberteil menschlich und nur innerhalb der menschlichen Umrisse und Verhältnisse sind die Nase und die Augengegend eulenartig. Das Ohr dagegen ist stets nach menschlicher, nie nach Eulenart angesetzt. Ich stelle nicht in Abrede, dass die Gesichtsbildung vielfach den Eulentypus wiedergibt, und ich habe gegen die Beziehung auf die γλαυκῶπις (blauäugig) nichts einzuwenden, aber ich möchte das Bild nicht viel über die Augen- und obere Nasengegend ausdehnen; sowohl Ohren und Mund, wo ein solcher vorkommt, als die Brüste sind ausschließlich menschlich. Und so, nur noch mehr menschlich ausgebildet, sind auch die pomerellischen Gesichtsurnen. Deshalb gebe ich auch die Hoffnung nicht auf, dass sich noch ein gewisser Zusammenhang finden lassen werde, aber ich bin darauf vorbereitet, dass, wenn er sich findet, unsere Gesichtsurnen einer sehr viel jüngern Zeit zugeschrieben werden müssen als die trojanischen.
Mein Schluss ist der, dass die Funde von Hissarlik nicht durch nordische oder abendländische Funde werden erklärt werden, sondern umgekehrt, dass wir unsere Sammlungen auf östliche Muster prüfen müssen. Auch für Hissarlik liegen die vermutlichen Bezugsquellen östlich und südlich; ihr Nachweis erfordert aber erst neue und ungleich eingehendere Studien auf den bis jetzt so wenig ausgebeuteten Plätzen der morgenländischen Welt. Nicht die Ilias hat die Phönizier und Aethiopier in den trojanischen Sagenkreis eingeführt; die Funde von Hissarlik selbst, indem sie das Elfenbein, den Schmelz, die Hippopotamusfiguren, die feinen Goldarbeiten uns vor Augen stellen, weisen mit Bestimmtheit auf Aegypten und Assyrien hin. Dort wird auch die Chronologie von Hissarlik ihren Abschluss suchen müssen.
Vorläufig jedoch steht der große Trümmerberg auch objektiv betrachtet als ein ebenso singuläres Phänomen da, wie dichterisch betrachtet, die "heilige Ilios". Er hat nicht seines gleichen. Nicht einmal ein Maßstab der Beurteilnng für ihn ist in irgendeiner andern Trümmerstätte gegeben. Darum fügt er sich nicht in das Prokrustes-Bett der Schematiker. Hinc illae irae. Mit dieser Ausgrabung ist für die Arbeiten der Archäologen ein ganz neuer Schauplatz eröffnet, gleichsam eine Welt für sich. Hier beginnt ein ganz neues Wissen.
Und in diesem singulären Berg nimmt wiederum eine Schicht, und zwar eine der tiefsten, nach der jetzigen Zählung Schliemanns die drittunterste, die Aufmerksamkeit hauptsächlich gefangen. Da war ein großer Zerstörungsbrand, in dem die Lehmwände der Gebäude zusammenschmolzen und flüssig wurden wie Wachs, sodass noch jetzt erstarrte Glastropfen Zeugnis ablegen von der gewaltigen Glut. Nur an wenigen Stellen sind Kohlen übriggeblieben, deren Form und Struktur uns noch erkennen lässt, was verbrannt ist, ob Holz oder Stroh, Weizen oder Erbsen. Ein ganz kleiner Teil dieser Stadt ist überhaupt von dem Brande verschont worden, und nur hier und da hat sich in den abgebrannten Teilen unter dem Schutt der zusammenbrechenden Mauern die häusliche Ausstattung einigermaßen unversehrt erhalten. Fast alles ist zu Asche verbrannt. Welch ungeheures Feuer muss es gewesen sein, das diese Herrlichkeit gefressen hat! Man meint das Knistern des Holzwerkes, das Krachen der stürzenden Gebäude zu hören! Und welch ein Reichtum ist trotzdem aus der Asche zu Tage gekommen! Ein Goldschatz nach dem andern bot sich dem erstaunten Auge dar. In jener fernen Zeit, wo der Mensch noch so wenig vorgeschritten war in der Kenntnis der Erde und seiner eigenen Kraft, in jener Zeit, wo, wie der Dichter es schildert, die Söhne des Königs Hirten waren, da muss ein solcher Besitz von Edelmetall und noch dazu in der feinsten und kostbarsten Bearbeitung weit und breit bekannt geworden sein. Der Glanz dieses Stammeshäuptlings muss den Neid und die Habgier wachgerufen haben, und der Sturz seiner hohen Burg kann nichts anderes bedeuten als seinen eigenen Fall und den Sturz seines Geschlechtes.
War das Priamos? war das die heilige Ilios? Niemand wird jemals ergründen, ob das die Namen waren, welche die Menschen gebrauchten, als der berühmte König von seiner hehren Veste noch über die troische Ebene zum Hellespont hin schaute. Vielleicht sind diese Namen nur Erfindungen des Dichters. Wer will es wissen? Vielleicht hatte die Sage nichts überliefert, als die Erzählung des Kriegs- und Siegeszuges, den das Abendland unternommen hatte, um das Reich und die Stadt zu brechen. Aber wer will es bezweifeln, dass hier wirklich ein grausamer Sieg erfochten ward gegen eine Besatzung, die mit Waffen von Stein und Bronze nicht bloß sich, die Ihrigen und ihre Häuser verteidigte, sondern auch großen Besitz an Gold und Silber, an Schmuck und Hausrat zu schützen hatte? Es hat an sich wenig Bedeutung, über die Namen dieser Männer oder ihrer Stadt zu streiten. Und doch tritt jedem noch heute wie zur Zeit Homer's die Frage zuerst auf die Lippen: wer und woher unter den Menschen waren sie? Mag der strenge Forscher ihnen den Namen verweigern, mag vor dem Richterstuhl der Wissenschaft das ganze Geschlecht unnennbar vorüberschweben wie die Schemen des Hades, — für uns, die wir die Farben des Tages, den Schmuck des Lebens, den Schimmer der Persönlichkeit lieben, für uns werden Priamos und Ilion die Bezeichnungen bleiben, an welche unsere Gedanken anknüpfen, so oft sie sich mit den Begebenheiten jener Zeit beschäftigen. Hier war es, wo Asien und Europa zum ersten Mal in völkerfressendem Kampf zusammenstießen; hier ward der einzige entscheidende Sieg erfochten, den während der ganzen Zeit bis zu Alexander das Abendland über das Morgenland auf dem Boden Asiens davontrug.
Und jetzt, unter unsern Augen ward diese Stätte wieder erschlossen. Als jene Männer schrieben, welche wir die Klassiker nennen, lag die Brandstätte unter den Trümmern nachfolgender Ansiedlungen verborgen. Auf die Frage: wo war Ilion? hatte niemand eine Antwort. Selbst die Sage hatte keine Stätte mehr. Anders muss es freilich gewesen sein, als die Dichtung entstand. Mag man den Dichter Homer nennen oder mag man auch an seine Stelle eine Schar von namenlosen Dichtern setzen — als die Dichtung entstand, da musste sich noch die Überlieferung erhalten haben, dass gerade auf diesem Bergvorsprung die Königsburg gelegen habe. Vergeblich bestreitet man dem Dichter die eigene Anschauung. Wer immer auch der "göttliche Sänger" war, er muss auf diesem Berge Hissarlik, d. h. dem Schloss- oder Burgberg, gestanden und über Land und Meer hinausgeschaut haben. Sonst hätte er unmöglich so viel Naturwahrheit in seinem Gedicht vereinigen können. Ich habe in einer kleinen Schrift (vgl. Anhang I) die troisehe Landschaft geschildert, wie sie ist, und sie verglichen mit dem, was die Ilias von ihr erzählt, und ich glaube jeden zum Zeugen aufrufen zu können, ob es möglich ist, dass ein fernlebender Dichter aus eigener Phantasie ein so getreues Bild von Land und Leuten entwerfen könne, wie es in der Ilias geschehen ist.
Es kommt ein anderes hinzu. Die llias ist nicht bloß ein Epos, welches menschliche Dinge besingt; in den Kampf der Menschen tritt der ganze Kreis der olympischen Götter handelnd und leidend mit ein. So ist es gekommen, dass die llias das eigentliche Religionsbuch, die Bibel der Griechen und zum Teil der Römer geworden ist. Das darf nicht übersehen werden. Darum habe ich vor allem darauf aufmerksam gemacht, dass der Schauplatz für die Götter viel größer genommen ist als für die Menschen. Weit über die troische Ebene hinaus zieht sich der Rahmen dieser Gesänge. Ihre Grenze ist da, wo das Auge seine Grenze findet, an den hoben Gebirgsstöcken des Ida und der samothrakischen Insel, wo die Wolken entstehen und die Wetter ihre Heimat haben. Wer sollte auf eine solche Göttergeschichte verfallen mit dieser Feinheit der Lokalisierung, der die gewaltigen Naturereignisse, welche sich hier vollziehen, nicht selbst geschaut hat, der sie nicht tage- und wochenlang in ihrem Wechsel verfolgt hat?
Die Frage von der llias ist nicht einfach die alte Frage: Ubi Ilium fuit? Nein, sie bezieht sich auf das Ganze. Man darf die Göttergeschichte von der Menschengeschichte nicht trennen. Der Dichter, der Ilion besang, malte auch das Bild der ganzen troischen Landschaft. Ida und Samothrake, Tenedos und der Hellespont, Kallikolone und der Wall des Herakles, der Skamander und die Gedächtnishügel der Helden — das alles erschien vor den Blicken des entzückten Hörers. Das alles ist untrennbar. Und darum ist es nicht willkürlich, wo wir Ilion hinstellen. Darum brauchen wir einen Platz, der allen Voraussetzungen der Dichtung entspricht. Darum müssen wir sagen: hier, auf dem Burgberg von Hissarlik, hier, auf der Trümmerstätte der verbrannten Goldstadt, hier war Ilion.
Und darum dreimal glücklich der Mann, dem es beschieden war, als gereifter Mann den Traum seiner Kindheit zu verwirklichen und die verbrannte Stadt zu entschleiern! Möge die Anerkennung der Zeitgenossen wie immer ausfallen, niemand wird ihm das Bewusstsein rauben können, dass er das große Problem von Jahrtausenden gelöst hat. Ein barbarisches Regiment, welches schwer auf dem Lande lastete, hat den Zustand der Oberfläche und die Lebensgewohnheiten der Menschen in der Troas im großen und ganzen daniedergehalten, wie sie eben waren, als es sich festsetzte. So ist vieles bewahrt worden, was anderswo vielleicht längst durch die Alltagskultur zerstört worden wäre. Die Gräben Schliemann's konnten eingeschnitten werden in ein gleichsam jungfräuliches Erdreich. Er hatte den Mut, tiefer und immer tiefer zu graben, ganze Berge von Schutt und Trümmern zu beseitigen, und endlich sah er ihn vor sich, den gesuchten, den geträumten Schatz, in voller Wirklichkeit. Jetzt ist aus dem Schatzgräber ein gelehrter Mann geworden, der seine Erfahrungen in langem und ernstem Studium mit den Aufzeichnungen der Historiker und Geographen, mit den sagenhaften Überlieferungen der Dichter und Mythologen verglichen hat. Möge das Werk, das er vollendet hat, wie es ihm zu dauerndem Ruhme gereichen wird, so auch vielen Tausenden eine Quelle des Genusses und der Belehrung werden!
Berlin, im September 1880.
Rudolf Virchow.
ANHANG I. in H. Schliemann, "Ilios – Stadt und Land der Trojaner"
Von
Rudolf Virchow
Es war im Anfang des vorigen Jahres, als mich Dr. Schliemann aufforderte, ihm bei seinen Forschungen auf Hissarlik und in der troischen Ebene Hilfe zu leisten. Trotz mancher Bedenken entsehloss ich mich zu deretwas weiten Reise. Wie hätte ich widerstehen können!
Eine trojanische Reise — wie viele berauscht schon der Gedanke daran! Männer aus allen Berufskreisen haben sich mir als Reisegefährten angetragen,als es bekannt wurde, dass ich das gepriesene Land besuchen wolle. Und doch handelte es sich nicht um eine Reise, wie etwa nach der Schweiz, die man um des Landes wegen macht und bei der man gelegentlich auch wohl das Rütli und Küssnacht, Sempach und Laupen, Murten und Sanct Jakob an der Birs sieht. Die trojanische Reise macht man um der llias willen. Die Gestalten, welche der Dichter hervorgezaubert hat, erfüllen schon im voraus die Phantasie des Reisenden. Er will die Stätten sehen, wo der lange Kampf um Helena ausgefochten wurde, die Gräber, wo die Heroen bestattet sind, welche in dem Kampf das Leben einbüßten. Achilles und Hektor stehen im Vordergründ des lebensvollen Bildes, welches noch jetzt, wie vor Jahrtausenden, dem Geiste jedes gebildeten Jünglings sich einprägt. Freilich, wie viel mehr bestimmend mochte dieses Bild im Altertum wirken! Selbst Xerxes, als er in der höchsten Fülle seiner Macht gegen Griechenland zog, konnte dem Zug dieser Erinnerungen nicht widerstehen: während sein Heer von Adramyttion nach Abydos zog, suchte er die Trümmer von llion auf und opferte daselbst der Athene tausend Stiere. Und Alexander hinwiederum, als sein Heer in siegreichem Vordringen gegen Asien den Hellespont übersehritt, wendete alsbald seine Schritte zum Grabhügel Achill's, um von da Stärke und Siegeszuversicht zu holen. So große Besucher sind freilich später nimmer wieder gekommen, aber etwas von den Gedanken des Xerxes und des Alexander regt sich doch in jedem, der den troischen Boden betritt. Man kann den poetischen Hauch eben nicht wegwischen, welcher über die ganze Landschaft gelegt ist.
Aber man darf sich auch nicht vorstellen, es sei nur dieser poetische Hauch, welcher das Interesse der Reisenden erregt. Ehe noch die llias mit ihrem großen und vollen Sagenkreise entstand, gab es schon eine Reihe volkstümlicher Reisegeschichten, welche die Troas berühren. Der Name des Hellespont knüpft an eine der ältesten Überlieferungen der griechischen Sage an: Helle und ihr Bruder zogen von Böotien aus über das Meer gen Nordosten, und als sie an die troische Küste kamen, da stürzte Helle in das Meer (Pontus) und nur ihr Bruder Phryxos erreichte das ferne Kolchis, wo das Goldene Vlies von ihm aufgehängt ward. Dann kamen die Argonauten, um dieses Vlies zu holen, und der große Herakles, dessen Taten an der troischen Küste schon an das Königsgeschlecht des Priamos anschließen. Noch jetzt zeigt man am Nordende der Besika Bucht ein steil aufgerichtetes, fast nacktes Vorgebirge von muschelreichem Tertiärgestein, an welchem die Königstochter Hesionc dem Meerungeheuer ausgesetzt gewesen sein soll, bis der reisige Heros das Ungeheuer tütete. Noch besteht, wenngleich halb zugestürzt, ein tiefer Abzugsgraben quer durch das Sigeion, südlich vom Hagios Demetrios Tepeh, welchen Herakles gezogen haben soll, um die troische Ebene zu entwässern.
Von den Heroen ist es nur ein kleiner Schritt zu den olympischen Göttern selbst. Die Mauern der alten Stadt hatte, der Sage nach, in vorübergehender Knechtschaft Poseidon errichtet. Ganymed war ein Mitglied der troischen Königsfamilie. Anchyses hatte mit der Göttin der Schönheit selbst den Aineias gezeugt; durch den Sohn war die göttliche Abstammung dem Julier-Geschlecht in Rom zugekommen. So erstanden die ersten Kaiser von Gottes Gnaden: die Julier erinnerten sich dieser Abstammung wohl und sie überhäuften noch die spätere Stadt Novum Ilium mit Ehren und Freiheiten. Und endlich, um das Wichtigste nicht zu vergessen, es war des Priamos Sohn Paris, der den Streit der drei Göttinnen um den Preis der Schönheit entschied: der Paris-Apfel brachte dem Richter als Lohn die schöne Helena, aber nachher ihm, seinem Geschlecht und seinem Staat den Untergang. So knüpft die Ilias in ihrem eigentlichen Kernpunkt an die Göttergeschichte an.
Es kann doch nicht reiner Zufall oder bloße Willkür sein, dass ein so reicher Kreis von Götter-, Heroen- und Menschensagen gerade diesem Land eigen ist – ein Kreis, größer und reicher ausgestattet, als ihn jemals irgendein anderer Ort um sich vereinigt hat. Es muss doch in dem Lande selbst, in seinen natürlichen Verhältnissen, ein ganz besonderes Motiv liegen, dass gerade hier die Sagenbildung so tätig und so schöpferisch war – es muss, sagen wir es geradezu, in der Örtlichkeit ein besonderer Anreiz zum Dichten liegen. Die Natur muss hier etwas an sich haben, was die Phantasie mächtig erregt. "Niemand wird doch glauben, dass alle diese Erinnerungen aus bloßem Eigensinn an den Hellespont geknüpft seien, oder dass man ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit aus einer Art von geographischer Caprice gerade die Troas zum Schauplatz so vieler Legenden gewählt habe.
Für den gewöhnlichen Reisenden, zumal den, welcher dem Lande vom Meer her naht, ist es schwer, diese Rätsel zu lösen. Wenn man dagegen, wie ich, über das Schwarze Meer und den Bosporus zu den Dardanellen kommt und von da zu Lande in die Troas eindringt, so empfindet man die Schönheit und Eigenartigkeit dieser Gegenden unendlich tiefer. Der große Konstantin hat für diese Empfindung ein endgültiges Zeugnis abgelegt. Denn als er den weltbewegenden Gedanken fasste, die Residenz des römischen Reiches fortnach in den Osten zu verlegen, da dachte er zuerst an Ilion. Schon soll der Bau des neuen Rom hier begonnen haben, als ihm der höhere landschaftliche Reiz und die größere politische Bedeutung von Byzanz erschlossen ward: er erbaute Konstantinopel, während llion in Trümmern blieb. In der Tat, wer auf einem der jetzt fast allein benutzten Dampfschiffe den südlichen Teil des Hellespont durchfährt, dem erscheint zumal an einem Tage mit verschleiertem Hintergrund die ganze Troas nüchtern, langweilig, unfruchtbar. Wahrscheinlich würde niemand, der die troische Küste bloß umfährt, auf den Gedanken kommen, hierher den Schauplatz eines großen Gedichtes oder eines weiten Sagenkreises zu verlegen.
Und doch streiten die Gelehrten darüber, ob Homer oder sagen wir allgemein, ob der Dichter der Ilias das Land selbst betreten hat. Ein sonderbarer Streitpunkt für den, der das Land nicht bloß von der See aus gesehen, sondern im Innern durchstreift hat! Ich erkläre offen, es scheint mir unmöglich, dass die Ilias von jemand gedichtet sein könne, der nicht das Land selbst besucht hat.
Freilich lässt sich noch ein dritter Fall denken. Man könnte sieh vorstellen, dass die Sage von Ilion, gleichwie die Sagen von Ganymed, Paris, von Hesione und Herakles, von Laomedon and Anchyses im Land selbst, auf Grund lokaler Anschauung entstanden und ausgebildet waren und dass sie dann erst, fertig oder halbfertig, dem fernlebenden Dichter der Ilias überliefert wurden. Mit einer solchen Annahme würde wenigstens der zur Sagenbildung reizende Charakter des Landes anerkannt, aber freilich auch die Bedeutung des Dichters der Ilias sehr geschmälert. Ich glaube nicht, dass man so weit gehen darf. Schwerlich würde die llias einen so wahren Lokalton bewahrt haben, wenn ein Fremder die einheimischen Sagen aufgenommen und ohne Anschauung des Landes verarbeitet hätte.
Wir haben allerdings solche Beispiele. Schiller war nie in der Schweiz und doch hat er in seinem "Wilhelm Tell" ein Kunstwerk von solcher Vollendüng geliefert, dass auch der Eingeborene vom Vierwaldstätter See ihm seine Bewunderung nicht versagen kann. In einem gewissen Sinne, und gerade für Troja, kann auch Virgil erwähnt werden. Aber man vergesse nicht, unter wie verschiedenen Bedingungen diese Dichter arbeiteten. Schiller sowohl als Virgil fanden geschriebene lokale Sagen und genaue geographische Berichte vor, aus welchen sie schöpfen konnten. Trotzdem waren sie nicht im Stande, ihrer Dichtung einen so spezifischen Lokalton zu geben, allen ihren Szenen so klar erkennbare Orte unterzulegen, wie es in der llias geschieht. Wie anders erglüht in uns die Erinnerung an immer neue Stellen der llias, wenn wir die Troas durchwandern, als die Erinnerung an Wilhelm Tell, wenn wir den Vierwaldstätter See befahren oder seine Ufer durchklettern! Sicherlich war die Kraft der Intuition bei dem Dichter von "Wilhelm Tell" bewunderungswürdig, aber sie beschränkt sich doch auf drei oder vier Punkte, deren Lage durch gute Landkarten leicht ersichtlich war.
In der llias dagegen ergreift uns einerseits die Wahrheit des Gesamteindrucks, und zwar von einem sehr weiten Gebiet, andererseits die Fülle der Einzelanschauungen, welche immer wieder andere Punkte des Landes betreffen. Ich meine dabei nicht bloß jene so oft hervorgehobene Eigentümlichkeit Homer's, jedem Dinge durch ein kurzes bezeichnendes Beiwort eine durchaus zutreffende und charakteristische Beschreibung beizufügen, zB der quellenreiche Ida, der wirbelnde Skamander, das windige Ilion, sondern noch weit mehr seine höchst auffällige Kcnntnis der Meteorologie des Landes, der Flora und der Fauna, der sozialen Eigentümlichkeiten der Bevölkerung. Drei Jahrtausende haben nicht genügt, um in diesen Dingen eine nennenswerte Veränderung hervorzubringen. Noch immer ziehen die Wolken dieselben Wege, wie sie in der llias beschrieben werden,noch heute sammeln sich die Wetter um dieselben Berghäupter, wie zur Zeit Homer's. Die Zahl der Tiere ist allmählich vermindert worden, das Kamel und der Truthahn sind zu den Haustieren hinzugekommen, aber die einheimischen Arten haben sich nicht geändert. Blumen und Sträucher und Bäume, wie sie die Dichtung erwähnt, wachsen noch jetzt um die Ufer der Flüsse und auf der Höhe der Gebirge.
Und vor allem die Menschen. Eine Einwanderung nach der andern ist erfolgt: Aiolier und Römer, Türken und Armenier sind in das Land gekommen, aber noch immer lebt die Bevölkerung wie ehedem. Wenig Ackerbau, viele Herden – das bestimmt nicht bloß die sozialen Einrichtungen der Menschen, sondern auch die Beschaffenheit der Oberfläche des Landes. Wären die Türken nicht ein so stabiles Volk, so würde sicherlich allmählich ein anderes Wesen aufgekommen sein. Aber man kann Petroleum brennen und doch im übrigen ein homerischer Trojaner bleiben. Man kann eine Kirche oder eine Moschee bauen und doch einen wirklichen Wagen oder eine fahrbare Straße verabscheuen.
Ich möchte trotzdem nicht behaupten, dass der Dichter der llias ein Eingeborener der Troas war oder dass er jedes Wort seiner Dichtung kritisch geprüft habe an den Tatsachen der Natur und der menschlichen Einrichtungen. Im Gegentheil, ich erkenne an, dass es manche gänzlich unzutreffende Stelle in der Ilias gibt. Die zwei Quellen des Skamander, die kalte und die warme, welche die llias in die Ebene verlegt, sucht man dort vergeblich; sie sind hoch im lda, zwei Tagereisen von der Ebene entfernt. Aber solche Stellen gibt es doch nicht viele in der llias, und unter den vorhandenen sind manche einer mehrfachen Deutung zugänglich, andere möglicherweise spätere Zusätze nachträglicher Bearbeiter. Durch solche Kleinigkeiten darf man sich die Überzeugung von der Wahrhaftigkeit der Gesamtanschauung nicht trüben lassen. Diese setzt die Anwesenheit des Dichters in dem Lande, wenn auch vielleicht nur für eine kürzere Zeit, voraus, schließt jedoch eine voraufgehende,wenn auch keineswegs einheitliche Sagenbildung nicht aus.
Um einen Gesamtüberblick des gewaltigen Schauplatzes der Sage zu gewinnen, muss man im Innern des Landes einen hervorragenden Standpunkt aufsuchen. Einen solchen gewährt die Höhe von Hissarlik, der Schauplatz von Dr. Schliemann's Ausgrabungen. Aber auch auf dem westlichen Uferrücken, der sich längs des Aegäischen Meeres hinzieht, dem Vorgebirge Sigeion und dem Ujek-Rücken, gibt es sehr geeignete Stellen dafür. Einen ganz beherrschenden Standpunkt gewährt jenes mächtige, letzthin gleichfalls durch Dr. Schliemann aufgegrabene Kegelgrab, welches sich südlich vom Sigeion, eine kleine Stunde von der Besika Bucht entfernt, 80 Fuß hoch über einem an sich schon stark elevierten Gebirgsrücken erhebt. Es ist dies der weit vom Meer aus sichtbare und darum als Schiffersignal dienende Ujek Tepeh. Von seiner Spitze hat man eine volle Rundschau über den ganzen Schauplatz der Ilias.
Da liegt zunächst unter uns, lang hingezogen vom Ufer des Hellespont im Norden bis zu dem Bali Dagh im Süden, die eigentliche troisehe Ebene, eine alte Meeresföhrde, später durch die Anschwemmungen der Flüsse, namentlich des Skamander, mit fruchtbarem Marschboden ausgefüllt, der freilich vielfach unterbrochen ist durch Sümpfe, hier und da auch durch Sandablagerungen. Die Hauptrichtung der Ebene entspricht dem Stromlauf des Skamander, der erst weiter abwärts sich mehr und mehr dem westlichen Rande nähert und dessen Mündung in den Hellespont ganz nahe am sigeiischen Vorgebirge liegt. Auf beiden Seiten, jedoch vorwiegend auf der rechten, zweigt sich vom Bett des Skamander ein Netzwerk von Rinnen ab, welche in trockenen Zeiten ganz oder zum Teil leer sind, bei Hochwasser jedoch den Überschuss des Skamanderwassers aufnehmen und dann zu scheinbar selbständigen Flüssen anschwellen. Im unteren Teil der Ebene nimmt ihre Breite und Tiefe zu, und in der Nähe der Küste führen sie anhaltend Wasser, das jedoch durch Einspülen von Hellespontwasser mehr oder weniger salzig ist.
Dieses ungemein verzweigte Netz von Wasserrinnen hat, um es gleich hier zu sagen, eine nicht geringe Bedeutung für die Erklärung der Ilias. Unzweifelhaft ist der große Fluss der Skamander der Dichtung. Soviel man auch versucht hat, diesen Namen auf ein kleines Flüsschen zu übertragen, welches im westlichsten Teil der Ebene neben dem Skamander einen kurzen Verlauf macht, den Bunarbaschi Su – vor einer unbefangenen Vergleichung der homerischen Angaben mit der Wirklichkeit schwindet jede Möglichkeit, den "göttlichen Skamander" in einer Ecke der troischen Ebene zu suchen und den eigentlichen Strom dieser Ebene, den Schöpfer derselben, künstlich in eine Nebenstellung zurückzudrängen. Aber freilich, der große Fluss entspricht in vielen Stücken dem Skamander der Dichtung nicht. Denn dieser mündete nicht an der westlichen, sondern an der östlichen Seite der Ebene in den Hellespont; er wird beschrieben als zwischen Ilion und dem Schiffslager der Achäer gelegen, und das Schlachtfeld wiederum ist gedacht zwischen dem Schiffslager und dem linken Ufer des Flusses. Der Bach von Bunarbaschi entspricht diesen Voraussetzungen noch weniger und schon aus diesem Grund wäre es empfehlenswert, ihn künftig aus den Debatten herauszulassen. Aber auch für den Skamander bleibt nur die Wahl zwischen zwei Erklärungen: entweder hat sich der Dichter über den Verlauf des Skamander gänzlich getäuscht – und das wäre ein starkes Argument für die Annahme, dass er niemals in der Troas war – oder der Fluss hat im Laufe der Jahrhunderte sein Bett verändert und der Skamander strömt in seinem untern Lauf nicht mehr so, wie er einst strömte.
Es würde zu weit führen, wenn ich an diesem Ort die Gründe im einzelnen darlegen wollte, welche nach meiner Meinung beweisen, wenn auch nicht absolut, so doch in höchstem Grade wahrscheinlich machen, dass der Skamander in einem neuen Bett strömt und dass die jetzt nur gelegentlich benutzten und zum Teil mit Meerwasser gefüllten Wasserbetten, die sogenannten Asmaks, verschiedene alte Betten des Skamander bezeichnen, welche seit langer Zeit verlassen sind. Die troische Ebene gleicht in dieser Beziehung den Deltabildungen anderer Flüsse. Wie der Rhein und die Weichsel ihre Mündungen in historischer Zeit verlegt und an der Stelle ihrer alten Betten tote Wasserläufe oder verzweigte Flussnetze zurückgelassen haben, so ist es auch mit dem Skamander gegangen. Schon der berühmte römische Schriftsteller, der das naturwissenschaftliche Wissen seiner Zeit gesammelt hat, Plinius, spricht von einem Paläskamander. Schon um Christi Geburt gab es also einen "alten Skamander", wie es jetzt seit einem halben Jahrtausend einen "alten Rhein" gibt.
Man würde dieses Verhältnis wahrscheinlich leichter erkannt haben, wenn die troische Ebene, wie andere Deltaländer, frei gegen das Meer vorgestreckt wäre. Aber sie hat das Besondere an sich, welches sich allerdings an vielen kleinasiatischen, griechischen und türkischen Flussmündungen wiederholt, dass die Deltabildung in einer Föhrde (Fjord) vor sich gegangen ist, dass sie also von den alten Uferbergen der Föhrde eingeschlossen ist. Man könnte statt "Ebene" vielleicht noch verständlicher "Tal" sagen, wenn nicht die Breite der Ebene im Verhältnis zur Höhe der umgebenden Berge zu beträchtlich wäre, um den Eindruck eines Tales zu erzeugen. Trotzdem ist kein Zweifel, dass, wenn die troische "Ebene" an der Küste der norddeutschen "Ebene" läge, man sie sicherlich ein Tal nennen würde. Dieses Tal ist gegen den Hellespont offen, gegen Westen und Süden geschlossen. Es hat an seiner rechten, östlichen Seite einige zwischen die Höhenrücken der Nachbarschaft eingeschobene Nachbartäler, namentlich zwei etwas längere, welche ihrerseits wieder eine Anzahl von kleinen Tälchen und Ausbuchtungen gegen das Gebirge aussenden. Von diesen östlichen Nebentälern verläuft das größte dem Hellespont parallel; es ist von ihm getrennt durch einen gegen Osten immer höher ansteigenden Bergrücken. In ihm fließt ein schmaler Bergstrom von allerdings nur bescheidenen Verhältnissen, aber doch für die Ansprüche genügend, welche die Ilias an den Simoeis macht. Wenn man es daher nicht vorzieht, mit Hercher alle die Stellen der Ilias, worin der Simoeis erwähnt wird, für spätere Einschiebsel zu erklären und zu eliminieren, so mag man mit Demetrios von Skepsis und Straho den Simoeis in dem eben geschilderten Flüsschen sehen, das seit türkischer Zeit den Namen Dumbrek Tschai trägt.
Dieser Name ist für manche der Neueren insofern verführerisch gewesen, als er an den homerischen Namen Thymbra anklingt. Da, wo der Thymbrios in den Skamander fiel, sollte nach dem Zeugnis späterer Schriftsteller der Apollotempel gelegen haben, bei welchem Achilleus, als er ein zärtliches Begegnis mit Polyxena, einer Tochter des Priamos, suchte, durch Paris die tödliche Wunde empfing. Diese Umstände passen nicht auf den Dumbrek Tschai. Vielmehr vereinigt sich eine Mehrzahl von Ortsbesonderheiten, welche auf das südlichste der genannten Nebentäler hinführen; hier fließt der Kimar Su, der daher von der Mehrzahl der neueren Autoren als Thymbrios gedeutet wird.
So weit erstreckt sich das, was man die troische Ebene zu nennen pflegt. Abgesehen von der etwa eine Stunde langen Küstenstrecke am Hellespont ist sie ringsum von Bergzügen eingefasst, welche steil aufsteigen, obwohl sie nur geringe Höhen von 100 bis höchstens 500 Fuß erreichen. Von dem Ujek Tepeh aus erblickt man diese Bergzüge zum großen Teil sich gegenüber. Nur die westliche Begrenzung der Ebene, d. h. der lange und ziemlich gestreckt verlaufende Rücken des Sigeion, welcher sich längs der Küste des Aegäischen Meeres bis zum Hellespont erstreckt, bildet scheinbar eine Fortsetzung des Bergstockes, auf welchem sich der Ujek Tepeh selbst erhebt, und erst südlich von dem letzteren schließt sich eine vielfach unterbrochene Hügellandschaft an, welche allmählich ansteigend in dem über 900 Euß hohen "Schwarzen Berg" Kara Dagh endet. Gegen Osten dagegen schieben sich den vorher erwähntn Nebentälern der troiscben Ebene entsprechend, mehrere leicht divergierende Rücken gegen dieselbe vor.
Der nördlichste derselben folgt unmittelbar dem Ufer des Hellespont. Gegen die Ebene setzt er sich scharf ab. Er bildet hier das Vorgebirge Rhoiteion,welches dem Sigeion gegenüber liegt. Sein äußerster Vorsprung gegen die Ebene, dicht am Strand, ist ein halb isolierter Kegel, das sogenannte Aiasgrab, In Tepeh, während drüben vom Sigeion her zwei andere Kegelgräber, das des Achilleus und das des Patroklos, herüberschauen. Hinter dem Rhoiteion folgt das Dumbrek-Tal, und darauf ein zweiter, der Küste des Hellespont nahezu paralleler Rücken, an dessen Westende, durch eine massige Einsenkung geschieden, ein umfangreicher, über 100 Fuß boher Hügel, der vielberedete Hissarlik steht. Vom Ujek Tepeh aus blickt man zwischen Hissarlik und dem In Tepeh in das Dumhrek Thal hinein: es liegt offen vor uns bis zu seinem Anfang hinauf, hier stoßen die verschiedenen Rücken, indem sie allmählich immer höher ansteigen, sowohl der Küstenrücken, als der von Hissarlik und die noch weiter südlich gelegenen, in einer Art von Knotenpunkt, dem Ulu Dagh zusammen. Der bewaldete Gipfel des Ulu Dagh beherrscht diesen Teil derLandschaft vollständig, und er entspricht deswegen den homerischen Angaben über die Lage der als Aussichtspunkt gerühmten Kallikolone viel mehr, als der ungleich niedrigere und viel weiter zurückgelegene Kara Jur, eine Erhebung, welche auf dem östlichen Abschnitte des Rückens von Hissarlik selbst gelegen ist.
Der eben geschilderte Teil der Landschaft gewährt nicht nur vom Ujek Tepeh, sondern auch vom ganzen Sigeion aus den Anblick, welchen nach Homer das Schlachtfeld in dem Augenblicke darbot, als die Entscheidungsschlacht geschlagen werden sollte. Während die Sterblichen auf der Ebene gegen einander zogen, ordneten sich die Unsterblichen, je nachdem sie für Troer oder für Achäer Partei nahmen, in zwei Gruppen. Die den Troern befreundeten Götter schauten dem Kampf von der Kallikolone aus zu, die den Achäern günstigen dagegen saßen auf dem Wall des Herakles an dem Sigeion.
Alle die Ebene unmittelbar begrenzenden Höhenzüge bestehen aus einem an Muscheln sehr reichen Kalkstein der mittleren Tertiärzeit. Dieser Stein muss in einem brakigen oder geradezu süßen See gebildet sein, als der Hellespont selbst noch nicht existierte. Nur an einer Stelle, nämlich im Dumbrek Tal, tritt vulkanisches Gestein zu Tage. Anders ist es dagegen, wenn wir das weitere Bild ins Auge fassen.
Da ist zunächst ein langer Zug höherer, meist abgestumpft kegelförmiger Berge, welche sich in weitem Bogen vom Ulu Dagh zum Kara Dagh, d. h. vom Hellespont bis zum Aegäischen Meere fortziehen und die troische Ebene, oder genauer, die ganze vordere Troas umrahmen. Dieser Zug besteht durchweg aus vulkanischem Gestein, oder wenigstens bildet vulkanisches Gestein den Kern desselben: Trachyte, Basalte, Serpentine usw wechseln in bunter Lage miteinander ab. Über diesen Rahmen hinaus reicht der Kampf der Menschen, abgesehen von einzelnen Streifzügen, welche beiläufig als schon abgelaufene Ereignisse erwähnt worden, nirgends in der Ilias. Wo weiter rückwärts gelegene Orte erwähnt werden, da geschieht es entweder mehr nebensächllch, ohne unmittelbare Beziehung auf den Trojanischen Krieg, oder mit Bezug auf die Götter. Denn das muss ein für allemal feststehen: Der mythologische Schauplatz der Ilias ist ungleich weiter als der strategische.
Die Kette von Eruptivgesteinen, welche vom Ulu Dagh bis zum Kara Dagh reicht, ist noch lange nicht der eigentliche Ida. Weder in der Gegenwart noch in der llias haftet dieser Name an so geringen Höhenzügen. Erst die Späteren haben in den Vorbergen den Ida selbst gesehen und so ein nues Moment der Verwirrung geschaffen. Nirgends kann man den Gegensatz des Ida gegen diese Vorberge besser übersehen, als vom Ujek Tepeh aus. Von da aus erblickt man in der Kette dieser Vorberge gegen Südosten einen starken Einschnitt, links vom Kara Dagh, rechts vom Fulah Dagh. Es ist dies die Stelle, wo der Skamander in mächtigen Windungen die Vorberge durchbricht und in die Ebene eintritt. Über diesem Einschnitt, jedoch in weiter Ferne, erhebt sich, hoch über die Vorberge hinaufragend, das mächtige Massiv des Ida (Kaz Dagh). Zwischen ihm und den Vorbergen liegt ein breites und fruchtbares Längental, die Ebene von Ine und Beiramitsch, durch welches in der ganzen Länge von Osten nach Westen, der Skamander strömt, und es ist um so weniger Grund vorhanden, trotz der breiten zwischengeschobenen Ebene, den Ida bis zu den Vorbergen auszudehnen, als in westlicher Richtung ein weiterer vulkanischer Bergstock, der Chigri Dagh, ganz getrennt von dem Massiv des Ida, an die Ebene von Ine stößt, der mit den Vorhergen weit mehr zusammenhängt. Vom Ujek Tepeh aus sieht man ihn, wie er sich über den Kara Dagh erhebt und mit seinen Ausläufern die ganze südliche Küstenlandschaft beherrscht.
Das Bild, welches uns vom Ujek Tepeh aus entgegentritt, ist aber damit nicht erschöpfend wiedergegeben: es ist viel weiter als die Troas. So weit, als es sich in Wirklichkeit dem staunenden Beobachter darbietet, so weit fasst es auch der Dichter. Da sehen wir zunächst jenseits der Ebene eine lange, blaue Linie: den Hellespont. Für uns ist der Hellespont nicht minder ein Gegenstand des Staunens, als für die Männer des Altertums. Ihnen war er die Straße, welche zu den unbekannten Ländern des dunklen Nordens führte. Auf ihr gelangte man zu Kimmeriern und Hyperboräern, welche die Sage mit hüllendem Schleier deckte. Für uns ist der Hellespont der genieinsame Abfluss der Gewässer eines ungeheuern Wassergebiets: die Donau mit dem Pruth, der Dnjestr und der Dnjepr, der Don und der Kuban wälzen durch ihn ihre Fluten zum Mittelmeer. Genau genommen ist daher der Hellespont keine bloße Wasserstraße zwischen zwei Meeren, sondern ein ungeheuerer Strom, welcher die Niederschläge aus einem Hinterland von gewaltiger Ausdehnung ableitet. Deutschland und Österreich, Bulgarien und Rumänien, Russland und Kaukasien liefern diesem Strom seine Zuflüsse, und der Geist des sinnenden Betrachters folgt gern diesen Zuflüssen, um ein Bild zu gewinnen von den Wanderungen der Völker, welchen dieses weite Gebiet in historischer und vorhistorischer Zeit als Verbreitungsbezirk diente.
Wer könnte sich dem Interesse entziehen, das eine solche Betrachtung darbietet! Seit den ältesten Zeiten war der Hellespont nicht nur die Grenze, sondern noch weit mehr die Verbindung zwischen Asien und Europa. Hier stießen die Heerscharen beider Weltteile aufeinander. Was die Perser vergeblich versuchten, das erreichten die Türken. Was Alexander erlangt hatte, das versuchten die Kreuzfahrer. An den Dardanellen ist der Punkt, wo Asien von Europa aus und umgekehrt Europa von Asien aus am leichtesten erreichbar ist. Aber die Geschichte hat gelehrt, dass der asiatische Strom im Ganzen der stärkere gewesen ist. Kamen doch wahrscheinlich auch unsere eigenen Vorfahren, die arischen Einwanderer, lange vor der Zeit, wo die Ilia sgedichtet ward, noch länger vor der Zeit, in welcher man anfing die Geschichte der Völker niederzuschreiben, auf diesem Wege als Eroberer nach Europa!
Wie oft zogen Gedanken dieser Art an meinem Geiste vorüber, wenn ich das kleine Stück von Europa anschaute, das wir von unserm Holzhäuschen auf Hissarlik erblicken konnten. Es war recht wenig, und ich kann nicht sauen, dass ich darüber traurig war. Wir sahen nichts, als die Südspitze des thrakischen Chersonesos, einen niedrigen Höhenzug jenseits des Hellespont,auf dessen Südspitze die Alten das Grab des Protesilaos verlegten. Abends, wenn ich mein Licht gelöscht hatte und noch einmal hinausschaute, da blieb von allem, was mich noch sinnlich an Europa knüpfte, nichts übrig als das Leuchtfeuer auf der Spitze des Chersonesos, das seinen Strahl gerade in mein kleines Fenster hineinwarf. Aber wie viele Erinnerungen rief dieser Strahl wach!
Wenn ich morgens aus demselben Fenster hinausschaute, so sah ich weithin ausgebreitet das tiefblaue Meer mit den Inseln: weit außen, durch eine breite Wasserstraße von dem Chersoncs getrennt, die felsige Imbros mit langem, zackigem Rucken, und gerade dahinter emporsteigend der gewaltige Pik von Samothrake. Wie majestätisch erscheint diese Insel vom Ujek Tepeh aus! Was im fernen Südosten der Ida, das ist im ebenso fernen Nordwesten Samothrake. Dort der Sitz des mächtigsten aller Götter, Zeus, hier der Sitz des nächst ihm am gewaltigsten, Poseidon.
Es wird dem Nordländer, zumal in solchen Ländern, über denen der Himmel häufiger verschleiert ist, schwer, sich vorzustellen, wie die religiösen Vorstellungen der Südländer sich so vorwiegend an die Erscheinungen der Atmosphäre oder, um mehr mythologisch zu sprechen, des "Himmels" knüpften. Man muss den weiten Horizont und die reine Bläue des troischen Himmels schauen, um den Eindruck zu begreifen, den hier die Wolkenbildung macht. Wenn plötzlich, während Meer und Land scheinbar ruhig daliegen, dunkles Gewölk um die Spitze von Samothrake sich sammelt und mit jedem Augenblick tiefer sinkend eine der scharfen Felslinien nach der andern verhüllt, bis endlich das Wetter niedersteigt und das Meer, vom Sturm gepeitscht, selbst in Dunkelheit versinkt, so fasst man es, dass ein kindliches Gemüt in dem Geheimnis der Wolke die Anwesenheit des Meergottes selbst suchte. Und wenn fern her am südwestlichen Himmel in der Richtung von Hellas über dem Aegäischen Meer eine einzelne Wolke auftaucht, sich allmählich hebt und auszieht, näher und näher rückt und endlich an den Gipfel des Ida stößt, um sich hier zu verdichten und Stunden, ja Tage lang festzuhaften, wenn es dann ganze Nächte hindurch aus diesem Gewölk wetterleuchtet, und die ganze Natur wie ersehreckt daniederliegt, kann man da umhin, an die Schilderungen des Dichters zudenken, der die Reise und den Aufenthalt des Wettergottes beschreibt?
Von der Höhe des Ujek Tepeh sieht man noch manche andere Insel des Aegäischen Meeres, weit aufragend mit scharfen Felsmassen. Da liegt ganz in der Nähe, gerade über die Besika Bucht hinüber, Tenedos, das weinreiche, hinter dem die Flotte der Achäer, als sie gegen llion zogen, sich zuerst verbarg, um den Überfall vorzubereiten. Da schaut man im fernen Süden, nur bei ganz klarem Wetter erkennbar, die kantigen Linien von Lesbos oder, wie die Späteren es genannt haben, Mitylene. Zuweilen steigt ein Gewölk auf, weit her aus dem Meer, das auf Lesbos zieht und auf das Cap Baba, das Lekton der Alten, und das endlich, indem es von Berg zu Berg fortschreitet, den Ida erreicht. Es macht genau den Weg, den Here machte, als sie ihren zürnenden Gatten auf dem Gargaros aufsuchte und jene zärtliche Vereinigung erreichte, welche die Ilias in einem ihrer schönsten Abschnitte malt.
Wer könnte sich dem verführerischen Reiz solcher Anschauungen entziehen? Und wer könnte verkennen, dass der große Dichter von solchen Anschauungen aus das herrliehe Gemälde gestaltet hat. das er von den Vorgängen im Kreise der olympischen Götter entwirft? Ich will hier nicht in das Einzeln der Naturereignisse eingehen; ich verzichte selbst darauf, das herrliche Schauspiel zu schildern, welches uns am Fuße dos Ida durch das Auf- und Niedersteigen des Gewölkes gehoten ward. Aber ich kann nicht verschweigen, dass es mir ganzlich unverständlich ist, wie man hat glauben können, durch das Lampenlicht der Studierstube die Wunder der troischen Natur verdunkeln und dem unsterblichen Dichter den positiven Hintergrund seiner Anschauungen bestreiten zu dürfen.
Wahrscheinlich wäre dies auch nie geschehen, wenn man den Platz des alten Ilion gekannt hätte. Allein schon zur Zeit von Demetrios von Skepsis, einem aus der Troas selbst gebürtigen Gelehrten, der noch vor dem Beginn der christlichen Zeitrechnung lebte, war nirgends in der Ebene eine Spar der alten Stadt zu sehen. Jahrtausende sind verstrichen, ehe man anfing, in diesem durch den Zusammensturz so vieler Reiche früh vereinsamten Land den eigentlichen Stadtplatz wirklich zu suchen. Seitdem ist kaum eine Gegend dieses Landes vor den Vermutungen der Gelehrten sicher gewesen. Vom Golf von Adramyteion und vom Vorgebirge Lekton angefangen, hat man bald hier bald dort die alte Stadt gesucht. Alexandria-Troas, die große Trümmerstätte einer von Antigonos am Aegäischen Meer gegründeten, also nach-homerischen Metropole, später Bunarbasehi, ein elendes türkisches Dorf am Südende der troischen Ebene, haben am längsten die Aufmerksamkeit der Gelehrten auf sich gezogen. Erst vor 50 Jahren wagte es MacLaren, den Burgberg von Hissarlik als die Stelle zu bezeichnen, wo einst Troja stand. Andere, wie von Eckenbrecher, schlossen sich ihm an. Die ersten wirklichen Ausgrabungen veranstaltete Herr Frank Calvert. Aber auch sie blieben an der Oberfläche. Erst Dr. Schliemann war es vorbehalten, unter Aufopferung von Mitteln, wie sie kaum je ein Privatmann für solche Zwecke aufgewendet hat, durch eine staunenswerte Tiefgrabung die Ruinen uralter Ansiedlungen hloßzulegen und damit für immer Hissarlik zum Gegenstand des höchsten Interesses für alle Gebildeten zu machen.
Ist damit die Frage nach dem Sitz des alten llion gelöst? Die Gegner leugnen dies. Und warum? "Während sie Schliemann vorwerfen, dass er die Ilias wörtlich genommen habe, glauben sie ihn widerlegen zu können, indem sie nachweisen, dass die Ruinen auf Hissarlik den Beschreibungen Homer's nicht entsprechen. Gewiss haben sie in diesem Nachweis recht. Homer hat sich seine "heilige Ilios" anders vorgestellt, als sie nach dem Zeugniss derRuinen gewesen sein kann. Aber ist dies ein haltbarer Einwand?
Niemand zweifelt daran, dass die Ilias erst gedichtet worden ist. nachdem Ilion seit Jahrhunderten zerstört war. Seit wie vielen, darüber streiten auch die Anhänger Homer's. Mochten indes auch nur zwei- oder dreihundert Jahre dazwischen liegen, immerhin konnte llion vom Dichter selbst nicht mehr geschaut werden. Das llion der Dichtung muss unter allen Umständen selbst eine Dichtung sein. Die Sage mochte manche Einzelheiten von den Verhältnissen der alten Stadt bewahrt haben, aber unmöglich kann vorausgesetzt werden, dass sich eine ins Einzelne gehende, authentische Beschreibung der Stadt oder Burg, wie sie vor ihrer Zerstörung war, erhalten haben sollte. Auf den Trümmern war sicherlich inzwischen "Gras gewachsen". Neue Ansiedler hatten auf der alten Stätte ihre Wohnungen aufgebaut, und vielleicht waren auch diese Wohnungen längst wieder zerfallen, als der Dichter sein Werk begann. Sehr fraglieh ist es, ob er auch nur die Ruinen der zerstörten Stadt selbst gesehen hat. Er wird den Ort gesehen haben, wo sie stand, aber sie selbst sah er nur in der Vision. Wie Zeus und Here, Poseidon und Athene, Ares und Aphrodite Gebilde seiner Phantasie waren, so war auch die Stadt llion ein "Traum". Niemand kann verlangen, dass die wirkliche Ruinenstätte jeder Voraussetzung der homerischen Phantasie entspricht, und der Nachweis, dass sich der Dichter vieles gedacht hat, was wenigstens an dieser Stelle niemals existierte, bedeutet weiter nichts, als dass die Ilias kein historisches, sondern ein poetisches Werk ist.
Und doch ist der Zusammenhang der Dichtung mit den Örtlichkeiten kein so loser, wie man es darstellt. Der Platz von Hissarlik entspricht in der Hauptsache allen topographischen Voraussetzungen, welche die Ilias macht. Wie vom Ujek Tepeh, so überschaut man von hier aus die ganze vordere Troas. Die Ebene mit ihren Flüssen und Bächen, die Nebentäler, die umgebenden Bergrücken, der Kranz der vulkanischen Höhen, der Hellespont und das Ägäische Meer liegen vor dem Betrachter frei ausgebreitet, der auf der Höhe von Hissarlik steht. Nur ist die Ebene, und zwar derjenige Abschnitt, der sich überhaupt zum Schlachtfeld eignet und der, wenn man die Veränderung der Flussläufe in späterer Zeit hinwegdenkt, auch der Topographie des homerischen Schlachtfeldes vollständig genügt, ungleich näher. Man erkennt die einzelnen Gegenstände darauf deutlich, und es ist nicht ganz unmöglich, dass von hier aus Helena ihrem königlichen Schwiegervater die einzelnen Heerführer der Achäer bezeichnen konnte. Aber auch die Ferne ist vollständig sichtbar, soweit es für die Schilderungen der llias erforderlich ist. Man sieht den thrakischcn Chersones, man hat Imbros und Samothrake vor sich. Noch weiter links liegt Tenedos und ganz hinten im Südosten über die Vorberge schaut das schneeige Haupt des lda herüber. Ja, wenn die Sonne untergeht, taucht zuweilen für einige Minuten die Pyramide des Athos im fernsten Westen empor.
Freilich, die alte Stadt lag nicht so hoch, wie der Burgberg von Hissarlik anstieg, ehe die Ausgrabung begann. Dr. Schliemann musste weit in die Tiefe gehen, 25-30 Fuß und noch tiefer, ehe er unter dem Schutt der späteren Ansiedlungen auf die Reste der Mauern und Häuser von llion stieß. Aber auch, wenn man sich das Niveau von llion um so viel tiefer denkt, so genügt es doch immer noch, um die beherrschende Lage der Stadt zu wahren. Die Häuser und Türme darin, selbst wenn ihre Höhe eine sehr massige war, werden doch leicht um so weit den Fußboden überragt haben,um das Niveau des späteren Burgberges zu erreichen. Es war dann immer noch eine hochgelegene, den Winden ausgesetzte Feste. Unsere Holzhütten,die am Fuß des Burgberges ein ganzes Stück unter dem Niveau der Stadt, aufgeschlagen waren, lagen doch immer noch mindestens 60 Fuß hoch gerade über der Ebene, und die Winde bliesen so gewaltig um uns, dass wir nicht selten das Gefühl hatten, unsere ganze Ansiedlung könne den Abhang hinuntergeworfen werden.
Der Burgberg von Hissarlik, wie er sich den Reisenden darstellte, bevor Dr. Schliemann seine gewaltigen Ausgrabungen veranstaltete, war also genaugenommen ein künstlicher Hügel, vielleicht am ehesten vergleichbar mit den Erdhügeln der assyrischen Ebene, in welchen die Trümmer der Königsschlösser steckten. Nur war er nicht in der Ebene selbst entstanden, sondern auf dem westlichen Ende des zweiten Tertiärrückens, den ich früher beschrieben habe. Er lag somit dicht über der Ebene und musste von Anfang an hoch erscheinen. Seine weitere Erhöhung kann jedoch nur sehr laugsam stattgefunden haben. Indem man mit den Ausgrabungen von der Oberfläche her in die Tiefe vordringt, stößt man auf immer neue Trümmer, die untereinander verschieden sind und ganz andern Zeitepochen angehören. Ein Geschlecht nach dem anderen hat hier gewohnt, und jedes spätere, das sich auf den Trümmern eines früheren ansiedelte, hat von Neuem den Platz geebnet, indem es einen Teil der Trümmer bei Seite räumte und über den Rand des Abhanges hinabschüttete. So verbreiterte sich allmählich die Oberfläche des Hügels, und es ist begreiflich, dass jetzt, wo durch die Ausgrabungen des letzten Jahres die Grenzen der alten Stadt vollständig bloßgelegt sind, die große Grube den Anblick eines Trichters gewährt, in dessen Grunde die Trümmer von Ilion ziemlieh eng zusammengedrängt liegen. In der Tat, der Einwand ist richtig, dass dieses Ilion keine große Stadt war, in der neben zahlreichen Einwohnern noch ein großes Heer von Kriegern fremder Nationalität Platz finden konnte. Ein solches Ilion hat nur in der Vision des Dichters bestanden. Unser Ilion ist kaum eine Stadt zu nennen. Wir würden in unseren Landen eine solche Anlage einen Burgwall oder einen Schlossberg nennen. Darum ziehe ich es auch vor, von einem Burgberg zu sprecnen, eine Benennung, die genau genommen nichts anderes als eine Übersetzung des türkischen Wortes Hissarlik ist.
Aber warum soll die Ruine im Grunde des Trichters gerade llion sein? Darauf erwidere ich, dass es eine andere Frage ist, ob es es überhaupt jemals einen Ort gegeben hat, der Ilion hieß. Ist es nicht auch fraglich, ob es jemals einen Herakles oder Argonauten gab? Vielleicht sind llion, Priamos, Andromache nur poetische Fiktionen, wie Zeus, Poseidon und Aphrodite. Aber das hindert nicht, dass das llion der Dichtung in dem Grunde unsers Trichters gesucht werden muss. Da liegt, von einer mächtigen Mauer aus ungeglätteten Steinen umschlossen, eine dichte Reihe von Häusern. Haus und Zimmerwände sind noch so weit erhalten, dass sich ein Grundriss herstellen lässt. Eine mit großen Steinplatten ausgelegte, ziemlich steil ansteigende Straße führt durch das einzige Tor im Westen in die Burg hinein. Zwischen den Häusern bleibt nur ein schmaler Straßenraum. Alles ist gefüllt mit Brandschutt. Große Backsteine aus Ton, ½ Meter im Geviert, sind durch ein mächtiges Feuer geschmolzen und in Glasfluss übergegangen. Haufen von Getreide, namentlich Weizen und Bohnen, sind in schwarze Kohle umgewandelt. Die Überreste der tierischen Nahrung, Austernschalen und Muscheln aller Art, Knochen von Schafen und Ziegen, Rindern und Schweinen sind gleichfalls zum Teil angebrannt. Eigentliche Holzkohle findet sich nur wenig, und dann meist eichene. Der Brand muss lange genug angehalten haben, um fast alles Holzwerk gänzlich zu zerstören. Selbst das Metall, namentlich die Bronze, ist meist geschmolzen und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.
Man sieht, diese Burg ist durch ein großes und lang andauerndes, bis zur gänzlichen Verzehrung aller brennbaren Stoffe unterhaltenes Feuer zerstört worden. Ein solches Feuer, wie es der homerischen Erzählung entspricht, hat in den Ansiedlungen von Hissarlik nur einmal stattgefunden. In der Zahl der höheren, übereinander lagernden Trümmerschichten kommen noch öfter Brandspuren vor, aber nirgends in dem Stil wie in der "gebrannten Stadt". Auch unter ihr liegen noch Schichten, an manchen Orten bis zu 20 oder 25 Fuss tief und noch mächtiger – denn die "gebrannte Stadt" war nicht die älteste Ansiedlung auf Hissarlik – aber auch in diesen ältesten Schichten findet sieh nirgends eine so ausgedehnte Brandspur.
In der "gebrannten Stadt" aber ist es, wo unter zahlreichen, zum Teil recht feinen Erzeugnissen des Kunstgewerbes, namentlich der Töpferei, zu wiederholten Malen Goldfunde, zum Teil in Verbindung mit silbernen, bronzenen und elfenbeinernen Gegenständen, zu Tage gefördert sind. Niemals freilich ist wieder ein so reicher Fund gemacht worden, wie der Schatz des Priamos, auf welchen Dr. Schliemann im zweiten Jahr seiner erfolgreichen Ausgrabungen stieß. Indes kein Jahr ist seitdem vergangen, wo die Ausgrabungen nicht wenigstens einige neue Goldfunde zu Tage gefördert haben. Ich selbst war Augenzeuge und zum Teil sammelnder Helfer bei zwei Funden dieser Art. Längst ist die Verleumdung verstummt, welche sich nicht gescheut hat, eine Fälschung anzunehmen. Namentlich seitdem die türkische Regierung bei zweien der Arbeiter, die sich heimlich in den Besitz eines Teiles der alten Fundstücke gesetzt hatten, Gegenstände derselben Art mit Beschlag belegt hat, wie die anderweitig gesammelten, ist auch der hämische Neid in das Stillleben am häuslichen Herd zurückgekehrt. Man hat seitdem nicht bloß in Mykenae, sondern auch in andern griechischen Gräbern Goldsachen von demselben Typus gefunden wie auf Hissarlik; einer der Funde, welche während meiner Anwesenheit gemacht wurden, brachte gepresste Goldbleche mit Verzierungen, die bis ins Kleine mykenischcn Mustern gleichen.
Die "gebrannte Stadt" war also auch die "Goldstadt". Nur in ihr findet sich dieser Reichtum an den wunderbarsten und zugleich fremdartigsten Schätzen. Denn offenbar haben wir hier nicht das Produkt einheimischer Arbeit, sondern Handels- oder Beuteartikel aus der Fremde vor uns. Es ist der Stil des Ostens, namentlich Assyriens, der uns darin entgegentritt. Die gebrannte Burg musste demnach der Sitz eines großen und glücklichen Helden oder Heldensohnes sein, der in seinem, wenn auch kleinen, so doch festen Heim die seltensten Kostbarkeiten angehäuft hatte.
Der Hauptfund lag an einer einzigen Stelle beisammen, in einer Art von Wandschrank. Ursprünglich war er, wie es seheint, in einem Holzkasten geborgen. Er fand sich nahe der Mauer eines sehr stark gefügten Steinhauses, in dem auch an verschiedenen Stellen andere Sehätze, sowie zahlreiche, besser erhaltene Geräte zu Tage kamen, das also augenscheinlich das Wohnhaus des Fürsten war. Denn an keiner andern Stelle ist ähnlicher Reichtum aufgefunden, und da jetzt die Area der gebrannten Stadt ganz bloßgelegt ist, so kann man wohl bestimmt sagen: hier war das eigentliche Fürstenhaus. Dicht daran ist die alte Stadtmauer und vor ihm mündet die Straße, welche durch das einzige Tor heraufführt.
War nun dies das Skäische Tor und dies das Haus des Priamos? Dr. Schliemann, eingeschüchtert durch seine gelehrten Gegner, spricht jetzt nur noch von dem Hause des "Stadthauptes". Aber musste nicht das "Stadthaupt", welches über so viel Gold gebot, in einer Zeit, wo Gold so wenig verbreitet war, ein Fürst sein? Und was sollte uns hindern, ihn Priamos zu nennen? Gleichviel ob Priamos existierte oder nicht, der goldreiche Fürst, der hier wohnte, entspricht so genau dem Priamos der Ilias, dass wir uns doch den Reiz nicht rauben lassen wollen, diese Stätte nach ihm zu benennen. Und was sollte es schaden, wenn wir das westliche Burgtor, das einzige, welches überhaupt in der Stadtmauer vorhanden ist, dasjenige, zu welchem ein steil aufsteigender Weg von der Ebene hinaufführte, mit dem allbekannten Namen des Skäischen belegen?
Berauben wir uns doch nicht ganz unnötigerweise aller Poesie. Wir, die Kinder einer harten und oft recht prosaischen Zeit, wir wollen uns doch das Recht vorbehalten, die Bilder, welche unsere jugendliche Phantasie erfüllt haben, auch in unserm Alter wieder heraufzubeschwören. Es hat etwas Wehmütiges, aber doch zugleich Erhebendes, auf einer Stätte, wie der von Hissarlik, aus der Reihe aufeinander folgender Erdschichten, wie aus einem geologischen Aufschluss, den Gang der Geschichte abzulesen, nicht wie er aufgezeichnet worden ist, sondern wie er sich uns körperlich darstellt in der Hinterlassenschaft der Vorzeit, in den Dingen selbst, welche die früheren Mensehen gebraucht haben. Gewaltige Trümmerlagen sind über der gebrannten Burg aufgeschichtet, ehe wir an die erste Schicht gelangen, in welcher gehauene Steine und eine Mauer von Quadern erscheinen. Vielleicht war dies die Mauer, welche Lysimachos, einer der Feldherren Alexander's, nach historischen Nachrichten auf llion errichtete. Jedenfalls gleicht sie den Mauern der makedonischen Zeit, und die entsprechende Erdschicht birgt griechische Trümmer. Das ist also ein bestimmter Grenzpunkt. Von ihm aus müssen wir die Zeitrechnung rückwärts machen, und es ist leicht ersichtlich,dass sie der trojanischen Sage nicht ungünstig ist.
Vielleicht ist also nicht alles, was Homer singt, erdichtet. Vielleicht ist es richtig, dass in weit zurückliegender vorhistorischer Zeit hier wirklich ein reicher Fürst auf ragender Bergesfeste saß und dass gegen ihn ein schwerer Krieg von griechischen Königen geführt ward, der mit seinem Untergange und mit der Zerstörung seiner Stadt durch einen mächtigen Brand endigte. Vielleicht war es das erste Mal, dass an dieser Küste Europa und Asien zur Entscheidungsschlacht aufeinander trafen, das erste Mal, dass die junge, aber selbständig werdende Kultur des Abendlandes mit rauer Faust ihre Überlegenheit über die weichlich gewordene Kultur des Morgenlandes erprobte. Mir scheint es wahrscheinlich, dass es so war, aber ich will niemand meine Wahrscheinlichkeit aufdrängen.
So viel steht fest, dass auch die älteste und früheste Ansiedlung auf Hissarlik einem Volk angehörte, welches schon höherer Kultur erschlossen war. Freilich führte es noch Steinwaffen, aber sie waren schön geschliffen und zeigten jene feineren Formen, welche die Kenntniss der Metalle andeutet. In der Tat fehlen Metallspuren auch in den ältesten Schichten nicht. Diese Schichten können also nicht etwa einem Steinvolke zugeschrieben werden. Sie bezeichnen unzweifelhaft für Vorderasien die älteste bekannte Ansiedlung eines schon in höhere Kulturformen eingetretenen vorgeschichtlichen Volkes. Darum wird sicherlich der Burgberg von Hissarlik dauernd als ein sicherer Zeuge in die Kulturgeschichte der Menschheit eingeführt werden. Er wird unseren Söhnen als ein wichtiger geographisch Ort, als ein sicherer Ausgangspunkt erscheinen, von dem aus ihre Phantasie ihre Flüge unternehmen mag. Denn ich hoffe, nimmer wird die Ilias der Jugend geraubt werden, wie auch der Streit über die Existenz von Ilion oder Priamos endigen mag.
Die Welt feiert Schliemann als Entdecker Trojas, doch es war der britische Diplomat Frank Calvert, der den Hügel Hisarlik südwestlich der Stadt Burnabaschi als wahrscheinlichen Standort des alten Troja identifizierte.
Es ist ein geschichtsträchtiger Zufall, dass Schliemann auf seiner Bildungsreise im Jahr 1868 auf Frank Calvert trifft. Dieser ist gerade im Begriff, die Anhöhe von Burnabaschi zu verlassen, wo er Troja vermutete. Am 15. August 1868 verpasst Schliemann an den Dardanellen den Dampfer nach Istanbul und kommt mit Calvert ins Gespräch, der seit Jahren akribisch den Hinweisen rund um den Hisarlikhügel herum gefolgt ist, in der Überzeugung, auf das antike Troja gestoßen zu sein. Calvert kaufte Land rund um den Hisarlik auf und begann sogar mit ersten Grabungen, die jedoch wortwörtlich im Sande verliefen. Calverts Mittel sind am Ende und so versucht er, Schliemann zu überzeugen, eigene Grabungen dort vorzunehmen. Der Deutsche nutzt Calvert als Informationsquelle aus und gibt bald die Entdeckung Trojas sowie die Idee, dort zu graben, als die seine aus.