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Der Fabeldichter Äsop nahm sich einmal die Zeit und besuchte eine Schiffswerft. Als aber die Schiffbauer ihn verspotteten und ihn zu einer Antwort herausforderten, sagte Äsop: »In alter Zeit hat es nur Chaos und Wasser gegeben; Zeus aber wollte auch die Erde in ihrer Substanz sichtbar werden lassen; er forderte sie deshalb auf, dreimal das Meer auszuschlürfen. Als sie damit angefangen hatten, erschienen zuerst die Berge; nach dem zweiten Schlürfen tauchten auch die Ebenen auf. Wenn es euch passt und noch zum dritten Mal das Wasser austrinkt, wird eure Kunst wertlos sein.« Die Geschichte veranschaulicht, dass diejenigen, die, ohne es zu merken, Überlegene verspotten, durch diese ziemlich großen Schaden erleiden. Oben auf einem Felsen saß ein Adler und spähte nach Hasen aus. Da schoss einer auf ihn: Der Pfeil durchbohrte ihn, und der rückwärtige Teil des Pfeiles mit den Federn stand ihm vor den Augen. Da sprach er: »Das ist zusätzliches Leid, dass meine eigenen Federn mich töten.« Dies zeigt, wie schlimm es ist, wenn einen die Seinigen gefährden. Adler und Fuchs schlossen Freundschaft miteinander. Sie entschieden sich, nahe beieinander zu wohnen. Das gemeinsame Leben sollte die Vertrautheit festigen. Der Adler flog auf einen sehr hohen Baum und brütete dort seine Jungen aus; der Fuchs kroch in ein darunter liegendes Gebüsch und brachte dort seine Kinder zur Welt. Aber eines Tages ging der Fuchs auf Nahrungssuche. Da stieß der Adler, weil er kein Futter hatte, in das Gebüsch hinab, raubte die Jungen und verzehrte sie gemeinsam mit seinen eigenen Jungen. Als der Fuchs zurückkam und sah, was passiert war, war er über den Tod seiner Kinder genauso verbittert wie über seine Hilflosigkeit; denn weil er am Boden lebte, konnte er einen Vogel nicht verfolgen. Deshalb trat er von dem Baum weit zurück und verfluchte den Feind, was den Schwachen und Machtlosen als einzige Möglichkeit bleibt. Doch es traf sich, dass er auf die Bestrafung für den Verrat der Freundschaft nicht lange warten musste. Denn als irgendwelche Leute auf dem Feld eine Ziege opferten, stieß der Adler herab, nahm vom Altar ein noch glimmendes Stück der Eingeweide des Opfertieres und trug es zu sich hinauf. Als er es in sein Nest geschafft hatte, kam plötzlich ein heftiger Wind auf und entfachte aus dem leichten und dürren Reisig eine helle Flamme. Daraufhin verbrannten die Jungen – denn sie waren noch nicht flügge – und fielen auf die Erde. Der Fuchs lief herbei und verzehrte sie alle vor den Augen des Adlers. Die Geschichte lehrt, dass diejenigen, die die Freundschaft verraten, auch wenn sie der Bestrafung durch die Geschädigten entgehen, weil diese dazu nicht in der Lage sind, der Rache der Götter auf keinen Fall entkommen. Anmerkung: Der Lyriker Archilochos (um 680-645) verwendete diese Fabel, um sich an seinem verhinderten Schwiegervater Lykambes zu rächen. Dieser hatte Archilochos seine Tochter Neobule versprochen, sein Versprechen aber nicht eingelöst. Der Adler geriet einstens in Gefangenschaft. Der Mann, der ihn gefangen hatte, stutzte ihm die Flügel und hielt ihn im Hause bei den Hühnern. Doch der Adler blieb stolz, einem König gleich, den man in Fesseln warf, und mochte vor Trauer keine Nahrung anrühren. Schließlich kaufte ihn ein anderer; der ließ dem Adler die Flügel wachsen, salbte sie mit Öl und erlaubte ihm, frei herumzufliegen. Da erhob sich der Vogel in die Lüfte, packte mit seinen Fängen einen Hasen und brachte ihn seinem Herrn zum Geschenk. Das sah der Fuchs und sprach zu dem Adler: »Nicht dem da gib, sondern dem ersten! Denn dieser ist von Natur aus gut; jenen aber musst du dir geneigt machen, dass er dir, fängt er dich ein zweites Mal, nicht wieder die Federn nehme!« Den Wohltätern soll man Gutes mit Gutem vergelten, die Bösen durch Klugheit umstimmen. Ein Adler stieß von einem hohen Felsen hinab und raubte ein Lamm. Eine Dohle sah ihm dabei zu und wollte es ihm gleichtun. Daraufhin flog sie mit rauschenden Flügeln auf den Rücken eines Widders. Aber ihre Krallen verfingen sich in seinem dichten Fell. Sie kam nicht mehr los und flatterte so lange, bis der Hirte, der sah, was geschah, eilig herkam und die Dohle fing. Dann stutzte er ihr die Flügel, und als der Abend kam, brachte er sie seinen Kindern. Als sie fragten, was das für ein Vogel sei, erwiderte er: »Wie ich mit Sicherheit weiß, ist es eine Dohle, wie sie es sich aber wünscht, ein Adler.« So bringt der Wettstreit mit Überlegenen außer der Erfolglosigkeit und dem Schaden auch noch Spott ein. Eine Schildkröte sah einen Adler fliegen und wollte selbst auch einmal fliegen. Sie ging zu ihm hin und bat ihn, ihr um jeden Preis das Fliegen beizubringen. Er aber sagte, dies sei unmöglich. Und als sie ihn noch weiter drängte und bat, hob er sie empor und hoch in den Lüften ließ er sie auf einen Felsen fallen. Durch diesen Sturz zerbrach sie und starb. Die Geschichte zeigt, dass viele Menschen sich selbst mit ihren ehrgeizigen Plänen schaden. Ein Adler verfolgte einen Hasen. Der fand aber niemanden, der ihm hätte helfen können. Da sah er einen Mistkäfer, der ihm im rechten Augenblick begegnete, und bat ihn um Hilfe. Der aber sprach ihm Mut zu, als er den Adler heran fliegen sah; er forderte diesen auf, ihm seinen Schützling nicht wegzunehmen. Der Adler aber verachtete die Kleinheit des Mistkäfers und fraß den Hasen vor dessen Augen auf. Der Mistkäfer aber vergaß das erlittene Unrecht nicht und beobachtete fortwährend den Adlerhorst, und jedes Mal, wenn der Adler Eier legte, kam der Mistkäfer nach oben, wälzte die Eier aus dem Nest und ließ sie zerbrechen, bis der Adler, der nirgendwo mehr einen Platz zum Brüten fand, bei Zeus Zuflucht suchte – ist er doch der heilige Vogel des Gottes – und ihn bat, ihm einen Platz für eine sichere Aufzucht seiner Jungen zu gewähren. Da ließ ihn Zeus seine Eier in seinen Schoß legen. Der Mistkäfer sah dies, machte eine Kugel aus Mist, flog nach oben und dort angekommen legte er sie Zeus in den Schoß. Als Zeus aber aufstand, weil er den Mist von sich abschütteln wollte, ließ er aus Versehen auch die Eier fallen. Von der Zeit an – so heißt es – brüten die Adler nicht, solange die Mistkäfer fliegen. Die Geschichte lehrt: Man soll niemanden unterschätzen und bedenken, dass niemand so machtlos ist, dass er sich nicht rächen kann, wenn er einmal schlecht behandelt wurde. In einer Versammlung der vernunftlosen Tiere erwarb sich der Affe großes Ansehen und wurde von ihnen zum König gewählt. Der Fuchs aber beneidete ihn darum. Als er in irgendeinem Netz ein Stück Fleisch hängen sah, führte er den Affen dorthin und sagte, er habe einen Schatz gefunden. Er selbst brauche ihn nicht, habe ihn aber dem Affen als Ehrengabe für seine Königswürde aufgehoben. Er bitte ihn darum, den Schatz anzunehmen. Als der Affe ohne zu zögern an die Falle herantrat, sich in der Falle verfing und dem Fuchs vorwarf, er habe ihn reingelegt, sagte der Fuchs zum Affen: »Du Affe, mit einer solchen Einstellung willst du der König der vernunftlosen Tiere sein?« So ziehen sich diejenigen, die sich ohne Überlegung auf etwas einlassen, außer dem Unglück auch noch den Spott zu. Ein Affe saß auf einem hohen Baum, als er sah, wie Fischer ihr Netz auswarfen. Er beobachtete, was sie taten. Als jene das Netz einzogen und dann in einiger Entfernung ihr Frühstück einnahmen, stieg der Affe vom Baum und versuchte, dasselbe zu tun. Denn man sagt, er sei ein Lebewesen, das andere nachahmen könne. Er nahm das Netz in die Hand. Als er sich darin verfing, sagte er zu sich selbst: »Ach, das geschieht mir recht. Denn warum habe ich versucht zu fischen, ohne etwas davon zu verstehen.?« Die Geschichte zeigt, dass die Beschäftigung mit Dingen, von denen man nichts versteht, nicht nur sinnlos, sondern auch gefährlich ist. In einer Versammlung der vernunftlosen Tiere stand ein Affe auf und tanzte. Als er dafür sehr viel Beifall bekam und von allen gelobt wurde, wurde ein Kamel neidisch und wollte dasselbe erreichen. Deshalb stand es auf und versuchte ebenso zu tanzen. Weil es aber viel Unfug machte, ärgerten sich die Tiere, schlugen es mit Stöcken und trieben es fort. Die Geschichte passt auf diejenigen, die aus Neid mit Größeren in einen Wettstreit treten und dann unterliegen. Der Löwe war alt geworden und konnte sich nicht mehr aus eigener Kraft seine Nahrung beschaffen. Er sah ein, dass er dies nur mit einer List bewerkstelligen könne. So begab er sich in seine Höhle, legte sich dort hin und tat so, als ob er krank sei. Und auf diese Weise packte er die Tiere, die zu ihm kamen, um ihn zu besuchen, und fraß sie auf. Nachdem er schon viele Tiere gefressen hatte, durchschaute der Fuchs dessen List und ging zu ihm. Und er trat in sicherem Abstand vor den Eingang der Höhle und fragte, wie es ihm gehe. Der Löwe antwortete: »Schlecht.« Dann fragte der Löwe nach dem Grund dafür, warum er nicht hereinkomme. Der Fuchs erwiderte: »Ja, ich wäre schon hineingegangen, wenn ich nicht die Spuren vieler anderer sehen würde, die hineingingen, während keiner herauskam.« So entgehen die vernünftigen Menschen den Gefahren, weil sie aufgrund bestimmter Anzeichen voraussehen. Ein alter Mann schlug einmal Holz, nahm es auf den Rücken und machte sich auf einen langen Weg. Weil ihn der Weg müde machte, legte er seine Last ab und rief nach dem Tod. Als der Tod erschien und wissen wollte, weshalb er ihn rufe, sagte der Mann: »Damit du meine Last auf deinen Rücken nimmst.« Die Geschichte zeigt, dass jeder Mensch an seinem Leben hängt, auch wenn es ihm sehr schlecht geht. Ein Fünfkämpfer wurde bei jeder Gelegenheit von seinen Mitbürgern wegen seiner Unfähigkeit beschimpft. Da begab er sich einmal eine Zeit lang ins Ausland. Dann kam er zurück und prahlte mit seinem Können. Er behauptete, er habe in anderen Städten viele große Leistungen vollbracht und sei auf Rhodos so weit gesprungen, wie es kein Olympiasieger jemals geschafft habe. Dafür – so behauptete er – könne er auch beliebig viele Zeugen aufbieten, wenn sie erst einmal hier seien. Einer der Anwesenden ergriff das Wort und sagte zu ihm: »Aber mein lieber Freund, wenn dies wahr ist, dann brauchst du doch keine Zeugen. Denn hier ist Rhodos; hier kannst du springen!« Die Geschichte zeigt folgendes: Wenn man etwas durch Taten beweisen kann, dann erübrigt sich jedes Wort darüber. Ein geldgieriger Angsthase fand einmal einen goldenen Löwen. Er sagte zu sich selbst: »Ich weiß nicht, was unter diesen Umständen mit mir geschehen wird. Ich bin wahnsinnig vor Angst und weiß nicht, was ich tun soll. Meine Habgier und meine Feigheit lassen mich auseinander brechen. Welcher Zufall oder welcher Dämon konnte einen goldenen Löwen erzeugen? Meine Seele kämpft mit sich selbst, wenn ich dies sehe. Sie liebt zwar das Gold, fürchtet aber das Werk aus Gold. Den Fund zu berühren, treibt mich mein Verlangen, mich zurückzuhalten mein Charakter. Ach, was für ein Zufall, der mir etwas gibt und nicht erlaubt, es anzunehmen! Ach Schatz, der du keine Freude bringst! Ach, du gnadenlose Gnade eines Gottes! Was soll ich tun? Wie soll ich damit umgehen? Welche Hilfe soll ich nutzen? Ich werde weggehen, um meine Angehörigen hierher zu bringen und sie durch Beteiligung am Gewinn zur Hälfte zu verpflichten, und ich selbst werde von weitem zusehen.« Die Geschichte passt auf einen Reichen, der es nicht wagt seinen Reichtum anzurühren. und zu nutzen. Ein Arzt ging hinter dem Sarg eines seiner Verwandten her und sagte zu denen, die ihm das letzte Geleit gaben, dieser Mensch wäre nicht gestorben, wenn er sich des Weines enthalten und ein Klistier gebraucht hätte. Einer von ihnen erwiderte ihm: »Ja, du hättest das jetzt, wo es nutzlos ist, nicht sagen dürfen, sondern du hättest es ihm damals sagen sollen, als er deinen Rat noch hätte befolgen können.« Die Geschichte zeigt, dass man seinen Freunden dann, wenn es erforderlich ist, helfen muss, aber nicht erst, nachdem ein Unglück geschehen ist, klug daherreden darf. Ein Astrologe ging jeden Abend ins Freie, um die Sterne zu beobachten. Und als er sich einmal in die Gegend vor der Stadt begab und ganz damit beschäftigt war, zum Himmel hinauf zu schauen, fiel er aus Versehen in einen Brunnen. Als er dann jammerte und um Hilfe rief, hörte ein Spaziergänger sein Geschrei. Er ging hin und erfuhr, was passiert war. Darauf sagte er zu ihm: »Lieber Mann, versuchst du, die Erscheinungen am Himmel zu durchschauen und siehst die Dinge auf der Erde nicht?« Diese Geschichte könnte man auf diejenigen Menschen anwenden, die sich besonders wichtig nehmen, aber nicht in der Lage sind, die alltäglichen Aufgaben der Menschen zu erledigen. Anmerkung: Die »Fabel« ist nicht nur hier überliefert: Vgl. auch Platon, Theaitetos 174a; Diogenes Laertios 1,34; Antipatros, Anthologia Palatina 7, 172. Ein Junge badete einmal in irgendeinem Fluss und drohte zu ertrinken. Aber er sah einen Wanderer und rief um Hilfe. Dieser aber warf dem Jungen seine Unvorsichtigkeit vor. Der Junge erwiderte ihm: »Ja, doch jetzt hilf mir und mach mir später Vorwürfe, wenn ich in Sicherheit bin.« Die Geschichte passt auf diejenigen, die selbst Anlass dazu geben, dass ihnen Unrecht getan wird. Ein Bauer war auf dem Lande alt geworden, und weil er lange nicht mehr in die Stadt gekommen war, bat er seine Leute, sie möchten ihn doch die Stadt sehen lassen. Die machten einen Wagen fertig und spannten ein paar Esel davor. »Du brauchst sie nur anzutreiben«, sagten die Verwandten, »sie werden dich dann schon ans Ziel bringen.« Als jedoch ein Sturm aufkam, der den Himmel verfinsterte, verloren die Esel den Weg und verirrten sich an einen abschüssigen Ort. Da erkannte der Bauer die Gefahr, die ihm drohte, und rief: »O Zeus, was habe ich dir Böses getan, dass ich so zugrunde gehen muss, und das nicht durch edle Pferde und auch nicht durch respektable Maultiere, sondern durch elende Esel!« Dass es besser ist, anständig zu sterben als ehrlos zu leben, beweist diese Fabel. Ein Bauer lag im Sterben und wollte seine Söhne noch einmal in die Landwirtschaft einweisen. Er rief sie also zu sich und sagte: »Meine Söhne, in einem meiner Weinberge liegt ein Schatz vergraben.« Nach seinem Tode nahmen sie Harken und Spaten und gruben ihren ganzen Bauernhof um. Aber sie fanden den Schatz nicht. Der Weinberg aber brachte ihnen eine vielfach größere Ernte. Die Geschichte zeigt, dass die anstrengende Arbeit ein Schatz für die Menschen ist. Eine Schlange kroch an den Sohn eines Bauern heran und tötete ihn. Der Bauer wurde von diesem Unglück tief getroffen. Er nahm eine Axt, begab sich zum Schlupfloch der Schlange und lauerte ihr auf, um sie, wenn es ihm möglich wäre, sofort zu erschlagen. Die Schlange aber konnte ausweichen. Als der Bauer seine Axt hatte niederfahren lassen, verfehlte er zwar die Schlange, spaltete aber einen daneben liegenden Stein. Daraufhin nahm er sich sehr vor ihr in acht und schlug ihr vor, sich mit ihm zu versöhnen. Sie aber sagte zu ihm: »Aber ich kann weder freundlich zu dir sein, wenn ich den gespaltenen Stein sehe, noch du zu mir, wenn du auf das Grab deines Sohnes blickst.« Die Geschichte zeigt, dass tiefe Feindschaft nicht so ohne weiteres eine Versöhnung möglich macht. Ein Bauer wurde auf seinem Hof vom Winter überrascht. Weil er den Hof nicht mehr verlassen konnte, um sich Nahrung zu beschaffen, aß er zuerst seine Schafe. Der Winter dauerte aber an. Da aß er auch noch seine Ziegen. Die Lage änderte sich nicht. Da musste er sich auch noch an seinen Zugtieren vergreifen. Die Hunde sahen, was geschah, und sagten zueinander: »Wir müssen fort von hier. Denn wieso sollte der Herr uns schonen, wenn er nicht einmal von seinen Helfern, den Zugtieren, die Hände ließ?« Die Geschichte zeigt, dass man sich vor allem vor denen in acht nehmen muss, die nicht einmal davor zurückscheuen, ihren Angehörigen Unrecht zu tun. Ein Bauer fand ein Goldstück, während er in der Erde grub. Er legte deshalb jeden Tag einen Kranz auf die Erde, als ob sie ihm etwas Gutes getan hätte. Da trat die Schicksalsgöttin an ihn heran und fragte: »Mein lieber Freund, warum tust du so, als ob du der Erde meine Geschenke verdanktest, die ich dir gegeben habe, weil ich dich reich machen wollte? Denn wenn sich die Zeiten ändern und dich wieder in schlimme Armut bringen, dann wirst du nicht die Erde, sondern die Schicksalsgöttin tadeln.« Die Geschichte lehrt uns, dass man seinen Wohltäter erkennen und ihm danken muss. Der Biber ist ein Tier mit vier Füßen, das im Sumpf lebt. Es heißt, dass seine Geschlechtsteile zur Behandlung bestimmter Krankheiten nützlich sind. Wenn ihn nun jemand entdeckt hat und verfolgt, weiß er, wozu er verfolgt wird. Er flieht dann zwar ein Stück weit, indem er sich der Schnelligkeit seiner Füße bedient, um sich mit seinem ganzen Körper in Sicherheit zu bringen. Sobald er aber gefangen zu werden droht, reißt er sich seine Geschlechtsteile ab, wirft sie dem Verfolger vor die Füße und rettet auf diese Weise sein Leben. So gibt es auch unter den Menschen Vernünftige, denen man wegen ihres Geldes nachstellt. Sie verzichten darauf, um ihre Sicherheit nicht zu gefährden. Ein armer Mann wurde krank, und es ging ihm sehr schlecht. Da gelobte er, den Göttern ein Opfer von hundert Rindern darzubringen, wenn sie ihn retteten. Die Götter wollten ihn auf die Probe stellen und ließen ihn ganz schnell wieder gesund werden. Und er kam tatsächlich wieder auf die Beine. Weil er aber keine echten Rinder besaß, formte er hundert Rinder aus Wachs, verbrannte sie auf einem Altar und sagte: »Nehmt die Erfüllung meines Versprechens an, ihr Götter!« Die Götter aber wollten ihn dafür auf ihre Weise hereinlegen und schickten ihm einen Traum: Sie rieten ihm, an den Strand zu gehen; denn dort werde er eintausend Drachmen finden. Dort fiel er dann Räubern in die Hände und wurde fortgebracht. Er wurde von ihnen verkauft und fand auf diese Weise eintausend Drachmen. Die Geschichte passt auf einen Betrüger. Ein Blinder hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jedes Tier, das man ihm in die Hände legte, zu betasten und dann zu sagen, was es für ein Tier sei. Einmal gab man ihm einen jungen Wolf. Er betastete ihn, war sich aber nicht sicher und sagte: »Ich weiß es nicht, ob es das Junge eines Wolfes, eines Fuchses oder eines ähnlichen Tieres ist. Doch weiß ich genau, dass es nicht günstig ist, dieses Tier in eine Schafherde zu lassen.« So lässt sich auch das Wesen böser Menschen oft an ihrer äußeren Erscheinung erkennen. Seeleute nehmen gewöhnlich Malteserhündchen und Affen mit an Bord, um auf ihrer Seereise Abwechslung zu haben. So nahm denn auch einer einen Affen mit, als er in See stechen wollte. Als sie an das Kap Sunion (das ist das Vorgebirge der Athener) kamen, geschah es, dass ein heftiger Sturm aufkam. Nachdem das Schiff gekentert war, und alle um ihr Leben schwammen, schwamm auch der Affe mit. Ein Delphin sah ihn, glaubte, es sei ein Mensch, nahm ihn auf seinen Rücken und schwamm mit ihm zum Festland. Als er in die Nähe des Piräus, des Hafens der Athener, kam, fragte er den Affen, ob er ein Athener sei. Als der Affe daraufhin sagte, er habe dort auch berühmte Vorfahren, fragte ihn der Delphin als zweites, ob er den Piräus kenne. Weil er glaubte, er meine einen Menschen, behauptete er, es sei sein vertrauter Freund. Da ärgerte sich der Delphin über dessen Lüge, tauchte unter und ließ ihn ertrinken. Die Geschichte passt gut auf einen Lügner. Ein Dieb kehrte in einer Herberge ein. Dort blieb er ein paar Tage, auf eine Gelegenheit wartend, etwas zu stehlen; aber es fand sich keine. Eines Tages nun bemerkte er, dass der Wirt einen schönen, neuen Rock trug – es war nämlich ein Festtag – und sich vor der Tür der Herberge niederließ; sonst jedoch war niemand da. Also trat der Dieb hinzu, setzte sich zu dem Wirt und zog diesen ins Gespräch. Und als sie schon eine gute Weile erzählten, riss er plötzlich den Mund weit auf, und im selben Augenblick, in dem er den Mund aufriss, heulte er wie ein Wolf. Auf die Frage des Wirtes: »Was ist mit dir los?« antwortete der Dieb: »Das will ich dir gleich erklären; aber ich bitte dich, pass auf meine Sachen auf! Die werde ich nämlich hier lassen. Also, lieber Herr, ich weiß nicht, woher diese Maulsperre kommt, ob von meinen Sünden oder aus welcher Ursache sonst, ich kann es nicht sagen – jedenfalls, wenn ich jetzt dreimal das Maul aufreiße, dann verwandle ich mich in einen menschenfressenden Wolf.« Bei diesen Worten riss er zum zweiten Male den Mund auf und heulte wieder wie das erste Mal. Indem der Wirt, der dem Dieb Glauben schenkte, das vernahm, wurde ihm angst, und er erhob sich und wollte davonlaufen. Doch der Dieb fasste ihn am Rock und bat ihn drängend: »Bleib doch, lieber Herr, und nimm meine Sachen, damit sie mir nicht verloren gehen!« Und während er so bat, öffnete er den Mund und begann zum dritten Male zu heulen. Voller Angst, gefressen zu werden, ließ der Wirt seinen Rock, lief eilends in die Herberge und brachte sich im innersten Winkel in Sicherheit. Der Dieb aber nahm den begehrten Rock und ging seiner Wege. So ergeht es denen, die Unwahres glauben. Ein Junge nahm in der Schule die Schreibtafel eines Mitschülers weg und brachte sie seiner Mutter. Aber sie verzichtete nicht nur darauf, ihn zu bestrafen, sondern lobte ihn sogar dafür. Beim zweiten Mal stahl er einen Mantel und brachte ihn der Mutter, und sie begrüßte dies noch mehr. Die Zeit verging, und als er ein junger Mann geworden war, versuchte er, noch größere Dinge zu stehlen. Aber dann wurde er schließlich auf frischer Tat ertappt, gefesselt und zum Henker gebracht. Die Mutter begleitete ihn und schlug sich vor Trauer auf die Brust. Da sagte der junge Mann: »Ich will meiner Mutter etwas ins Ohr sagen.« Als sie sofort an ihn herantrat, haschte er nach ihrem Ohr und biss es ab. Als sie ihm daraufhin vorwarf, dass er keinen Respekt vor ihr habe, sagte er: »Aber wenn du mich damals, als ich als erstes die Schreibtafel stahl und sie dir brachte, bestraft hättest, dann wäre ich nicht bis hierher gekommen, um hingerichtet zu werden.« Die Geschichte veranschaulicht, dass alles, was am Anfang nicht verhindert wird, sich immer mehr vergrößert. Ein Fuchs sah einen Eber seine Hauer an einem Eichstamme wetzen und fragte ihn, was er da mache, da er doch keine Not, keinen Feind vor sich sehe? »Wohl wahr«, antwortete der Eber, »aber gerade deswegen rüste ich mich zum Streit; denn wenn der Feind da ist, dann ist es Zeit zum Kampf, nicht mehr Zeit zum Zähnewetzen.« Bereite dich im Glück auf das künftige Unglück; sammle und rüste in guten Tagen auf die Schlimmern. Ein Löwe kam auf den Hof eines Bauern. Weil der Bauer ihn fangen wollte, verschloss er die Hoftür. Als der Löwe nicht hinauskommen konnte, tötete er zuerst die Schafe, dann wandte er sich auch den Rindern zu. Und weil der Bauer Angst um sich selbst hatte, öffnete er das Tor. Nachdem der Löwe freigekommen war, hörte die Frau den Bauern klagen und sagte: »Aber du hast doch nur das bekommen, was gerecht ist. Denn warum wolltest du den Löwen einschließen, vor dem du seit langer Zeit Angst haben musstest?« So erdulden diejenigen, die sich mit stärkeren anlegen, mit Recht die von ihnen ausgehenden Schandtaten. Ein Eisvogel ist ein Vogel, der die Einsamkeit liebt und deshalb immer am Meer lebt. Es heißt, er niste auf Meeresklippen, um sich so vor der Verfolgung durch die Menschen zu schützen. Und als er einmal brüten wollte, flog er zu einem Berg, der ins Meer hineinragte, erblickte einen Felsen am Meer und baute dort sein Nest. Als er aber einmal ausflog, um Futter zu suchen, geschah es, dass das Meer von einem gewaltigen Sturm aufgewühlt wurde und bis zur Höhe des Nestes anstieg. Es überspülte das Nest, und die Jungen kamen um. Als der Eisvogel zurückkam und sah, was geschehen war, sagte er: »Ach, was für ein Unglück! Ich mied das Land, weil ich es für gefährlich hielt, und zog mich aufs Meer zurück, das sich als noch unzuverlässiger erwies.« So geht es auch manchen Menschen, die sich vor ihren Feinden schützen wollen, aber nicht merken, dass sie sich Freunden ausliefern, die noch viel schlimmer sind als ihre Feinde. Ein Mann kaufte einen Esel, aber nicht gleich endgültig, sondern er machte eine Probezeit aus. Als er mit ihm in seinen Hof kam, wo schon mehrere Esel teils bei der Arbeit, teils bei der Abfütterung waren, ließ er ihn frei laufen. Sogleich trottete der Neue zu dem faulsten und gefräßigsten Gefährten und stellte sich zu ihm an die Futterkrippe. Da legte ihm der Mann den Strick wieder um den Hals und brachte ihn dem bisherigen Besitzer zurück. »So schnell kannst du ihn doch gar nicht erprobt haben«, wunderte sich der. »O mir genügt, was ich gesehen und erfahren habe: Nach der Gesellschaft, die er sich ausgesucht hat, ist er ein übler Bursche!« Ein Eseltreiber trieb einen Esel vor sich her. Als sie ein kleines Stück des Weges vorangekommen waren, verließ der Esel den bequemen Pfad und kletterte einen steilen Abhang hinab. Als er dann aber abzurutschen drohte, packte der Eseltreiber ihn am Schwanz und versuchte, den Esel in die richtige Richtung zu drehen. Als sich dieser aber heftig dagegen wehrte, ließ er ihn los und sagte: »Behalte nur die Oberhand! Denn du trägst einen schlechten Sieg davon.« Die Geschichte passt gut auf einen Menschen, der um jeden Preis die Oberhand behalten will. Ein Esel und ein Fuchs lebten lange freundschaftlich zusammen und gingen auch miteinander auf die Jagd. Auf einem ihrer Streifzüge kam ihnen ein Löwe so plötzlich in den Weg, dass der Fuchs fürchtete, er könne nicht mehr entfliehen. Da nahm er zu einer List seine Zuflucht. Mit erkünstelter Freundlichkeit sprach er zum Löwen: »Ich fürchte nichts von dir, großmütiger König! Kann ich dir aber mit dem Fleische meines dummen Gefährten dienen, so darfst du nur befehlen.« Der Löwe versprach ihm Schonung, und der Fuchs führte den Esel in eine Grube, in der er sich fing. Brüllend eilte nun der Löwe auf den Fuchs zu und ergriff ihn mit den Worten: »Der Esel ist mir gewiss, aber dich zerreiße ich wegen deiner Falschheit zuerst.« Den Verrat benutzt man wohl, aber den Verräter liebt man doch nicht. Ein Esel und ein Fuchs schlossen ein Bündnis miteinander und gingen auf die Jagd. Als ihnen zufällig ein Löwe begegnete, erkannte der Fuchs die drohende Gefahr, lief auf den Löwen zu und versprach, ihm den Esel auszuliefern, wenn er ihm die eigene Sicherheit garantiere. Als der Löwe ihm gesagt hatte, dass er ihn in Ruhe lasse, führte der Fuchs den Esel an eine Fallgrube und ließ ihn hineinstürzen. Als dann der Löwe sah, dass der Esel nicht weglaufen konnte, packte er zuerst den Fuchs und machte sich dann ebenso über den Esel her. So merken oft diejenigen, die ihre Freunde hintergehen, nicht, dass sie sich selbst zugrunde richten. Ein Esel diente einem Gärtner. Da er zwar wenig zu fressen bekam aber viel Böses zu erdulden hatte, betete er zu Zeus, dass er ihn von dem Gärtner befreie und einem anderen Herrn überlasse. Zeus schickte daraufhin Hermes und ließ ihn dem Gärtner befehlen, den Esel einem Töpfer zu verkaufen. Dort hatte der Esel aber erneut Übles zu erdulden. Als er gezwungen wurde, noch viel größere Lasten zu tragen und Zeus um Hilfe anrief, brachte Zeus den Gerber dazu, ihn zu kaufen. Als dann der Esel sah, was sein Herr tat, sagte er: »Ach, es war erstrebenswerter für mich, bei meinem früheren Herren Lasten zu tragen und zu hungern als hier zu bleiben, wo ich, wenn ich einmal sterbe, nicht einmal ein Begräbnis bekommen werde.« Die Geschichte zeigt, dass die Sklaven sich dann besonders nach ihren früheren Herren zurücksehnen, wenn sie andere erlebt haben. Der Esel und der Hund hatten den gleichen Weg. Da fanden sie auf der Erde ein versiegeltes Schriftstück. Das hob der Esel auf, erbrach das Siegel, faltete das Blatt auseinender und las den Text dem Hunde vor. Über Weideangelegenheiten handelte das Schriftstück, das heißt über Grünfutter, Gerste und Spreu. Verdrießlich nahm der Hund zur Kenntnis, was der Esel vorzutragen hatte. Schließlich unterbrach er ihn: »Sieh doch einmal ein bisschen weiter unten nach, liebster Freund, ob du da nicht etwas über Fleisch und Knochen ausgesagt findest!« Der Esel ging das ganze Schriftstück durch, ohne finden zu können, wonach der Hund gesucht hatte; da entgegnete dieser: »Wirf das Papier fort, mein Lieber; es ist gänzlich ohne Bedeutung!« Auf einer Wiese weidete ein Esel, der sich den Rücken wund geschunden hatte. Dies sah ein Rabe, flog auf den Esel zu, setzte sich auf dessen Rücken und fing an, mit dem Schnabel in das rohe Fleisch zu picken. Dies schmerzte den Esel sehr, und obgleich er sich bemühte, den lästigen Gast los zu werden, gelang es ihm nicht. Wenige Schritte davon lag sein Hüter, der mit einem Worte den Raben hätte vertreiben können. Der aber ergötzte sich an den tollen und possierlichen Sprüngen und Gesichtern, welche der Esel von Schmerz getrieben machte, und lachte laut dazu. »Oh!« rief der Esel aus, »jetzt fühle ich wirklich meine Schmerzen doppelt, weil mich auch der verlacht, der mir helfen könnte und sollte.« Ein Esel mit einem Geschwür auf dem Rücken weidete auf irgendeiner Wiese. Ein Rabe setzte sich auf ihn und pickte in dem Geschwür herum. Der Esel bäumte sich vor Schmerz auf und sprang in die Höhe. Weiter entfernt stand der Eseltreiber und lachte. Ein Wolf kam hinzu, sah dies und sprach zu sich selbst: »Wir unseligen Wölfe, die wir schon verfolgt werden, wenn man uns nur von weitem sieht, aber über diesen Esel, lachen sie dazu auch noch.« Die Geschichte veranschaulicht, dass die schlechten Menschen auch von weitem schon als solche erkennbar sind. Ein Esel durchquerte mit einer Ladung Holz einen See. Er rutschte aber aus, und als er hingefallen war, konnte er nicht mehr aufstehen. Er jammerte und klagte. Die Frösche in dem See hörten sein Gejammer und sagten: »Freund, was würdest du denn tun, wenn du schon so lange wie wir hier lebtest, wo du doch gerade erst gestürzt bist und schon so heftig klagst?« Diese Geschichte könnte jemand, der selbst die meisten Mühen ohne weiteres auf sich nimmt, auf einen wehleidigen Menschen anwenden, der schon über die geringsten Anstrengungen klagt. Ein Esel hörte Grillen zirpen und freute sich über den Wohlklang. Als er aber ihr Singen nachzuahmen versuchte, fragte er sie, welche Nahrung sie zu sich nähmen, um so zirpen zu können. Sie aber antworteten: »Tau.« Der Esel ernährte sich daraufhin nur von Tau und verhungerte. So geraten auch diejenigen in größtes Unglück, die nach etwas streben, was gegen ihre Natur ist, abgesehen davon, dass sie es nicht erreichen. Ein Bauer hatte einen Esel und eine Ziege. Weil nun der Esel sehr viel arbeiten und große Lasten tragen musste, erhielt er ein reichlicheres und besseres Futter als die Ziege. Diese beneidete den Esel, und um ihn um die bessere Kost zu bringen, oder doch wenigstens ihm Schläge einzutragen, sprach sie eines Tages zu ihm: »Höre, lieber Freund! Oft schon habe ich dich von Herzen bedauert, dass du Tag für Tag die schwersten Lasten tragen und vom Morgen bis Abend arbeiten musst; ich möchte dir wohl einen guten Rat geben.« »Warum nicht?« sagte der Esel, »ich bitte dich sogar darum!« »Nun, so höre: Wenn du an eine Grube kommst, so stürze dich hinein, stelle dich verletzt, und dann wirst du längere Zeit Ruhe haben und nichts arbeiten dürfen.« Dem Esel schien dies ein ganz guter Vorschlag, und kaum war er anderntags mit einer Last bei einer Grube angekommen, als er auch schon den Rat befolgte. Wie aus Zufall trat er fehl und stürzte hinein. Aber das hatte er sich nicht gedacht! Halb tot lag er da und dass er sich nicht ein Bein gebrochen, war ein Glück. Ganz geschunden wurde er herausgeholt und konnte sich kaum nach Hause schleppen. Sein Herr hatte nichts Eiligeres zu tun, als zu einem Vieharzt zu schicken, der dann verordnete: der Kranke solle eine frische, pulverisierte Ziegenlunge einnehmen. Da dem Herrn der Esel mehr wert war als die Ziege, so ließ er diese sofort schlachten, um den Esel zu retten. So büßte die Ziege für ihren bösen Rat mit dem Leben. Die Folgen des Neides gereichen nicht selten dem Neider selbst zum Verderben. Ein Eseltreiber legte einem Esel und einem Maultier Lasten auf und trieb sie vorwärts. Solange der Weg eben war, konnte der Esel das Gewicht aushalten. Als man aber ins Gebirge kam, war er nicht mehr imstande, die Last zu tragen, und bat das Maultier, ihm einen Teil seiner Last abzunehmen, um selbst den übrigen Teil weiter tragen zu können. Das Maultier aber hörte nicht auf die Worte des Esels. Darauf brach dieser zusammen und verendete. Der Eselstreiber sah keine andere Möglichkeit: Er lud dem Maultier nicht nur die Last des Esels auf, sondern packte auch noch das Fell des Esels dazu. Weil das Maultier jetzt keine geringe Last auf dem Rücken hatte, sprach es zu sich selbst: »Das geschieht mir recht. Denn wenn ich mich hätte erweichen lassen, als mich der Esel bat, ihm ein wenig zu entlasten, müsste ich jetzt nicht zusammen mit seiner Last auch noch ihn selbst tragen.« So verlieren oft auch manche Gläubiger aus Geldgier sogar die gesamte Summe, wenn sie sich weigern, ihren Schuldnern einen kleinen Teil nachzulassen. Der Esel und das Maultier zogen denselben Weg. Als der Esel merkte, dass sie beide die gleichen Lasten hatten, wurde er ärgerlich und beklagte sich darüber, dass das Maultier, welches das doppelte Futter bekäme, nicht mehr zu tragen brauche. Sie waren nur wenig weitergegangen, da merkte der Treiber, dass der Esel nicht mehr tragen konnte, und nahm ihm etwas von seiner Last und legte sie dem Maultier auf. Und als sie wieder ein Stück weitergekommen waren, sah er, dass der Esel sich immer mehr erschöpfte, und entlastete ihn aufs neue, bis er schließlich alles von dem Esel fortgenommen und statt dessen dem Maultier auferlegt hatte. Da blickte dieses auf den Esel und sagte zu ihm: »Nun, Kamerad, scheint dir es jetzt berechtigt, dass man mir doppeltes Futter zubilligt?« So müssen auch wir die Lage eines jeden nicht vom Ausgangspunkt, sondern vom Ergebnis her beurteilen. Ein Esel, der nach der größten Anstrengung nicht einmal Streu genug erhielt, um seinen Hunger zu stillen, und unter seiner schweren Bürde kaum noch fort kriechen konnte, hielt ein schönes, prächtig geschmücktes Pferd für glücklich, weil es so gut und im Überfluss gefüttert würde. Ach, wie sehr wünschte er mit diesem Tiere tauschen zu können. Allein nach einigen Monaten erblickte er dasselbe Pferd lahm und abgezehrt an einem Karren. »Ist dies Zauberei?« fragte er. »Beinahe«, antwortete traurig das Pferd; eine Kugel traf mich, mein Herr stürzte mit mir und verkaufte mich zum Dank um ein Spottgeld; lahm und kraftlos, wie ich jetzt bin, wirst du gewiss nicht mehr mich beneiden und mit mir tauschen wollen.« Wie oft das größte Glück Zerstört ein Augenblick! Ein Fischer, der sein Netz zum Fang im Meer auswarf, bemächtigte sich der großen Fische und brachte sie an Land; die kleinen aber schlüpften durch die Maschen und entkamen ins Meer. Leicht retten sich die, die nicht zu prominent sind; die hohen Würdenträger aber sieht man nur selten dem Strafgericht entgehen. (???) Ein Fischer fischte in einem Fluss. Er spannte seine Netze von beiden Flussufern durch den Fluss, band einen Stein an ein Tau und schlug damit ins Wasser, damit die Fische auf der Flucht ins Netz gerieten, ohne es zu merken. Ein Anlieger beobachtete ihn bei dieser Tätigkeit und schalt ihn, weil er den Fluss trübe und ihn kein klares Wasser mehr trinken ließe. Der aber sprach: »Wird der Fluss nicht so aufgewirbelt, so müsste ich Hungers sterben.« So strengen sich auch im Staate die Demagogen dann am meisten an, wenn sie ihr Land in Bürgerzwist stürzen. Ein Fischer ließ sein Netz ins Wasser und holte eine Sardelle herauf. Sie aber flehte in an, sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu verschonen, da sie doch noch so klein sei, und sie später, wenn sie erst einmal groß sei, zu größerem Nutzen zu fangen. Da sagte der Fischer: »Ich wäre doch verrückt, wenn ich das, was ich bekommen und in meinen Händen habe, losließe und mich einer ungewissen Hoffnung hingäbe.« Die Geschichte zeigt, dass der gegenwärtig vorhandene Gewinn, auch wenn er klein ist, dem erwarteten vorzuziehen ist, auch wenn dieser groß zu sein verspricht. Fischer, die hinausgefahren waren, um etwas zu fangen, und, obwohl sie sich lange Zeit abgemüht hatten, nichts fangen konnten, saßen mutlos in ihrem Boot. Da sprang ein Thunfisch, der verfolgt und mit gewaltigem Zischen aus dem Wasser geschleudert wurde, aus Versehen in den Kahn. Die Fischer packten ihn und gingen in die Stadt, um ihn zu verkaufen. So schenkt oft das Glück, was die Kunst nicht schafft. Ein Fischer, der Flöte blasen konnte, nahm seine Flöte und seine Netze und ging zum Meer. Er stellte sich auf einen Felsvorsprung und spielte zunächst ein Lied. Denn er glaubte, dass die Fische von selbst aus dem Wasser springen würden, um den lieblichen Klang zu hören. Aber obwohl er sich sehr anstrengte, hatte er keinen Erfolg. Er warf seine Flöte weg, nahm das Netz, schleuderte es in das Wasser hinab und fing viele Fische. Dann warf er sie aus dem Netz heraus auf den Strand, und als er sie zappeln sah, sagte er: »Ach, ihr elendsten Geschöpfe, als ich Flöte blies, wolltet ihr nicht tanzen, jetzt aber, wo ich damit aufgehört habe, tut ihr es.« Anmerkung: Dieselbe Fabel lässt Herodot von Halikarnass (480/490-424) den siegreichen Perserkönig Kyros erzählen. (I, I4I, I-3 und 4 Anfang) Es sprang einmal ein Floh auf den Fuß eines aufgeblasenen Athleten, tanzte auf ihm herum und versetzte ihm einen Biss. Der Athlet war außer sich vor Wut, näherte sich dem Floh mit seinen Fingerspitzen und hätte ihn fast zerdrückt. Der Floh konnte sich aber in Sicherheit bringen, machte einen gewaltigen Sprung und entkam. So entrann er dem Tod. Der Athlet seufzte daraufhin: »Ach, Herakles, wenn du mich so wenig gegen einen Floh unterstützt, wie wirst du mir dann gegen meine tatsächlichen Gegner helfen?« Aber auch uns lehrt die Geschichte, dass es nicht nötig ist, bei den wirklich unbedeutenden und ungefährlichen Dingen einfach die Götter zu Hilfe zu rufen, sondern nur bei größeren Schwierigkeiten. Der Fluss sah in der Spiegelung ein Fell, das dahin getragen wurde, und fragte es, wie es sich nenne. »Trocken«, war die Antwort. Da überspülte es der Fluss mit einer Woge und sagte: »Du musst nach einer anderen Benennung suchen; ich werde dich nämlich sogleich weich machen.« Die Fabel beweist, dass sich die Dinge leicht in den gleichen Naturzustand bringen lassen. Ein Frosch stritt mit einer Ratte um einen Sumpf. Der Frosch behauptete, dass er ihn mit dem größten Rechte besitze; die Ratte hingegen, dass er ihr gehöre und dass der Frosch ihr denselben abtreten müsse. Dieser wollte aber nichts davon hören, und so gerieten sie bei diesem Streite hart aneinander. Wie viel besser hätten sie getan, wenn sie sich verglichen hätten; denn in der Hitze des Streites hatten sie nicht auf die Weihe geachtet, welche in der Ferne gelauert hatte, nun über die Kämpfer herfiel und beide zerriss. Wenn sich zwei Schwache zanken, so endigt oft ein dritter, Mächtigerer zu seinem Vorteil den Streit. Ein Fuchs und ein Affe gingen auf derselben Straße und stritten darüber, wer aus einer besseren Familie stamme. Beide redeten ausführlich darüber. Als sie aber an einigen Gräbern vorbeikamen, schaute der Affe dorthin und stöhnte laut auf. Der Fuchs fragte nach dem Grund dafür. Da zeigte der Affe auf die Grabmäler und sagte: »Soll ich denn nicht weinen, wenn ich die Grabsteine von Freigelassenen und Sklaven meiner Väter sehe?« Da sagte der Fuchs zum Affen: »Lüge nur, so viel du willst. Denn keiner von ihnen wird aufstehen und dir widersprechen.« So prahlen auch unter den Menschen die Lügner dann vor allem, wenn sie niemanden haben, der ihnen widersprechen kann. Ein Bock und ein Fuchs gingen in der größten Hitze miteinander über die Felder und fanden, von Durst gequält, endlich einen Brunnen, jedoch kein Gefäß zum Wasserschöpfen. Ohne sich lang zu bedenken, sprangen sie, der Bock voraus, hinunter und stillten ihren Durst. Nun erst begann der Bock umherzuschauen, wie er wieder herauskommen könnte. Der Fuchs beruhigte ihn und sagte: »Sei guten Mutes Freund, noch weiß ich Rat, der uns beide retten kann. Stelle dich auf deine Hinterbeine, stemme die vorderen gegen die Wand und recke den Kopf recht in die Höhe, dass die Hörner ganz aufliegen, so kann ich leicht von deinem Rücken hinausspringen und auch dich retten.« Der Bock tat dies alles ganz willig. Mit einem Sprung war der Fuchs gerettet und spottete nun des Bocks voll Schadenfreude, der ihn hingegen mit Recht der Treulosigkeit beschuldigte. Endlich nahm der Fuchs Abschied und sagte: »Ich sehe schlechterdings keinen Ausweg zu deiner Rettung, mein Freund. Höre aber zum Dank meine Ansicht: Hättest du so viel Verstand gehabt als Haare im Bart, so wärest du nie in diesen Brunnen gestiegen, ohne auch vorher zu bedenken, wie du wieder herauskommen könntest.« Vorgetan und nachbedacht, hat manchen in groß Leid gebracht. Als ein Fuchs, der an einer Mauer hochstieg, herabzustürzen drohte, suchte er Halt in einem Dornbusch. Er verletzte sich dabei an der Fußsohle, regte sich furchtbar darüber auf und warf dem Dornbusch vor, dass er ihn, obwohl er bei ihm Zuflucht und Hilfe gesucht habe, übel zugerichtet habe. Da ergriff der Dornbusch das Wort und sagte: »Du bist wohl verrückt geworden, du seltsamer Vogel, dass du dich an mir festhalten wolltest, der ich selbst mich an allem festzuhalten pflege.« So gibt es auch unter den Menschen Toren, die bei denen Zuflucht und Hilfe suchen, die eher zum Unrecht tun veranlagt sind. Als ein Fuchs auf der Flucht vor Jägern einen Holzfäller sah, bat er diesen, ihn zu verstecken. Der Holzfäller forderte ihn auf, in seine Hütte zu gehen, um sich dort zu verstecken. Kurze Zeit später kamen die Jäger und fragten den Holzfäller, ob er gesehen habe, dass ein Fuchs bei ihm vorbeigelaufen sei. Der Holzfäller sagte zwar, er habe ihn nicht gesehen, zeigte aber mit der Hand dorthin, wo er sich versteckt hatte. Da sie aber seinen Wink nicht beachteten, aber seinen Worten glaubten, sah der Fuchs, dass sie fort gegangen waren, kroch aus seinem Versteck heraus und machte sich davon, ohne ein Wort zu sagen. Als ihm der Holzfäller vorhielt, dass er zwar von ihm gerettet worden sei, ihm dies aber mit keinem Wort gedankt habe, erwiderte der Fuchs: »Ich hätte dir meine Dankbarkeit gezeigt, wenn das, was deine Hand tut, deinen Worten entspräche.« Diese Geschichte könnte man auf solche Menschen anwenden, die das Gute zwar laut verkünden, aber in Wirklichkeit das Böse tun. Fuchs und Leopard stritten darüber, wer der Schönste sei. Als der Leopard bei jeder Gelegenheit den bunten Schmuck seines Körpers ins Spiel brachte, erwiderte der Fuchs: »Und wie viel schöner als du bin ich doch, der ich zwar kein buntes Fell, aber doch einen bunt geschmückten Verstand habe.« Die Geschichte zeigt, dass der Schmuck der Vernunft wertvoller ist als der Schmuck des Körpers. Ein Fuchs hatte einen Storch zu Gaste gebeten, und setzte die leckersten Speisen vor, aber nur auf ganz flachen Schüsseln, aus denen der Storch mit seinem langen Schnabel nichts fressen konnte. Gierig fraß der Fuchs alles allein, obgleich er den Storch unaufhörlich bat, es sieh doch schmecken zu lassen. Der Storch fand sich betrogen, blieb aber heiter, lobte außerordentlich die Bewirtung und bat seinen Freund auf den andern Tag zu Gaste. Der Fuchs mochte wohl ahnen, dass der Storch sich rächen wollte, und wies die Einladung ab. Der Storch ließ aber nicht nach, ihn zu bitten, und der Fuchs willigte endlich ein. Als er nun anderen Tages zum Storche kam, fand er alle möglichen Leckerbissen aufgetischt, aber nur in langhalsigen Geschirren. »Folge meinem Beispiele«, rief ihm der Storch zu, »tue, als wenn du zu Hause wärest.« Und er schlürfte mit seinem Schnabel ebenfalls alles allein, während der Fuchs zu seinem größten Ärger nur das Äußere der Geschirre belecken konnte und nur das Riechen hatte. Hungrig stand er vom Tische auf und gestand zu, dass ihn der Storch für seinen Mutwillen hinlänglich gestraft habe. Was du nicht willst, dass man dir tu' das füg' auch keinem anderen zu. Ein Fuchs hatte Hunger. Als er an einem Weinstock Trauben hängen sah, wollte er sie haben und konnte es nicht. Er gab auf und sagte zu sich selbst: »Sie sind noch nicht reif.« So ist es auch bei manchen Menschen: Wenn sie aus Unfähigkeit etwas nicht erreichen können, machen sie die äußeren Umstände dafür verantwortlich. Ein Fuchs war in einen Brunnen gefallen. Er blieb zwangsläufig dort unten, weil er nicht hinaufsteigen konnte. Ein durstiger Ziegenbock trat an eben diesen Brunnen heran. Er sah den Fuchs und fragte, ob das Wasser gut sei. Der Fuchs begrüßte die Gelegenheit und lobte das Wasser sehr. Er sagte, dass es gut sei, und forderte ihn so denn auch auf herunterzusteigen. Als er aber unbesorgt hinunter sprang, weil er in diesem Augenblick nur von seiner Gier getrieben war, und als er seinen Durst gelöscht hatte und zusammen mit dem Fuchs überlegte, wie sie wieder nach oben kämen, sagte der Fuchs, er habe sich etwas ausgedacht, das ihrer beider Rettung dienlich sei. »Wenn du nämlich deine Vorderbeine an die Wand stemmen und auch deine Hörner nach oben strecken willst, dann werde ich über deinen Rücken hochsteigen und dich herausziehen.« Als der Ziegenbock der wiederholten Aufforderung schließlich bereitwillig nachkam, sprang der Fuchs an seinen Beinen hoch, stieg auf seinen Rücken und gelangte von diesem über die Hörner an die Öffnung des Brunnens. Nachdem er heraufgestiegen war, wollte er sich davonmachen. Aber der Ziegenbock beschimpfte ihn, weil er die Vereinbarungen nicht einhielt. Da drehte er sich um und sagte: » Ach, du, wenn du so viel Verstand hättest wie Haare in deinem Bart, dann wärst du nicht hinab gestiegen, bevor du nicht an den Aufstieg gedacht hättest.« So müssen auch unter den Menschen die Vernünftigen die Folgen ihres Handelns bedenken, bevor sie es in Angriff nehmen. Ein Fuchs und ein Krokodil stritten darüber, wer von ihnen aus der besseren Familie stamme. Während das Krokodil vieles über den Ruhm seiner Vorfahren erzählte und schließlich noch erwähnte, dass seine Väter Leiter von Ringerschulen waren, ergriff der Fuchs das Wort und sagte: »Ach, wenn du es auch nicht selbst sagst, an deiner Haut lässt du erkennen, dass du viel Sport getrieben hast.« So ist es auch bei den Menschen: Die Tatsachen widerlegen diejenigen, die die Unwahrheit sagen. Ein Fuchs hatte in einer Falle seinen Schwanz verloren. Weil er dies für eine Schande hielt, glaubte er, sein Leben sei so nicht mehr lebenswert. Er hielt es deshalb für nötig, auch die anderen Füchse in dieselbe Lage zu bringen, um seinen eigenen Verlust zu verbergen, wenn alle gemeinsam ihn erlitten. Er rief sie also alle zusammen und forderte sie auf, ihre Schwänze abzuschneiden. Er sagte, der Schwanz sei nicht nur unpassend, sondern hänge auch als ein überflüssiges Gewicht an ihnen. Aber einer der Anwesenden rief: »Was soll das? Wenn dir dies nicht selbst passiert wäre, dann hättest du es uns nicht empfohlen.« Diese Geschichte passt zu solchen Leuten, die ihren Mitmenschen nicht mit guter Absicht, sondern zu ihrem eigenen Vorteil Ratschläge geben. Ein Fuchs schlich sich in eine Schafherde ein. Die Schafe waren gerade dabei, ihre Lämmer zu säugen. Da packte sich der Fuchs ein Lamm und tat so, als ob er es streichle. Ein Hund fragte ihn: »Was machst du da?« Er erwiderte: »Ich kümmere mich um das Lamm und spiele mit ihm.« Da sagte der Hund: »Aber wenn du das Lamm jetzt nicht loslässt, werde ich das tun, was Hunde gewöhnlich mit dir machen.« Die Geschichte passt auf einen ebenso leichtsinnigen wie dummen Dieb. Ein Jäger war einstens einem Löwen auf der Spur. Und als er einen Holzhauer fragte, ob er nicht die Fährte des Löwen gesehen habe und wisse, wo sich sein Lager befinde, erhielt er zur Antwort: »Nicht nur das; ich kann dir sogar den Löwen zeigen. «Da erbleichte der Jäger vor Angst, die Zähne klapperten ihm, und er rief: »Ach, ich suche bloß die Fährte, nicht den Löwen selber.« Gegen die feigen Prahler richtet sich die Fabel, auf die, welche mit Worten viel wagen, aber nicht mit Taten. Als ein Gärtner gerade sein Gemüse bewässerte, trat jemand an ihn heran und fragte ihn, warum die wilden Salatpflanzen so üppig gediehen und so kräftig waren, die angepflanzten aber so schwach und welk. Da erwiderte der Gärtner: »Die Erde ist für die wilden Pflanzen die Mutter, für die angepflanzten die Stiefmutter.« So gedeihen auch die Kinder, die von einer Stiefmutter aufgezogen werden, nicht genauso wie diejenigen, die ihre eigene Mutter haben. Der Hund eines Gärtners fiel in einen Brunnen. Weil er ihn herausholen wollte, stieg er zu ihm in den Brunnen hinab. Aber da der Hund nicht wusste, in welcher Absicht sein Herr zu ihm kam, und glaubte, er solle von ihm ersäuft werden, biss er ihn. Darüber war der Mann sehr erbost und rief: »Ja, mir ist recht geschehen. Denn warum habe ich versucht, dich aus der gefährlichen Lage zu befreien, da du dich doch selbst in die Tiefe gestürzt hast?« Für einen Menschen, der undankbar ist und seinen Wohltätern Schaden zufügt. Ein Geiziger machte sein gesamtes Vermögen zu Geld, kaufte sich einen Klumpen Gold und vergrub diesen außerhalb seines Hauses. Ununterbrochen ging er zu der Stelle hin und sah sie sich an. Aber einer von denen, die in der Nähe dieser Stelle ihre Arbeit taten, beobachtete sein ständiges Kommen und Gehen und argwöhnte den wahren Grund für dieses Verhalten. Als der Geizige sich einmal entfernt hatte, hob der Arbeiter das Gold aus der Erde. Als der Mann aber zurückkam und den Platz leer vorfand, jammerte er und raufte sich die Haare. Jemand sah ihn in seinem übermäßigen Schmerz, erfuhr den Grund und sagte: »Sei nicht traurig, mein Freund, sondern nimm einen Stein, lege ihn an dieselbe Stelle und stelle dir vor, dass dein Gold dort liegt. Denn damals, als es noch dort lag, hast du es doch auch nicht gebraucht.« Die Geschichte veranschaulicht, dass Besitz wertlos ist, wenn nicht auch der Gebrauch hinzukommt. Ein Granatapfelbaum und ein Apfelbaum stritten sich darüber, wer die meisten Früchte trage. Als aber der Streit schon voll entbrannt war, hörte dies ein Brombeerstrauch aus der Hecke ganz in der Nähe und sagte: »Ach, liebe Freunde, hören wir doch endlich auf zu streiten!« So versuchen auch die weniger Bedeutenden gegen die Streitigkeiten der Höhergestellten einzuschreiten. Ein hungriger Hahn scharrte auf einem Misthaufen nach Fruchtkörnern und fand einen Diamanten. Unmutig stieß er ihn beiseite und rief aus: »Was nützt einem Hungrigen ein kostbarer Stein; sein Besitz macht wohl reich, aber nicht satt. Wie gerne würde ich diesen Schatz um nur einige Gerstenkörner geben.« Das Stücklein Brot, das dich ernährt, ist mehr als Gold und Perlen wert. Jemand hatte einen Halbgott bei sich im Haus und brachte ihm reichlich Opfer dar. Als er dies ununterbrochen unter hohem Aufwand betrieb und viel Geld für die Opfergaben aufwandte, trat der Halbgott nachts an ihn heran und sprach: »Ja, lieber Freund, hör doch auf damit, dein Vermögen zu vergeuden. Denn wenn du alles verbraucht hast und arm geworden bist, wirst du mir die Schuld daran geben.« So sind viele Menschen durch ihre eigene Dummheit unglücklich. Die Schuld daran, schieben sie den Göttern zu. Ein hinterlistiger Mann wettete mit jemandem, dass das Orakel in Delphi eine falsche Auskunft geben werde. Zum festgesetzten Termin griff er sich einen Hahn, versteckte ihn unter seinen Mantel, ging zum Tempel, stellte sich vor das Bild des Gottes und fragte, ob er etwas in den Händen halte, was atme oder was nicht atme. Wenn das Orakel sagen sollte »was nicht atmet«, wollte er den Hahn lebend vorzeigen, wenn es aber sagen sollte »was atmet«, wollte er ihm erst den Hals umdrehen und dann vorzeigen. Der Gott durchschaute die List des Mannes und sprach: »Lieber Freund, lass das! Es liegt bei dir, dass das, was du bei dir hast, entweder tot oder lebendig ist.« Ein Hirsch hatte Durst und kam zu einer Quelle. Während er trank und sein eigenes Spiegelbild im Wasser sah, gefiel ihm sein Geweih besonders gut. Er blickte bewundernd auf seine Größe und Vielfalt. Über seine Beine aber ärgerte er sich, weil sie ihm dünn und schwach vorkamen. Als er noch darüber nachdachte, tauchte ein Löwe auf und griff ihn an. Der Hirsch wandte sich zur Flucht und gewann einen großen Vorsprung. Solange es sich um eine baumlose Ebene handelte, konnte der Hirsch laufen und in Sicherheit bleiben. Als er aber in waldiges Gelände kam, da passierte es, dass er nicht mehr weiter laufen konnte und vom Löwen gepackt wurde, weil sich sein Geweih in den Zweigen verfing. Kurz vor seinem Tode sagte er zu sich selbst: »Ich bin wirklich zu bedauern! Denn ich konnte mich mit dem retten, wodurch ich mich verraten fühlte. Umgekommen bin ich aber durch das, worauf ich besonders vertraute.« So sind oft schon Freunde, denen man nicht besonders vertraut, zu Rettern geworden, während sich diejenigen, denen man mehr vertraute, als Verräter erwiesen. Ein Hirsch war auf dem einen Auge blind. Er kam an einen Strand und weidete dort. Dabei richtete er sein gesundes Auge auf das Land, weil er mit der Ankunft der Jäger rechnen musste. Sein blindes Auge war dem Meer zugewandt. Denn er erwartete von dort keine Gefahr. So fuhren denn Leute mit dem Boot an jener Stelle vorbei. Und als sie den Hirsch sahen, erlegten sie ihn. Und als er starb, sagte er noch zu sich selbst: »Ich Unglücklicher, habe ich mich doch vor dem Land in Acht genommen, weil ich es für gefährlich hielt; viel gefährlicher aber war das Meer für mich, bei dem ich Zuflucht suchte.« So erweist sich oft das anscheinend Schlimme gegen unsere Erwartung als nützlich, während das, was einem hilfreich vorkommt, Verderben bringt. Ein Hirsch war vor Jägern auf der Flucht. Er gelangte zu einer Höhle, in der sich ein Löwe befand. Dort ging er hinein, um sich zu verstecken. Als er von dem Löwen gepackt und zerfleischt wurde, sagte er: »Ich Unglücklicher! Während ich vor den Menschen die Flucht ergriff, lieferte ich mich einem wilden Tier aus.« So begeben sich auch manche Menschen aus Angst vor kleineren Gefahren in größeres Unglück. Ein Hirsch wurde von Jägern verfolgt. Er versteckte sich unter einen Weinstock. Als die Jäger schon weitergegangen waren, fraß er die Blätter des Weinstockes. Aber einer der Jäger drehte sich um, sah den Hirsch und traf und verwundete ihn mit seinem Speer, den er bei sich hatte. Kurz vor seinem Tod klagte der Hirsch und sagte zu sich selbst: »Es geschieht mir recht, weil ich dem Weinstock, der mich rettete, Unrecht tat.« Diese Geschichte könnte über Menschen erzählt werden, die von Gott bestraft werden, weil sie ihren Wohltätern Unrecht tun. Ein Hirte besaß einen sehr großen Hund. Diesem hatte er beigebracht, ihm die neugeborenen Lämmer und die todkranken Schafe zu bringen. Als nun einmal die Herde nach Hause kam, sah der Hirte, wie der Hund auf die Schafe zuging und sie freundlich begrüßte. Da sagte er zu ihm: »Ach, mein Lieber, was du willst, soll ihnen um deinetwillen geschehen!« Die Geschichte passt auf einen Schmeichler. Ein Hirte trieb seine Schafe in einen Eichenwald. Als er eine sehr hohe Eiche voll von Eicheln erblickte, breitete er darunter seinen Mantel aus, stieg auf den Baum und schüttelte die Früchte des Baumes herunter. Die Schafe verzehrten die Eicheln und fraßen unversehens auch den Mantel mit. Der Hirte stieg vom Baum herunter. Als er sah, was passiert war, sagte er: »Ihr bösen Tiere, den anderen Menschen gebt ihr eure Wolle für ihre Kleidung, mir aber, eurem Ernährer, habt ihr sogar den Mantel weggenommen.« So tun auch viele Menschen aus Unkenntnis denen, die ihnen gar nicht nahe stehen, Gutes und gegen ihre Angehörigen handeln sie schlecht. Ein Hirte, der einen erst kurz geworfenen jungen Wolf gefunden hatte, nahm ihn mit sich und zog ihn mit seinen Hunden auf. Als derselbe herangewachsen war, verfolgte er, sooft ein Wolf ein Schaf raubte, diesen auch zugleich mit den Hunden. Da aber die Hunde den Wolf zuweilen nicht einholen konnten und deshalb wieder umkehrten, so verfolgte ihn jener allein und nahm, wenn er ihn erreicht hatte, als Wolf ebenfalls teil an der Beute; hierauf kehrte er zurück. Wenn jedoch kein fremder Wolf ein Schaf raubte, so brachte er selbst heimlich eines um und verzehrte es gemeinschaftlich mit den Hunden, bis der Hirte, nach langem hin- und her raten das Geschehene inneward, ihn an einen Baum aufhängte und tötete. Die Fabel lehrt, dass die schlimme Natur keine gute Gemütsart aufkommen lässt. Nachdem ein Hirte junge Wölfe gefunden hatte, zog er sie fürsorglich mit auf. Denn er glaubte, dass sie, wenn sie erst erwachsen seien, nicht nur seine Schafe bewachen, sondern auch fremdes Eigentum rauben und ihm bringen würden. Sobald sie aber ausgewachsen waren, verloren sie jede Scheu und rissen zuerst seine Schafherde. Obwohl er darüber jammerte und klagte, gestand er sich ein: »Ach, das geschieht mir recht. Warum habe ich sie, als sie noch ganz klein waren, gerettet? Es war doch zu erwarten, dass sie, sobald sie groß wären, zu Mördern würden.« So ergeht es denen, welche die Bösen retten und nicht merken, dass er sich nur selbst Schaden zufügt, wenn er sie unterstützt. Ein Hirte weidete seine Schafe an einem Ort in der Nähe des Meeres. Als er das Meer ruhig und friedlich vor sich sah, wollte er zur See fahren. Deshalb verkaufte er seine Schafe, erwarb Purpurschnecken und belud ein Schiff. Dann stach er in See. Es kam ein furchtbares Unwetter auf, und das Schiff kenterte. Er verlor alles und konnte sich mit Mühe an Land retten. Darauf wurde das Meer wieder ruhig. Als er jemanden sah, der an Land den Frieden des Meeres pries, sagte er: »Ach, lieber Freund, das ist nur deshalb so, weil das Meer Lust auf deine Purpurschnecken hat.« So bringen oft die schlimmen Erfahrungen die vernünftigen Menschen zur Einsicht. Ein Hirte trieb seine Herde in eine Gegend, die ziemlich weit entfernt war von seinem Dorf. Er machte sich dabei fortwährend den folgenden Scherz: Er rief die Dorfbewohner zu Hilfe und sagte, dass Wölfe seine Schafe angriffen. Als aber die Leute aus dem Dorf zweimal und dreimal aufgeschreckt wurden und zu ihm liefen, dann aber mit Gelächter wieder fortgeschickt wurden, geschah es, dass am Ende wirklich Wölfe kamen. Als aber seine Herde von den Wölfen fortgetrieben wurde und er um Hilfe rief, vermuteten jene, dass er wie gewöhnlich seinen Scherz treibe, und kümmerten sich nicht darum. Und so geschah es, dass er seine Schafe verlor. Die Geschichte veranschaulicht, dass die Lügner nur diesen einen Gewinn haben: Dass man ihnen nicht mehr glaubt, auch wenn sie die Wahrheit sagen. Einem Holzfäller fiel die Axt in einen Fluss. Als aber die Strömung die Axt fort trug, setzte er sich an das Ufer und jammerte, bis Hermes Mitleid bekam und zu ihm hinging. Nachdem der Gott den Grund seines Weinens erfahren hatte, tauchte er zuerst in den Fluss, brachte ihm eine goldene Axt und fragte ihn, ob es seine Axt sei. Er aber verneinte es. Beim zweiten Mal holte er eine silberne Axt nach oben und fragte ihn wieder, ob er diese verloren habe. Als er dies verneinte, brachte er ihm beim dritten Mal seine eigene Axt. Als der Holzfäller sie erkannt hatte, schenkte Hermes ihm alle drei als Anerkennung für seine Redlichkeit. Der Mann nahm die Äxte an sich, und als er zu seinen Freunden kam, erzählte er ihnen, was geschehen war. Aber einer von ihnen wurde neidisch und hatte den Wunsch, das Gleiche zu bekommen. Deshalb nahm er seine Axt und ging zu denselben Fluss. Beim Holzfällen ließ er die Axt absichtlich in die Strömung fallen, setzte sich hin und weinte. Als Hermes erschien und ihn fragte, was ihm geschehen sei, erwähnte er den Verlust seiner Axt. Als Hermes ihm eine goldene Axt heraufbrachte und fragte, ob er diese verloren habe, sagte er unter dem Eindruck des zu erwartenden Gewinns, dieses sei seine Axt. Aber der Gott tat ihm nicht den Gefallen, sondern gab ihm nicht einmal seine eigene Axt zurück. Die Geschichte zeigt folgendes: Wie sehr die Gottheit auch den Gerechten hilft, so sehr stellt sie sich den Ungerechten entgegen. Der Hund und der Hahn hatten Freundschaft miteinander geschlossen und unternahmen zusammen eine Wanderung. Als die Nacht hereinbrach, hatten sie gerade ein Waldgebiet erreicht. Da schwang sich der Hahn auf einen Baum und ließ sich in seinen Zweigen nieder, während der Hund unten in einer Höhlung des Baumes sein Lager fand. Nachdem die Nacht vorüber war und der Morgen anbrach, krähte der Hahn laut, wie es seine Gewohnheit war. Der Fuchs vernahm das Krähen, und weil es ihn gelüstete, den Hahn zu verspeisen, kam er heran, trat unter den Baum und rief jenem zu: »Ein guter Vogel bist du und nützlich für die Menschen. Komm doch herunter, damit wir das Morgenlied singen und uns gemeinsam daran erfreuen!« Doch der Hahn unterbrach ihn und sagte: »Geh, Freund, unten an die Wurzel des Baumes und ruf den Küster, damit er das Weckholz schlägt!« Als der Fuchs sich aufmachte, um den Hund zu rufen, da war der schon aufgesprungen, packte den Fuchs und zerriss ihn. Die Fabel beweist, dass es den klugen Menschen ebenso geht. Wenn denen etwas Böses geschieht, wissen sie unschwer an ihren Feinden gebührend Rache zu nehmen. Ein Jagdhund erblickte einen Löwen und verfolgte ihn. Als der Löwe sich aber umdrehte und brüllte, bekam der Hund einen Schrecken und floh. Ein Fuchs sah ihn und sprach: »Du Schwachkopf, du hast einen Löwen verfolgt und kannst nicht einmal sein Gebrüll aushalten?« Die Geschichte könnte über selbstgefällige Menschen erzählt werden, die viel Mächtigere zu erpressen versuchen, und wenn jene sich zur Wehr setzen, sofort umfallen. Ein Jagdhund fing einen Hasen. Mal biss er ihn, mal leckte er seine Lippen. Der Hase schrie ihn an: »Ach, du Hund, hör endlich auf mich zu beißen oder zu küssen, damit ich erkenne, ob du mein Feind oder mein Freund bist!« Die Geschichte passt gut auf einen Menschen, der sich nicht entscheiden kann. Der Hund kam in eine Küche, und während der Koch gerade beschäftigt war, stahl er ein Herz und machte sich davon. Als der Koch sich umdrehte und ihn laufen sah, bemerkte er: »Wart nur, du Spitzbube, wo du auch sein magst, will ich mich vor dir in acht nehmen!« Die Fabel lehrt, dass aus Leiden den Menschen oftmals Lehren erwachsen. Ein Hund, der einem Reisenden zu folgen hatte, ließ sich ermüdet von dem beständigen Marschieren und der Hitze des Sommers, gegen Abend in der Nähe eines Teiches im feuchten Grase nieder, um zu schlafen. Kaum war er eingeschlafen, da begannen die Frösche nahebei so, wie sie es gewöhnt waren, zu gleicher Zeit ihr Quakkonzert. Das verdross den Hund, der darüber erwacht war, sehr; doch er glaubte, wenn er sich dem Wasser nähere und die Frösche anbelle, würde er sie von ihrem Gequake abbringen und selber wieder ruhig schlafen können. Aber sooft er das auch tat, es nützte ihm nichts, so dass er sich schließlich erzürnt zurückzog. »Ach«, rief er aus, »ich müsste ja noch dümmer sein als ihr, wenn ich Leute, die von Natur aus schwatzhaft und böse sind, zu einer urbanen, humanen Lebensform zu erziehen trachte!« Die Fabel lehrt, dass verworfene Menschen, auch wenn sie ungezählte Male ermahnt werden, nicht einmal auf ihre nächste Umgebung Rücksicht nehmen. Ein Hund, der gern Eier ausschlürfte, riss, als er eine Schnecke mit ihrem Haus erblickte, sein Maul breit auf und verschlang beide unter erheblichem Würgen, glaubte er doch, es handle sich um ein Ei. Die ungewöhnliche Speise lag ihm schwer im Magen und bereitete ihm Schmerzen. Da sagte er: »Mit Recht muss ich das aushalten; denn warum habe ich alles, was rund ist, als Ei angesehen?« Die Fabel lehrt uns, dass die, welche unüberlegt etwas in Angriff nehmen, sich unversehens in Widersprüche verstricken. Ein Hund brachte vor Gericht vor, er habe dem Schaf Brot geliehen; das Schaf leugnete alles, der Kläger aber berief sich auf drei Zeugen, die man vernehmen müsste, und brachte drei bei. Der erste dieser Zeugen, der Wolf, behauptete, er wisse gewiss, dass der Hund dem Schaf Brot geliehen habe; der zweite, der Habicht, sagte, er sei dabei gewesen; der dritte, der Geier, hieß das Schaf einen unverschämten Lügner. So verlor das Schaf den Prozess, musste alle Kosten tragen und zur Bezahlung des Hundes Wolle von seinem Rücken hergeben. Wenn sich Kläger, Richter und Zeugen wider jemand vereinigt haben, so hilft die Unschuld nichts. Man sagt, dass zur Zeit, als die Tiere noch sprechen konnten, das Schaf zu seinem Herrn geredet habe: »Du tust sonderbar daran, dass du uns, die wir dir Wolle, Käse und Lämmer schenken, nichts gibst, als was wir uns auf der Erde selbst suchen, dem Hunde aber, der dir nichts dergleichen gewährt, von jeder Speise mitteilst, die du selbst hast.« Als der Hund dies hörte, soll er gesagt haben: »Beim Jupiter, ich bin es ja, der dich und deine Gefährten bewacht, damit ihr nicht von Dieben gestohlen oder vom Wolfe zerrissen werdet. Denn ihr würdet, wenn ich euch nicht bewachte, nicht einmal in Ruhe weiden können.« Hierauf soll es auch das Schaf recht und billig gefunden haben, dass der Hund ihm vorgezogen wurde. Es kam jemand zu einem Imker, als dieser nicht zu Hause war, und stahl ihm den Honig und das Wachs. Der Imker kam zurück und sah, dass die Bienenstöcke leer waren. Er blieb dort stehen und untersuchte die Bienenstöcke. Als die Bienen von ihrer Nahrungssuche zurückkamen und ihn bei den Bienenstöcken antrafen, stachen sie ihn mit ihren Stacheln und richteten ihn übel zu. Und er sagte zu Ihnen: »Ihr schrecklichen Tiere, ihr habt den, der euch euer Wachs gestohlen hat, ungeschoren gelassen, mich aber, der sich um euch kümmert, stecht ihr?« So nehmen sich auch manche Menschen aus Unkenntnis nicht vor ihren Feinden in acht, stoßen aber ihre Freunde von sich, als ob sie ihnen Übles tun wollten. Als eine Mutter das Orakel wegen ihres Sohnes, der noch ein Kleinkind war, befragte, sagten ihr die Seher voraus, dass er von einem Raben getötet werde. Deshalb ließ sie einen sehr großen Kasten bauen, worin sie den Jungen einsperrte. So sorgte sie dafür, dass er nicht von einem Raben getötet wurde. Und sie machte es sich zur Gewohnheit, den Kasten zu festgelegten Zeiten zu öffnen und ihrem Kind die erforderliche Nahrung zu reichen. Als sie den Kasten einmal öffnete und den Deckel rasch wieder schloss, bückte sich der Junge unerwartet. So geschah es, dass der »Rabe« (der Riegel) des Kastens gegen die Stirn des Jungen stieß und ihn tötete. Die Geschichte veranschaulicht, dass man sich einer Weissagung nicht entziehen kann. Anmerkung: Das griechische Wort »Korax« für »Rabe« bezeichnet nicht nur den Vogel, sondern auch den »Riegel«. Ein Junge jagte draußen vor der Mauer Heuschrecken. Er fing sie in großer Zahl. Als er einen Skorpion sah, hielt er ihn für eine Heuschrecke. Er streckte die Hand nach ihm aus und war im Begriff, im selben Augenblick zuzupacken. Der Skorpion streckte seinen Stachel nach oben und sagte: »Wenn du dies tust, dann fürchte ich, wirst du nicht nur die Heuschrecken, die du gesammelt hast verlieren.« Diese Geschichte lehrt uns, dass man sich nicht allen Guten und Bösen auf dieselbe Weise nähern darf. Ein Glatzkopf trug beim Reiten eine Perücke. Der Wind blies sie ihm vom Schädel; und die Zuschauer lachten. Er hielt an und sagte: Wäre es ein Wunder, wenn mir fremdes Haar entflieht, wenn es auch den verlassen hat, mit dem es geboren wurde?« So soll sich niemand über Ungemach beklagen, denn was der Sterbliche nicht von der Natur empfing, bleibt ihm nicht, und nackt sind wir alle zur Welt gekommen, und nackt werden wir sie verlassen. In irgendeinem Haus gab es viele Mäuse. Ein Kater erfuhr davon und kam dorthin, fing eine nach der anderen und fraß sie auf. Als die Mäuse aber zunehmend weniger wurden, zogen sie sich in ihre Löcher zurück, und weil der Kater nicht mehr an sie herankommen konnte, erkannte er, dass er sie nur mit einer List herauslocken könne. Deshalb kletterte er auf eine Holzstange, ließ sich von dort herunterhängen und tat so, als ob er tot sei. Eine der Mäuse wagte sich hervor, und als sie den Kater sah, sagte sie: »Mein Lieber, auch wenn du jetzt ein leerer Sack geworden bist, werde ich nicht zu dir heraus kommen.« Die Geschichte zeigt, dass sich vernünftige Menschen nicht mehr durch Vortäuschung falscher Tatsachen beeindrucken lassen, wenn sie die Bosheit gewisser Leute erfahren. haben. Ein furchtsamer alter Mann hatte einen einzigen Sohn, der vortrefflich war. Den sah er in seinen Träumen, wie er, zur Jagd gehend, von einem Löwen getötet wurde. Aus Angst, der Traum könnte Wahrheit werden, baute der Alte ein hübsches Landhaus; dort brachte er seinen Sohn hin und stellte ihn unter Bewachung. Um den Sohn zu vergnügen, ließ er in dem Hause viele Arten von Tieren an die Wände malen, darunter auch einen Löwen. Doch je mehr der Sohn hinsah, um so größer wurde seine Betrübnis. Schließlich stellte er sich in die Nähe des Löwen und sagte: »Du böses Tier, deinetwegen und wegen des falschen Traumes meines Vaters wurde ich in diesem Hause eingesperrt wie in einem Gefängnis; was soll ich mit dir machen?« Und während er das sagte, schlug er mit der Faust auf die Wand, um den Löwen zu blenden. Da geriet ihm ein Splitter in den Finger und bewirkte dadurch eine Entzündung und Schwellung, Fieber kam hinzu und beförderte ihn alsbald zum Tode. So erledigte der Löwe den Knaben, ohne dass dem Vater seine List etwas nützte. Die Fabel beweist, dass niemand seinem Schicksal zu entgehen vermag. Als ein Köhler, der in seinem Haus arbeitete, einen Walker sah, der im Nebenhaus wohnte, forderte ihn auf, mit ihm zusammenzuwohnen, und sagte zu ihm, dass sie sich auf diese Weise näher kommen und billiger leben könnten, wenn sie nur eine Wohnung hätten. Der Walker ergriff das Wort und sagte: »Für mich ist das leider ganz unmöglich. Denn was ich weiß mache, wirst du wieder schwarz machen.« Die Geschichte zeigt, dass alles, was ungleich ist, nicht verbunden werden kann. Ein Kranker wurde von seinem Arzt gefragt, wie es ihm gehe. Da sagte er, er schwitze mehr als nötig. Der Arzt sagte, dass dies gut sei. Als er ein zweites Mal gefragt wurde, wie er sich fühle, antwortete er, er leide unter Schüttelfrost. Da sagte der Arzt wieder, das dies gut sei. Als er zum dritten Mal erschien und ihn über seine Krankheit befragte, sagte der Kranke, er leide unter Durchfall. Auch da sagte jener, das sei gut so, und zog sich zurück. Als aber einer seiner Verwandten zu ihm kam und sich nach seinem Befinden erkundigte, sagte er: »Ich gehe an lauter guten Befunden zugrunde.« So werden viele Menschen von ihren Angehörigen dem äußeren Anschein nach für die Dinge glücklich gepriesen, unter denen sie selbst am meisten leiden. Ein Krebs stieg aus dem Meer und lebte allein an einem Strand. Als ein hungriger Fuchs ihn sah und nichts zu fressen hatte, lief er zu ihm hin und packte ihn. Kurz bevor er gefressen wurde, sagte der Krebs: »Ja, es geschieht mir ganz recht, weil ich als Meeresbewohner Landbewohner werden wollte.« So ist es auch bei den Menschen, die ihre vertrauten Tätigkeiten aufgeben, das verfolgen, was nicht zu ihnen passt, und dadurch natürlich in ein Unglück geraten. Ein Feigling musste in den Krieg ziehen. Als aber die Raben krächzten, stellte er seine Waffen zur Seite und verhielt sich still; dann nahm er sie wieder auf und zog aufs neue los. Und als auch diesmal die Raben krächzten, hielt er wieder inne und sagte endlich: »Ihr mögt krächzen, so laut ihr nur könnt; mich werdet ihr jedenfalls nicht zu fressen bekommen.« Die Fabel bezieht sich auf sehr feige Leute. Ein Mann pflegte bei Nacht heimlich eine Dame zu besuchen und mit ihr zu huren. Sie verabredete als Erkennungszeichen mit ihm, dass er vor dem Tor wie ein kleines Hündlein bellen solle, worauf sie ihm die Tür öffnen würde: das tat er auch jedes Mal. Ein Anderer sah ihn abends jenes Weges gehen, und da er ihn als Spitzbuben kannte, folgte er ihm eines Nachts heimlich in einigem Abstand. Der Hurer ging nichts ahnend an das Tor und tat wie gewöhnlich; der ihm folgte, nahm alles wahr und ging wieder nach Hause. In der folgenden Nacht erhob er sich zuerst, ging zu der zur Hurerei bereiten Dame und bellte wie ein Hündchen. In der festen Meinung, es sei ihr Liebhaber, löschte sie ihr Licht, damit sie niemand sähe, und öffnete die Tür. Er ging hinein und schlief mit ihr. Nach kurzer Zeit erschien auch ihr voriger Buhler und bellte draußen wie gewöhnlich wie ein kleiner Hund. Der Mann aber, der schon drinnen war, hörte, wie der da draußenv wie ein Hündchen bellte, und antwortete drinnen mit lautem Gebell wie ein riesengroßer Hund. Da begriff der draußen, dass schon einer drinnen war, der größer war als er, und zog wieder ab. Ein Löwe, ein Esel und ein Fuchs schlossen sich zusammen und gingen gemeinsam aufv die Jagd. Als sie viel Beute gemacht hatten, befahl der Löwe dem Esel, unter ihnen die Beute zu teilen. Nachdem er sie in drei Teile geteilt hatte und ihn gebeten hatte, seine Auswahl zu treffen, geriet der Löwe in Zorn, ging auf ihn los und fraß ihn auf. Dann befahl er dem Fuchs zu teilen. Der Fuchs legte alles zusammen auf einen einzigen Haufen, legte für sich selbst nur einen ganz kleinen Teil beiseite und forderte den Löwen auf zu wählen. Als der Löwe ihn fragte, wer ihm gelehrt habe, so zu teilen, erwiderte der Fuchs: »Das unglückliche Geschick des Esels.« Die Geschichte veranschaulicht, dass das Unglück der Mitmenschen für die anderen Menschen eine Mahnung bedeutet. Ein Löwe und ein Esel schlossen ein Bündnis und gingen gemeinsam auf die Jagd. Sie kamen zu irgendeiner Höhle, in der sich wilde Ziegen befanden. Der Löwe legte sich am Eingang auf die Lauer, bis sie herauskamen, der Esel trat in die Höhle ein, rannte auf sie los und blähte sich mächtig auf, weil er sie erschrecken wollte. Als der Löwe die meisten Ziegen gefangen hatte, kam der Esel heraus und wollte von ihm wissen, ob er anständig gekämpft und die Ziegen mit Erfolg gejagt habe. Da erwiderte der Löwe: »Ja, du sollst wirklich wissen, dass auch ich Angst vor dir bekommen hätte, wenn ich nicht wüsste, dass du nur ein Esel bist!« So ernten auch die Menschen, die sich vor den Wissenden besonders aufspielen, natürlich nur Gelächter. Ein Löwe und ein Bär fanden einmal ein Rehkitz und stritten sich um die Beute. Sie fielen mit furchtbarer Gewalt übereinander her. Dann wurde es ihnen vor Anstrengung ganz schwindlig, und sie brachen halbtot zusammen. Ein Fuchs kam gerade vorbei, und als er sah, dass sie völlig erschöpft am Boden lagen und das Rehkitz in der Mitte kauerte, holte er sich dieses und verschwand. Die beiden Kämpfer, die sich noch nicht erheben konnten, riefen: »Wir Unglücklichen, dass wir uns für einen Fuchs so abgequält haben!« Die Geschichte veranschaulicht, dass jene sich aus gutem Grund ärgern, die mit ansehen müssen, wie jemand, der zufällig vorbeikommt, den Gewinn aus ihren Anstrengungen zieht. Ein Löwe irrte an einem Strand umher, als er einen Delphin sah, der ihm zuschaute. Er forderte diesen auf, ihm zu helfen. Er sagte, es füge sich besonders gut, wenn sie Freunde würden und sich gegenseitig Hilfe leisteten. Denn der Delphin sei der Herrscher über die Meerestiere, er selbst sei König der Tiere auf dem Land. Als der Delphin freudig zustimmte, rief der Löwe nicht viel später den Delphin zu Hilfe, weil er einen Kampf gegen einen wilden Stier zu bestehen hatte. Aber als jener, obwohl er es wollte, nicht aus dem Meer steigen konnte, warf ihm der Löwe vor, er sei ein Verräter. Da antwortete der Delphin: »Mach mir doch keine Vorwürfe, sondern eher meiner Natur, die mich zu einem Meerestier hat werden lassen und mich nicht auf das Land gehen lässt.« Aber es ist notwendig, dass auch wir, wenn wir Freundschaft schließen, solche Menschen zu Helfern wählen, die uns in Gefahren beistehen können. Zur Sommerzeit, da die Hitze einen Durst leiden lässt, kamen ein Löwe und ein Eber gleichzeitig zu einem kleinen Quell, um daraus zu trinken. Sie stritten darum, wer zuerst trinken sollte, und darüber kam es zwischen ihnen zum Kampf auf Leben und Tod. Als sie voneinander abließen, um sich zu verschnaufen, sahen sie plötzlich, wie Aasgeier dasaßen und warteten, welcher von ihnen wohl fiele, um ihn dann zu fressen. Da gaben sie ihren Zwist auf und sprachen: »Besser, dass wir Freunde werden als Futter für Geier und Raben.« So ist es schön, Streit und Zwist beizulegen, wenn sie schließlich Gefahr für alle mit sich bringen. Als ein Löwe einen Frosch quaken hörte, ging er dem Ton nach, weil er glaubte, dass es ein großes Tier sei. Dann wartete er eine kurze Zeit auf ihn. Aber als er den Frosch aus dem Tümpel herauskommen sah, ging er hin und zertrat ihn. Dann sagte er: »Niemanden soll die Stimme erschrecken, bevor er sich zeigt.« Die Geschichte passt auf einen Mann, der über nichts mehr verfügt als über maßlose Geschwätzigkeit. Ein Löwe stieß zufällig auf einen schlafenden Hasen und wollte ihn fressen. Inzwischen sah er aber eine Hirschkuh vorbeilaufen, ließ von jenem Hasen ab und verfolgte sie. Der Hase schreckte bei dem Lärm hoch und floh. Der Löwe verfolgte die Hirschkuh über eine weite Strecke, und weil er sie nicht erwischen konnte, kehrte er zu dem Hasen zurück. Er fand aber auch diesen nicht mehr vor, weil er ja geflohen war. Da sagte er: »Ach, das geschieht mir zu Recht. Denn ich ließ die Beute, die ich schon in den Pranken hatte, fahren und machte mir Hoffnung auf eine größere Beute!« So geben sich manche Menschen mit maßvollem Gewinn nicht zufrieden, und weil sie sich Hoffnung auf größeren Gewinn machen, merken sie nicht, dass sie auch das, was sie in den Händen halten, verlieren. Ein Löwe stellte einem gewaltigen Stier nach. Er wollte ihn mit Hilfe einer List überwältigen. Deshalb sagte er, er habe ein Schaf für ein Opfer geschlachtet, und lud den Stier zum Essen ein. Er wollte ihn aber, sobald er sich zu Tisch gelegt hatte, überwältigen. Als aber der Stier eingetroffen war und die vielen Schüsseln und Spieße sah, aber nirgendwo das Schaf, ging er wieder fort, ohne etwas zu sagen. Aber als ihm der Löwe deswegen Vorwürfe machte und den Grund dafür wissen wollte, warum er so einfach weggegangen sei, ohne etwas Schlimmes erlitten zu haben, sagte er: »Ja, ich tue dies nicht ohne Grund. Denn ich sehe einen Aufwand, der nicht einem Schaf, sondern einem Stier angemessen ist.« Die Geschichte zeigt, dass die üblen Pläne der Bösen klugen Menschen nicht verborgen bleiben. Eine Maus lief einem schlafenden Löwen über den Leib. Der Löwe schreckte hoch, war ganz verwirrt und suchte nach dem Eindringling. Ein Fuchs sah ihm aber zu und warf ihm vor, dass er als Löwe Angst vor einer Maus habe. Doch der Löwe gab zur Antwort: »Ich habe mich nicht vor der Maus in Acht genommen, sondern nur gewundert, dass jemand es wagte, einem schlafenden Löwen über den Leib zu laufen.« Die Geschichte lehrt, dass vernünftige Menschen auch die nicht besonders bedeutsamen Ereignisse nicht übersehen. Eine Maus lief einem schlafenden Löwen über den Leib. Der Löwe schreckte hoch, packte sie mit seinen Pranken und schickte sich an, sie zu fressen. Als sie ihn um ihr Leben bat und sagte, sie könne ihm, wenn sie am Leben bleibe, ihre Dankbarkeit erweisen, lachte er und ließ sie laufen. Nicht viel später kam es tatsächlich dazu, dass er durch die Dankbarkeit der Maus gerettet wurde. Denn nachdem er von irgendwelchen Jägern gefangen genommen und mit einem Strick an einem Baum gebunden worden war, hörte die Maus von weitem sein Stöhnen; lief herbei, zernagte den Strick, befreite ihn und sagte: »Du hast mich damals so ausgelacht, weil du nicht annehmen konntest, von mir eine Gegenleistung zu bekommen. Jetzt sollte dir wirklich klar sein, dass es auch bei den Mäusen Dankbarkeit gibt.« Die Geschichte veranschaulicht, dass durch die Veränderung der Umstände gerade die Mächtigen auf die Hilfe der Schwächeren angewiesen sind. Eine Mücke kam zum Löwen und sprach: »Ich habe keine Angst vor dir, und du bist nicht stärker als ich. Worin besteht denn eigentlich deine Stärke? Du kratzest mit den Nägeln und beißest mit den Zähnen; das tut auch ein Weib, wenn es mit seinem Manne rauft. Nein, ich bin viel stärker als du, und wenn du willst, lassen wir es auf einen Kampf ankommen.« Und die Mücke blies die Schlachttrompete und stach ihn um die Nase und in das Gesicht, wo der Löwe nicht behaart war. Der Löwe wurde so wütend, dass er sich mit seinen eigenen Krallen verletzte. Die Mücke aber, da sie den Löwen besiegt hatte, blies wieder ihre Trompete, sang einen Siegpaean und flog davon. Alsbald aber verfing sie sich in einem Spinnennetz und wurde aufgefressen, wobei sie noch schmerzlich jammerte, dass sie nach siegreichem Kampf mit dem Stärksten einem so unbedeutendem Geschöpf wie einer Spinne zum Opfer fiel. Das zielt auf Leute, die Hochstehende zu Fall bringen, aber selber von Niedrigen gestürzt werden. Oft beschwerte sich der Löwe bei Prometheus; er habe ihn zwar groß und schön erschaffen, auch seine Kiefer mit Zähnen, seine Füße mit Klauen bewehrt und ihn zum stärksten aller Tiere gemacht. »Aber doch,« sprach er, »so gewaltig ich auch bin, habe ich doch Furcht vor dem Hahn.« Prometheus sprach: »Zu Unrecht machst du mir diesen Vorwurf, denn alles, was ich bilden konnte, hast du von mir; diese Schwäche aber liegt in deiner Seele.« Da weinte der Löwe, beschuldigte sich selbst der Feigheit und wollte schließlich sterben. Da sah er, wie der Elephant beständig mit den Ohren wedelte. »Was hast du denn,« fragte er, »dass du niemals auch für noch so kurze Zeit deine Ohren still hälst?« Der Elephant den, wie es sich eben traf, eine Mücke umschwirrte, sagte: »Siehst du das winzige Summeding da? Wenn es mir in den Gehörgang dringt, ist es aus mit mir.« Da sprach der Löwe: »Was brauch ich jetzt noch den Tod zu suchen, der ich so stark bin; bin ich doch um so viel besser daran als der Elephant, wie der Hahn die Mücke an Stärke übertrifft.« Man sieht, wie stark die Mücke sein muss, wenn selbst der Elephant vor ihr Angst hat. Der Löwe, ein Schaf und andere Tiere gingen zusammen auf die Jagd. Der Löwe schwur, er wolle nach ihrer Zurückkunft alles Erbeutete mit ihnen redlich teilen. Als nun ein Hirsch in einem Sumpfe stecken blieb, wo gerade das Schaf Wache hielt, meldete es dem Löwen den Vorfall. Der Löwe eilte herbei, erwürgte den Hirsch und teilte die Beute in vier gleiche Teile. »Der erste Teil gehört mir«, sagte er nun zu den Umstehenden, »weil ich der Löwe bin, der zweite, weil ich der Herzhafteste unter euch bin, den dritten müsst ihr mir als dem Stärksten überlassen, und den werde ich auf der Stelle erwürgen, welcher mir den vierten abspricht.« So behielt der Löwe den ganzen Hirsch, ohne dass es seine Jagdgenossen auch nur wagen durften, darüber zu klagen. Mit einem starken Gewalttätigen gehe nicht gemeinschaftlich auf Geschäfte aus, er teilet immer zum Nachteil des Schwächeren. Ein Löwe war alt geworden und lag krank in seiner Höhle. Alle Tiere besuchten ihren König, nur der Fuchs kam nicht. Da ergriff der Wolf die Gelegenheit, den Fuchs beim Löwen anzuschwärzen: er verachte den Gebieter aller Tiere und sei deshalb nicht einmal zu Besuch gekommen. In diesem Augenblick erschien der Fuchs. Er hatte gerade noch die letzten Worte des Wolfes gehört. Der Löwe brüllte den Fuchs an, der aber erbat sich Zeit zur Verteidigung und sprach: »Wer von allen deinen Besuchern hat dir so viel Gutes getan wie ich? In der ganzen Welt bin ich umhergeirrt, um eine Medizin für dich zu finden – und nun weiß ich sie.« Der Löwe gebot ihm, sofort das Heilmittel zu nennen. Da sagte der Fuchs: »Du musst einem lebendigen Wolf die Haut abziehen lassen und sie dir noch warm umlegen.« Und als der Wolf nun so dalag, lachte der Fuchs und sprach: »Man soll den Herrn nicht zum Zorn sondern zur Güte bewegen.« Die Fabel zeigt, dass, wer anderen eine Falle stellt, selber hineinfällt. Der Magen und die Füße waren sich über ihre Wichtigkeit uneinig. Weil aber die Füße bei jeder Gelegenheit behaupteten, sie seien an Stärke dem Magen so sehr überlegen, dass sie ihn sogar trügen, antwortete jener: »Ach, ihr, wenn ich die Nahrung nicht aufnehme, dann könntet ihr auch nichts tragen.« So ist auch im Krieg die große Masse nichts wert, wenn nicht die Feldherrn außerordentlich klug planen. Vgl. Menenius Agrippa (Livius- Ab urbe condita 2, 32, 9-12) Es wurde einmal einer von einem Hund gebissen. Er machte sich auf, um einen Arzt aufzusuchen. Als ihm aber jemand sagte, er müsse das Blut mit einem Stück Brot abwischen und dem Hund, der ihn gebissen habe, vorwerfen, erwiderte er: »Aber wenn ich das tue, wird das zur Folge haben, dass ich von allen Hunden in der Stadt gebissen werde.« So wird auch die Schlechtigkeit der Menschen angelockt und angespornt, noch mehr Unrecht zu tun. Ein Mann besaß ein hölzernes Götterbild, und weil er arm war, flehte er zu ihm, es möchte ihm helfen. Doch sosehr er auch flehte, er blieb doch weiter in seiner Armut. Deshalb wurde er zornig, fasste die Figur am Schenkel und warf sie an die Wand. Dabei fiel der Kopf zu Boden und zerbrach, und viel Gold floss daraus hervor. Das sammelte der Mann auf und rief: »Verdreht bist du, meine ich, und dumm! Denn solange ich dich verehrte, hast du mir nichts genützt; da ich dich aber zerschlug, belohntest du mich mit so viel Gutem.« Wie die Fabel zeigt, hat es keinen Zweck, einem Taugenichts freundlich zu kommen; schlägt man ihn dagegen, so wird man größeren Nutzen haben. Ein Mann in den mittleren Jahren hatte zwei Geliebte: eine junge und eine alte. Die Ältere schämte sich, mit einem jüngeren Mann zusammen zu sein, und wenn er sie besuchte, schnitt sie ihm immer wieder seine schwarzen Haare ab. Die Jüngere aber litt darunter, einen so alten Liebhaber zu haben, und zupfte ihm allmählich seine grauen Haare aus. So kam es, dass er von beiden auf ihre Weise seine Haare ausgerupft bekam und schließlich kahl wurde. So ist Ungleichheit überall von Nachteil. Jemand hatte eine Frau, die in ihrer Art allen unangenehm war. Da wollte er erfahren, ob sie sich auch gegenüber den Knechten und Mägden in ihrem Elternhaus genau so verhielt. Daher schickte er sie unter einem vernünftigen Vorwand zu ihrem Vater. Als sie nach wenigen Tagen zurückkam, fragte er sie, wie die Leute sie aufgenommen hätten. Sie antwortete: »Die Rinderhirten und die Schafhirten haben mich so seltsam angesehen.« Da sagte er zu ihr: »Ja, Frau, wenn du schon denen unangenehm warst, die am frühen Morgen ihre Herden hinaustreiben und erst spät wieder zurückkommen, was muss man dann bei jenen erwarten, mit denen du den ganzen Tag verbrachtest?« So erkennt man oft an Kleinigkeiten das Große und an dem, was sichtbar ist, das Verborgene. Ein Marder fing einen Hahn. Er wollte ihn auffressen und hatte dafür eine vernünftige Begründung: Zuerst warf er ihm vor, dass er den Menschen lästig sei, weil er Nachts krähe und sie nicht schlafen lasse. Als der Hahn entgegnete, er tue dies zu deren Nutzen da er sie zu ihrer gewohnten Tätigkeit wecke, nannte der Marder einen zweiten Grund: Du versündigst dich auch an der Natur, weil du deine Schwestern und deine Mutter besteigst.« Der Hahn sagte darauf, dass er dies auch zum Vorteil seiner Eigentümer tue; denn er sorge dafür, dass die Hühner viele Eier legten. Der Marder wusste nicht weiter und sagte: »Wenn du auch keinen Mangel an Ausreden hast - werde ich dich deshalb etwa nicht fressen? Die Geschichte zeigt, dass ein übler Charakter, der eine schlechte Tat begehen will, diese auch ganz offen begeht, wenn er sie nicht unter einem vernünftigen Vorwand begehen kann. Ein Maulesel, der von der Gerste fett geworden war, hüpfte frohlockend und sprach zu sich selbst: »Das Pferd ist mein Vater, das schnellfüßige, und ich bin ihm ganz und gar gleich!« Eines Tages kam der Maulesel in eine Notlage und war gezwungen, schnell zu laufen. Als er die Strapaze hinter sich hatte, kam ihm ärgerlich zum Bewusstsein, dass sein Vater ein Esel war. Die Fabel lehrt, dass man, auch wenn einen die Zeit zu Ansehen gebracht hat, doch seiner Herkunft nicht vergessen darf; denn unsicher ist nun einmal dieses Leben. Ein Maulwurf – ein von Natur aus blindes Lebewesen – sagte zu seiner Mutter: »Ich kann sehen.« Daraufhin stellte sie ihn auf die Probe, gab ihm ein Weihrauchkörnchen und fragte ihn, was dies sei. Als er sagte, es sei ein Kieselstein, erwiderte die Mutter: »Mein Kind, du hast nicht nur die Fähigkeit zu sehen verloren, sondern auch keinen Geruchssinn mehr.« So versprechen auch manche Prahler unmögliche Dinge und werden schon durch Kleinigkeiten widerlegt. Der Löwe zog mit dem Menschen den gleichen Weg. Da sagte der Mensch zu ihm: »Ein mächtigeres Wesen ist der Mensch im Vergleich zum Löwen.« Der Löwe erwiderte darauf: »Das mächtigere Wesen ist der Löwe.« Und während sie so ihres Weges zogen, zeigte der Mensch auf Schmucksäulen, welche die Menschen mit Reliefs ausgestalteten; darauf stellten sie die Löwen dar, die unterlegen und den Menschen unterworfen waren. Auf den Hinweis: »Siehst du, wie die Löwen sind?« entgegnete der Löwe: »Wenn die Löwen zu modellieren verstünden, würdest du viele Menschen zu Füßen der Löwen sehen.« Weil es gelegentlich Leute gibt, die sich wegen Leistungen rühmen, die sie nicht zu vollbringen vermögen, ist diese Fabel erzählt. Ein Mensch soll einmal mit einem Satyr Freundschaft geschlossen haben, und als der Winter kam und es kalt wurde, hielt der Mensch seine Hände vor seinen Mund und hauchte sie an. Als der Satyr in fragte, aus welchem Grund er dies tue, erwiderte er, dass er seine Hände wärme wegen der Kälte. Später aber wurde ihnen ein Tisch hingestellt mit einem sehr heißen Essen. Der Mensch nahm es in die Hand, führte es in kleinen Häppchen zum Mund und blies darauf. Als dann der Satyr erneut fragte, warum er dies tue, sagte er, er lasse das Essen abkühlen, da es sehr heiß sei. Da sagte jener zu ihm: »Leider kann ich die Freundschaft mit dir nicht weiter aufrechterhalten, mein Lieber, weil du aus demselben Mund das Heiße und das Kalte kommen lässt.« Auch wir müssen die Freundschaft mit denen vermeiden, deren Verhalten nicht eindeutig ist. Ein Armer, der Heuschrecken sammelte, fing dabei auch eine wohltönend zirpende Zikade und wollte sie töten. Doch die Zikade redete ihn an: »Warum willst du mich für nichts umbringen? Ich behellige die Ähren nicht, noch schade ich den jungen Trieben, während ich durch das Zusammenschlagen meiner Flügel und die gleichmäßige Bewegung meiner Beine angenehme Töne hervorbringe und dadurch die Wanderer erfreue. Außer meiner Stimme wirst du nichts bei mir finden.« Als der Mensch das erfahren hatte, ließ er die Zikade laufen. Ein Mensch wollte ein Rebhuhn schlachten, als dieses aufs kläglichste bat, sein Leben zu schonen; es wolle, versprach es, aus Erkenntlichkeit eine Menge Rebhühner in seine Netze locken. »Oh, wie schlecht ist das von dir«, antwortete der Mensch, »und um so mehr will ich dich umbringen, weil du niederträchtig genug bist, um dich zu retten, deine Freunde ins Verderben zu stürzen.« Ein edler Mensch wird nie, um sich herauszuziehen, andern Verderben bereiten. Jemand, der einen Menschen getötet hatte, wurde von dessen Angehörigen verfolgt. Als er zum Nil gelangte, kam ihm ein Wolf entgegen. Er bekam einen Schrecken, kletterte auf einen Baum am Ufer des Flusses und versteckte sich dort. Dann sah er aber, wie eine Schlange auf ihn zukroch. Daraufhin ließ er sich in den Fluss gleiten. Dort packte ihn ein Krokodil und verschlang ihn. Die Geschichte zeigt, dass es für diejenigen, die sich eine Blutschuld aufgeladen haben, keinen sicheren Ort gibt: weder auf der Erde, noch in der Luft, noch im Wasser. Ein unbegabter Musiker spielte ununterbrochen in einem Haus mit gekalkten Wänden. Da seine Töne von den Wänden widerhallten, glaubte er, er spiele sehr gut. Und weil er von seiner Kunst überzeugt war, meinte er, er müsse auch öffentlich im Theater auftreten. Als er aber auf die Bühne getreten war und denkbar schlecht spielte, wurde er mit Steinen verjagt. So geht es auch manchen Rhetoriklehrern, die in ihren Schulen etwas zu sein glauben; die sich aber, sobald sie in die Politik gehen, als unfähig erweisen. Es kaufte sich einer einen Neger und glaubte, dessen Farbe beruhe auf Vernachlässigung seines Vorbesitzers. Er nahm ihn also mit nach Hause, wusch ihn mit Seife aller Art und versuchte, ihn mit jeder Art von Bädern weiß zu waschen. Die Farbe ließ sich aber nicht verändern, ob er auch vor lauter Mühe schier krank wurde. Natur bleibt halt, wie sie vorher war. Ein Nussbaum stand an einem Wege und wurde von den Vorübergehenden mit Steinen beworfen. Da sagte er seufzend zu sich selber: »Es ist mein Unglück, dass ich Jahr für Jahr mir Schelte und Schmerzen einbringe.« Die Fabel geht auf Leute, die durch ihre eigenen Qualitäten Nachteile haben. Ein Ochsentreiber fuhr mit einem Wagen, welcher mit Holz schwer beladen war, nach Hause. Als der Wagen im Moraste stecken blieb, flehte sein Lenker, ohne sich selbst auch nur im geringsten zu bemühen, alle Götter und Göttinnen um Hilfe an. Vor allem bat er den wegen seiner Stärke allgemein verehrten Herkules, ihm beizustehen. Da soll ihm dieser erschienen sein und ihm seine Lässigkeit also vorgeworfen haben: »Lege die Hände an die Räder und treibe mit der Peitsche dein Gespann an, zu den Göttern flehe jedoch erst dann, wenn du selbst etwas getan hast, sonst wirst du sie vergeblich anrufen.« Ein Mann hatte einen Papagei gekauft und hielt ihn sich in seinem Hause. Ein solches Entgegenkommen nutzend, flog der Vogel auf den Herd, ließ sich da nieder und krächzte ganz wohlgemut. Die Katze, die das sah, fragte ihn, wer er denn sei und woher er komme. Der Papagei antwortete: »Der Herr hat mich neulich gekauft.« »So, du unverschämtes Vieh«, erwiderte ihm die Katze, »obgleich du solch ein Neuankömmling bist, machst du ein derartiges Geschrei, wie es mir, die ich im Hause geboren bin, die Herrschaften niemals erlauben; vielmehr, wenn ich je so handelte, würden sie mich mit Schimpf und Schande davonjagen.« Doch der Papagei erwiderte: »Liebe Hausgenossin, mach dich nur weit weg! Über meine Stimme empfinden nämlich die Herrschaften nicht solches Missvergnügen wie über die deinige.« Auf einen Tadelsüchtigen, der immer andern gern die Schuld zuschieben möchte, passt die Fabel recht gut. Der Pfau machte sich über den Kranich lustig, spottete über seine Farbe und sagte: »Ich bin in Gold und Purpur gekleidet, du dagegen hast nichts Schönes an deinen Federn.« Doch der Kranich erwiderte: »Dafür lasse ich meine Stimme bei den Sternen erklingen und erhebe mich mit meinen Flügeln in die Himmelshöhen, während du wie ein Hahn unten mit den Hennen einhertrottest.« Dass es besser ist, wenn einer bescheidene Kleidung trägt, aber etwas gilt, als dass einer mit seinem Reichtum protzt, aber ein ungeachtetes Dasein führt, das beweist diese Fabel. Die Vögel beratschlagten über die Königsherrschaft. Ein Pfau verlangte, dass man ihn zum König wähle aufgrund seiner Schönheit. Als die Vögel sich anschickten, dies zu tun, sagte die Dohle: »Aber wenn uns unter deiner Herrschaft der Adler verfolgt, wie wirst du uns dann helfen?« Die Geschichte zeigt, dass sich die Mächtigen nicht durch Schönheit, sondern durch Stärke auszeichnen. Ein Pfau und eine Dohle stritten sich um die Vorzüge ihrer Eigenschaften. Der Pfau brüstete sich mit dem Glanz, der Farbe und der Größe seiner Federn. Die Dohle gab all dieses zu und bemerkte nur, dass alle diese Schönheiten zur Hauptsache nicht taugten - zum Fliegen. Sie flog auf, und beschämt blieb der Pfau zurück. Sei nicht stolz auf bloß äußerliche Vorzüge. Ein Pflüger hatte seine Zugtiere ausgespannt und brachte sie zur Tränke. Da fand aber ein hungriger Wolf auf seiner Suche nach Beute den Pflug. Zuerst leckte er am Geschirr der Stiere. Eine Zeit lang blieb er unbemerkt. Als er aber seinen Hals hineinsteckte und ihn nicht mehr herausziehen konnte, schleppte er den Pflug über den Acker. Als der Pflüger zurückkam und ihn sah, sagte er: »Du Verbrecher, könntest du doch auf deine Raubzüge und deine Untaten verzichten und dich statt dessen der Landarbeit zuwenden!« Nachdem ein Rabe ein Stück Fleisch gestohlen hatte, ließ er sich auf einem Baum nieder. Ein Fuchs sah ihn und wollte das Fleisch haben. Er stellte sich unter den Baum und rühmte den Raben wegen seiner Größe und Schönheit. Er fügte noch hinzu, dass ihm vor allen anderen die Herrschaft über die Vögel zustehe. Und dies könne auf jeden Fall Wirklichkeit werden, wenn er auch eine schöne Stimme habe. Als der Rabe dem Fuchs zeigen wollte, dass er auch eine schöne Stimme habe, ließ er das Fleisch fallen und begann, laut zu krächzen. Der Fuchs stürzte sich auf das Fleisch und rief: »Ach, Rabe, wenn du auch noch Vernunft besäßest, hätte deiner Herrschaft über alle nichts im Wege gestanden.« Die Geschichte passt gut auf einen Mann ohne jede Vernunft. Ein Rabe hatte nichts zu fressen, als er eine Schlange auf einem von der Sonne beschienenen Platz liegen sah. Er flog hinunter und packte sie. Sie drehte sich aber zu ihm hin und biss ihn. Da sagte er sterbend: »Ach, ich Unglücksrabe, der ich einen so unverhofften Fund machte, durch den ich nun auch noch mein Leben verliere!« Diese Geschichte könnte auf einen Mann zutreffen, der sogar sein Leben aufs Spiel setzt, um einen Schatz zu finden. Ein Räuber erschlug jemanden auf der Straße. Als er von gerade vorbeikommenden Leuten verfolgt wurde, ließ er von dem Toten ab und flüchtete mit blutenden Händen. Als ihn entgegenkommende Reisende fragten, warum er so schmutzige Hände habe, antwortete er, er sei gerade erst von einem Maulbeerbaum herabgestiegen. Und während er dies sagte, erreichten ihn seine Verfolger, packten ihn und kreuzigten ihn an einem Maulbeerbaum. Der Baum aber sprach zu dem Mörder: »Ja, es tut mir nicht leid, wenn ich zu deinem Tod beitrage. Denn du wolltest den Mord, den du selbst begangen hast, auf mich schieben.« So scheuen sich auch die eigentlich Anständigen nicht, wenn sie von manchen Leuten als Übeltäter verleumdet werden, diese hart zu bestrafen. Vgl. dazu die ätiologische Legende bei Ovid, Met. 4, 125-127 (Pyramus und Thisbe) Ein reicher Mann hatte ein Haus neben einem Gerber. Weil er aber den Gestank nicht ertragen konnte, versuchte er ihn zu veranlassen umzuziehen. Der Gerber aber verzögerte die Angelegenheit und sagte ständig, er werde in Kürze umziehen. Das geschah aber immer wieder. So kam es, dass sich der Reiche mit der Zeit an den Gestank gewöhnte und den Gerber nicht mehr bedrängte. Die Geschichte veranschaulicht, dass Gewohnheit auch die unangenehmen Dinge erträglich werden lässt. Ein reicher Mann hatte zwei Töchter. Als die eine gestorben war, mietete er Klageweiber. Die andere Tochter sagte zu ihrer Mutter: »Es geht uns wirklich schlecht, wenn wir selbst, die wir doch vom Leid betroffen sind, nicht zu klagen verstehen, während diejenigen, die gar nicht zu uns gehören, sich so heftig schlagen und klagen.« Darauf sagte die Mutter: »Wundere dich nicht, mein Kind, wenn diese Frauen so jammern. Sie tun es für Geld.« So haben manche Menschen keine Hemmungen, aus Geldgier fremdes Unglück gegen Lohn mit zu tragen. Der Redner Demades sprach einmal in Athen vor dem Volk. Die Leute hörten ihm aber nicht richtig zu. Da bat er sie darum, ihm zu erlauben, eine »Äsopische Fabel« zu erzählen. Sie waren damit einverstanden, und er fing an zu erzählen: »Demeter, eine Schwalbe und ein Aal hatten denselben Weg. Als sie an einen Fluss kamen, flog die Schwalbe hoch, der Aal tauchte ins Wasser.« Dann redete Demades nicht weiter. Die Leute fragten ihn: »Was ist denn mit Demeter passiert?« Er antwortete: »Sie ärgert sich über euch, weil ihr euch für die wichtigen Angelegenheiten der Stadt nicht interessiert, es aber gern zulasst, dass man euch Äsopische Fabeln erzählt.« So sind es auch unter den Menschen die Unvernünftigen, die sich um die notwendigen Dinge nicht kümmern, sondern vorziehen, was ihnen Spaß macht. Ein Rinderhirt hatte beim Weiden seiner Herde ein Kalb verloren. Nachdem er es gesucht, aber nicht gefunden hatte, versprach er Zeus, er werde ihm eine junge Ziege opfern, wenn er den Rinderdieb gefunden habe. Er gelangte in einen Eichenwald und sah, wie ein Löwe das Kalb fraß. Er bekam einen furchtbaren Schrecken, hob seine Hände zum Himmel und rief: »Zeus, Herr, damals versprach ich dir, eine junge Ziege zu opfern, wenn ich den Dieb gefunden hätte, jetzt aber werde ich dir einen Stier opfern, wenn ich den Klauen dieses Räubers entkomme.« Diese Geschichte könnte über Menschen im Unglück erzählt werden, die nach einem Verlust darum beten, das Verlorene wieder zu finden, aber versuchen, ihm zu entkommen, wenn sie es gefunden haben. Ein Rinderhirt hatte einen Ochsen verloren. Also gelobte er Zeus, wenn er den Dieb fände, wolle er den Ochsen zum Opfer darbringen. Doch als er unversehens erkennen musste, dass der Löwe es war, der seinen Ochsen verzehrte, bat er Zeus: »Ich will dir noch einen Ochsen dazu opfern, wenn ich dem Räuber entkomme.« Ohne Überlegung soll man Gott keine Gelübde geben, sonst kommt die Reue zu ihrer Stunde. Ein Schiffbrüchiger wurde an einen Strand gespült und schlief vor Erschöpfung ein. Aber kurze Zeit darauf stand er wieder auf, und als er das Meer sah, machte er ihm Vorwürfe, dass es die Menschen mit der Friedfertigkeit seines äußeren Erscheinungsbildes anlocke, und wenn es sie dann in seiner Gewalt habe, wild werde und sie vernichte. Daraufhin sagte das Meer in der Gestalt einer Frau zu ihm: »Ach, lieber Freund, mach mir keine Vorwürfe, sondern den Stürmen. Die Stürme aber fallen unerwartet über mich her, peitschen die Wogen auf und machen mich zu einer wilden Bestie.« Aber auch wir dürfen bei Untaten nicht die Täter verantwortlich machen, wenn sie anderen unterstellt sind, sondern nur diejenigen, die ihnen Befehle erteilen. Ein reicher Athener machte mit anderen Leuten eine Seereise. Da kam ein furchtbares Unwetter auf, und das Schiff kenterte. Alle anderen schwammen um ihr Leben. Aber der Athener rief ununterbrochen die Göttin Athene an und gelobte ihr unzählige Dinge, wenn er gerettet würde. Einer der anderen Schiffbrüchigen, der neben ihm schwamm, rief ihm zu: »Du darfst nicht nur zu Athene beten, du musst auch schwimmen.« Das gilt aber auch für uns: Es ist notwendig, dass wir nicht nur die Götter um Hilfe bitten, sondern auch aus eigener Kraft etwas für uns tun. Ein Schmied hatte ein Hündchen, das schlief, solange er am Amboss hämmerte, aber sobald er eine Frühstückspause machte, wachte es auf. Der Schmied warf ihm einen Knochen zu und sagte: »O du elendes verschlafenes Hündlein; was soll ich mit dir machen, da du so träge bist? Wenn ich auf meinen Amboss schlage, legst du dich zu Bett; wenn ich aber nur meine Zähne bewege, wachst du sogleich auf und wedelst mit dem Schwanze.« Die Fabel richtet sich gegen Schläfrige und Träge, die zuschauen, während andere arbeiten. In Athen wurde ein Schuldner von seinem Gläubiger aufgefordert, seine Schulden zu bezahlen. Zuerst bat er seinen Gläubiger, ihm noch etwas Zeit zu geben, indem er darauf hinwies, dass er kein Geld habe. Als er den Gläubiger aber nicht überreden konnte, holte er eine Sau – das war sein einziger Besitz – und bot sie in Gegenwart des Gläubigers zum Verkauf an. Ein Kauflustiger kam und fragte, ob die Sau auch fruchtbar sei. Der Gläubiger erwiderte, sie sei nicht nur einfach fruchtbar, sondern noch dazu auf wunderbare Weise: Am Mysterienfest werfe sie nur weibliche, an den Panathenäen nur männliche Ferkel. Als der Kauflustige über diese Worte staunte, fügte der Gläubiger hinzu: »Wundere dich nicht! Denn an den Dionysien wird sie dir auch junge Ziegen werfen.« Die Geschichte veranschaulicht, dass viele um des eigenen Vorteils willen nicht zögern, sogar Unmögliches falsch bezeugen. Ein Mann, der mit dem Bogen umzugehen verstand, begab sich ins Gebirge zum Jagen. Alle Tiere, die seiner ansichtig wurden, nahmen Reißaus, nur der Löwe forderte ihn zum Kampf auf. Der Schütze richtete seinen Pfeil auf den Löwen, traf ihn und sagte: »Nimm diesen meinen Boten auf und sieh ihn dir an, wie er beschaffen ist; später werde ich dann selber zu dir kommen!« Da wandte sich der Löwe, von Furcht ergriffen, zur Flucht. Als der Fuchs ihm sagte, er solle Mut beweisen und dürfe nicht fliehen, erwiderte der Löwe: »Mich wirst du nicht schwanken machen. Denn wer einen so bitteren Boten hat, den werde ich, wenn er selber erscheint, nicht ertragen können.« Die Fabel zeigt, dass man keinesfalls denen nahe kommen darf, die einem schon von ferne schaden. Ein Reicher hielt sich eine Gans und einen Schwan, jedoch nicht zu demselben Zweck, den letzteren vielmehr seines Gesanges wegen und jene für die Pfanne. Als nun die Zeit gekommen, da die Gans erleiden sollte, wozu sie bestimmt war, war es Nacht und darum unmöglich, die beiden Vögel in der Dunkelheit zu unterscheiden. Doch als man den Schwan anstelle der Gans ergriff, stimmte er sein Sterbelied an. So gab sein Gesang zu erkennen, wer er war, und bewahrte ihn vor dem Tode. Die Fabel zeigt, dass oftmals die Musik einen Aufschub des Todes bewirken kann. Die Schwäne, erzählt man, singen nur im Sterben. Als nun einmal ein Mann einen Schwan fand, der zum Verkauf stand, und hörte, dass es ein sehr musisches Tier sei, da kaufte er ihn. Bei einer Gelegenheit hatte der Mann Gäste im Haus; da ging er zu dem Schwan und bat ihn, während des Umtrunkes zu singen. Damals schwieg der Schwan stille, später jedoch, als er fühlte, dass es ans Sterben ging, sang er sein Trauerlied. Als der Herr das hörte, sagte er: »Nun, da du sonst nicht singst als nur beim Sterben, war es dumm von mir, dass ich dich seinerzeit zum Singen einlud, statt dich zu schlachten.« So müssen auch manche Menschen wider ihren Willen ausführen, was sie freiwillig zu gewähren nicht bereit sind. Der Schwanz stritt mit dem Kopf der Schlange und stellte die Forderung, auch er müsse anteilig die Führung haben und könne sich nicht immer nur dem Kopfe unterordnen. Als aber der Schwanz die Führung an sich gerissen hatte, brachte er sich dadurch, dass er blindlings losstürmte, selber in eine schwierige Lage und behinderte überdies den Kopf, der sich gezwungen sah, wider alle Natur blinden und stummen Körperteilen zu folgen. Die Fabel demonstriert, dass es denen, die alles nach Gunst und Gefallen gestalten möchten, genau so ergeht. Ein Hund schlief vor dem Tor eines Gehöfts. Ein Wolf sah diesen, packte ihn und wollte ihn fressen. Der Hund aber bat darum, ihn für den Augenblick am Leben zu lassen, indem er sagte: »Jetzt bin ich dünn und mager, aber meine Herrschaften haben vor, Hochzeit zu feiern. Wenn du mich jetzt loslässt, wirst du mich später verspeisen können, nachdem ich fett geworden bin.« Dem Wolf leuchtete dies in dem Moment ein und er ließ ihn laufen. Nach einigen Tagen kam er zurück. Als er ihn dann im Haus schlafen sah, forderte er ihn auf zu kommen, wobei er ihn an die Vereinbarung erinnerte. Der Hund aber erwiderte: »Ach, Wolf, wenn du mich nächstes Mal vor dem Tor schlafen siehst, brauchst du nicht mehr auf die Hochzeit warten.« So nehmen sich die vernünftigen Menschen später in acht, wenn sie einer Gefahr entronnen sind. Es war da ein ganz miserabler Arzt. Als alle anderen Ärzte einem Kranken versicherten, er sei nicht in Gefahr, sondern könne mit seinem Leiden alt werden, sagte er als einziger: »Bestelle dein Haus, denn den morgigen Tag wirst du nicht überleben«, und damit ging er weg. Nach einiger Zeit aber stand der Kranke auf und ging vors Haus, noch ganz bleich und nur mühsam laufend. Da traf ihn jener Arzt, der grüßte ihn und fragte: »Wie sieht es denn da drunten aus?« Der antwortete: »Die Leute da sind ganz ruhig, denn sie haben ja Lethe*-Wasser getrunken. Unlängst aber stießen der Tod und Hades schreckliche Drohungen gegen die Ärzte aus, weil sie die Kranken nicht sterben lassen, und sie haben gegen alle Ärzte Strafanzeige erstattet. Sie wollten auch dich anzeigen, aber ich habe heftigen Einspruch erhoben und sie ins Unrecht gesetzt: ich legte nämlich einen Eid ab, dass du gar kein Arzt bist, sondern grundlos verleumdet worden bist.« Die Fabel überführt grobschlächtige und ungeschickte Ärzte und prangert sie an. Lethe: griech. "Vergessen" griech. Sage: Strom in der Unterwelt, aus dem die Seelen der Verstorbenen Vergessen trinken Ein Seher saß auf einem Markt und sammelte Geld. Als jemand unerwartet zu ihm kam und ihm berichtete, dass die Türen seines Hauses offen stünden und alles drinnen ausgeplündert sei, sprang er erschrocken auf und rannte jammernd los, um zu sehen, was geschehen war. Als einer der Vorbeikommenden ihn so sah, sagte er: »Lieber Freund, du prahlst damit, die Ereignisse, die andere Menschen betreffen, vorauszusehen, wo du doch nicht einmal das, was bei dir passiert, vorhersagen kannst!« Diese Geschichte könnte man auf jene Menschen übertragen, die ihr eigenes Leben schlecht im Griff haben und versuchen, für die Dinge, die sie eigentlich gar nichts angehen, Vorsorge zu treffen. Ein Seemann, so wird erzählt, hatte einen Sohn, den wollte er in der Grammatik ausbilden lassen. Also steckte er ihn in eine Schule, ließ ihm hinreichend Zeit und ermöglichte ihm eine vollständige Grammatikausbildung. Da sprach der junge Mann zu seinem Vater: »Sieh, lieber Vater, jetzt habe ich die ganze Grammatik genau durchstudiert; doch nun möchte ich auch die Rhetorik studieren.« Das gefiel dem Vater, er gab ihn wieder in die Schule, und der junge Mann wurde ein vollkommener Rhetor. Als seine Zeit vorbei war, aßen sie im Hause zusammen, Vater, Mutter und Sohn, und der junge Mann berichtete seinen Eltern, dass er in der Grammatik und Rhetorik perfekt sei. Da wandte sich der Seemann an seinen Sprössling: »Über die Rhetorik habe ich gehört, dass sie, wie der selige Aptaistos schreibt, das Schatzkästlein aller Künste ausmacht. So gib uns eine Probe dieser Kunst!« »Indem ich dieses Huhn so teile, wie es die Rhetorik befielt, werde ich euch demonstrieren, dass die Rhetorik tatsächlich gewichtiger ist als die anderen Künste.« Dann teilte er das Huhn und sagte: »Dir, Vater, werde ich den Kopf geben, weil du das Oberhaupt des Hauses bist und über uns alle gebietest. Dir, Mutter, weise ich die Füße zu; denn du bist den ganzen Tag im Hause auf den Beinen und hast viel zu schaffen; ohne die Füße wärest du all dem nicht gewachsen. Dieser toter Körper aber, der nicht viel wert ist, verbleibt für mich, damit auch ich etwas für mein vieles Studieren abbekomme.« Nach diesen Worten begann er das Huhn zu verspeisen. Doch der Vater wurde böse, riss das Huhn weg und machte zwei Teile daraus. »Ursprünglich«, sagte er, »wollte ich dieses Huhn nicht selber teilen. Jetzt aber möchte ich, dass die eine Hälfte ich selber und die andere deine Mutter isst; du aber kannst essen, was du mit deiner Rhetorik zustande gebracht hast.« So ergeht es denen, die mit Betrug und hinterlistigen Reden durchs Leben kommen möchten. Jemand besaß einen Malteserhund und einen Esel, und er spielte dauernd freundlich mit seinem Hund. Immer wenn er nicht zu Hause aß, brachte er dem Hund etwas mit und warf es ihm vor, sobald er angerannt kam und mit dem Schwanz wedelte. Der Esel aber wurde neidisch, kam auch angelaufen, sprang freudig hin und her, traf aber seinen Herrn mit seinen Hufen. Das ärgerte den Mann, und er befahl, den Esel zu verprügeln, ihn fortzuschaffen und an seine Krippe zu binden. Die Geschichte zeigt, dass nicht alle für alles geschaffen sind. Jemand hatte einen Hermes aus Holz geschaffen, brachte ihn auf den Markt und wollte ihn verkaufen. Als aber kein Käufer kam, wollte er irgendwelche Leute anlocken und rief, er habe einen wohltätigen und Gewinn versprechenden Gott zum Verkauf. Da sagte einer der Vorübergehenden zu ihm: »Ja, mein Freund, warum verkaufst du denn einen solchen Wohltäter, wo es doch nahe läge, dass du selbst seinen Nutzen genießt?« Der Verkäufer antwortete: »Weil ich etwas brauche, was mir einen schnellen Nutzen verschafft, er mir aber nur langsam Gewinn zu verschaffen gewohnt ist.« Das passt auf einen geldgierigen Menschen, der noch dazu die Götter missachtet. Ein Stier wurde von einem Löwen verfolgt. Er flüchtete in eine Höhle. Dort befanden sich wilde Ziegen. Als er von ihnen getreten und gestoßen wurde, sagte er: »Ich halte dies aus, nicht etwa weil ich euch fürchte, sondern den, der vor dem Eingang der Höhle steht.« So ertragen viele aus Angst vor Stärkeren sogar die Quälereien, die von Geringeren ausgehen. Ein Kalb zeigte einem Stier, der sich in einem engen Zugang durch seine Hörner abmühte, weil er den Stall kaum betreten konnte, wie er sich wenden sollte. Er sagte: »Schweig! Ich wusste dieses schon bevor du geboren wurdest.« Ein Thunfisch wurde von einem Delphin verfolgt und floh in großer Eile. Als er eingeholt zu werden drohte, entkam er noch im letzten Augenblick durch einen Sprung an den Strand. Der Delphin setzte ihm mit derselben Geschwindigkeit nach und wurde ebenso wie der Thunfisch aus dem Wasser geschleudert. Als der Thunfisch dies sah, wandte er sich dem Delphin zu, den das Leben schon verließ, und sagte: »Jetzt fällt es mir nicht mehr schwer zu sterben. Denn ich sehe, dass derjenige, der meinen Tod verschuldet hat, mit mir gemeinsam zugrunde geht.« Die Geschichte zeigt, dass die Menschen ihr Unglück leicht ertragen, wenn sie sehen, dass auch diejenigen unglücklich sind, die ihr Unglück verursacht haben. Einer hatte von seinem Freunde Geld zur Verwahrung übernommen und trachtete danach, ihn zu betrügen. Als der Freund nun jenen zur Eidesleistung vor Gericht lud, scheute der sich davor und zog über Land. Am Tor angelangt, erblickte er einen lahmen Mann, der ebenfalls hinausging; den fragte er, wer er sei und wohin sein Weg führe. Als der Angesprochene erwiderte, er sei Horkos, der Gott des Eides, und sei hinter den Meineidigen her, fragte er weiter, wie oft er denn in die Städte zu kommen pflege. »Alle vierzig, manchmal auch nur alle dreißig Jahre«, war die Antwort. Da zögerte der Mann nicht länger, sondern legte am nächsten Tag den Eid ab, dass er das Geld nicht in Empfang genommen habe. Dadurch dem Horkos verfallen und von diesem zur Richtstätte geführt, beschuldigte er den Gott, dieser habe behauptet, nur alle dreißig Jahre zu kommen, und jetzt lasse er ihn nicht einmal einen Tag straflos. Doch Horkos fiel dem Sprecher ins Wort: »Du solltest wissen, wenn mir einer gar zu beschwerlich wird, dann komme ich für gewöhnlich noch am selben Tag.« Die Fabel zeigt, dass kein Termin gesetzt ist, wann Gott die Frevler für ihre Übeltaten bestrafen wird. Ein Trompeter, der das Heer zu versammeln pflegte, war von den Feinden gefangen genommen worden. Da erhob er ein lautes Geschrei: »Ihr Männer, tötet mich nicht ohne Sinn und Zweck! Keinen von euch nämlich habe ich umgebracht, und außer diesem Metall habe ich keinen andern Besitz.« Die jedoch erwiderten ihm: »Gerade darum wirst du sterben, weil du, ohne selbst kämpfen zu können, die andern zur Schlacht aufrufst!« Die Fabel zeigt, dass diejenigen die größere Sünde begehen, welche die bösen und schlimmen Herrscher zu Übeltaten anspornen. Ein verschwenderischer Jüngling hatte sein väterliches Erbe verprasst. Es war ihm nur noch ein Mantel geblieben. Als er eine Schwalbe sah, die allerdings viel zu früh erschienen war, glaubte er, es sei schon Sommer. Als ob er den Mantel nicht mehr brauchte, nahm er ihn mit und verkaufte ihn. Als es aber später wieder Winter wurde und heftiger Frost aufkam, und als er sah, dass die Schwalbe tot am Boden lag, lief er um sie herum und sagte zu ihr: »Ach, du Arme, du hast sowohl mich als auch dich umgebracht.« Die Geschichte zeigt, dass alles, was zur Unzeit getan wird, riskant ist. Ein Hirtenjunge brüllte aus Langeweile laut "Wolf!". Als ihm daraufhin Dorfbewohner aus der Nähe zu Hilfe eilten, fanden sie heraus, dass falscher Alarm gegeben wurde und sie ihre Zeit verschwendet hatten. Und dies trieb der Hirte noch einige Male. Als seine Herde dann aber wirklich vomm Wolf bedroht wurde, nahmen die Dorfbewohner seine Hilferufe nicht mehr ernst und der Wolf fraß die ganze Herde. Diese Fabel zeigt: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht und wenn er auch die Wahrheit spricht! Ein Vater hatte zwei Töchter. Die eine gab er einem Bauern, die andere einem Töpfer zur Frau. Nach einiger Zeit kam er zu der Frau des Bauern und fragte sie, wie es ihr gehe und wie die Dinge bei ihnen stünden. Sie antwortete, es fehle ihnen an nichts. Sie bitte die Götter nur darum, dass es Winter werde und zu regnen anfange, damit das Gemüse bewässert werde. Nicht viel später kam er auch zur Frau des Töpfers und fragte sie ebenso, wie es ihr gehe. Auch sie sagte, es fehle ihr eigentlich nichts, sie bete nur darum, dass das Wetter gut bleibe und die Sonne scheine, damit der Ton trocken werde. Da sagte der Bauer zu seiner Tochter: »Wenn du um schönes Wetter bittest, deine Schwester aber um Winterregen, mit welcher von euch soll ich dann mitbeten?« So geht es auch denjenigen, die zur selben Zeit Dinge tun, die unvereinbar sind: Sie nehmen natürlich in jedem Fall Schaden. Ein Löwe hatte sich in die Tochter eines Bauern verliebt. Er freite um sie. Der Bauer wollte seine Tochter dem wilden Tier nicht geben, aber aus Angst konnte er ihm seinen Wunsch nicht verweigern. Deshalb fasste er folgenden Plan: Als der Löwe ihn ständig bedrängte, sagte er, er meine zwar, dass er ein seiner Tochter würdiger Bräutigam sei. Aber er könne sie ihm nur dann geben, wenn er seine Zähne ziehe und seine Krallen abschneide. Denn das junge Mädchen fürchte diese. Als der verliebte Löwe ohne weiteres beiden Wünschen entgegenkam, hatte der Bauer keine Angst mehr vor ihm, und als der Löwe zu ihm kam, verprügelte und verjagte er ihn. Die Geschichte zeigt, dass alle allzu vertrauensseligen Menschen sich jenen ausliefern, denen sie vorher Angst einflößten, wenn sie selber auf die Mittel verzichten, auf denen ihre Überlegenheit beruhte. Ein Wolf war von Hunden gebissen worden, lag krank am Boden und konnte sich selbst keine Nahrung verschaffen. Und da sah er ein Schaf. Er bat es, ihm einen Schluck Wasser aus dem Fluss zu bringen, der in der Nähe vorbeifloss. Er sagte zu ihm: »Wenn du mir nämlich einen Schluck Wasser reichst, werde ich mir selbst Nahrung suchen können.« Das Schaf entgegnete ihm: »Wenn ich dir den Schluck reiche, wirst du auch mich noch auffressen.« Die Geschichte passt gut auf einen Übeltäter, der jemandem mit Heuchelei eine Falle stellt. Ein Vogel fand die Eier einer Schlange. Er hielt sie mit aller Fürsorge warm und brütete sie aus. Eine Schildkröte sah ihm zu und sagte: »Du Dummkopf, warum ziehst du diese Tiere auf, die, wenn sie groß geworden sind, an dir ihre erste Untat begehen?« So wenig wird die böse Tat verziehen, auch wenn daraus die größten Wohltaten erwachsen. Der Vogelfänger bereitete Netze für Kraniche aus und wartete in einiger Entfernung auf den Fang. Nachdem aber ein Storch gemeinsam mit den Kranichen in das Netz geraten war, eilte der Vogelfänger herbei und erwischte neben Kranichen auch noch den Storch. Dieser bat darum, ihn fliegen zu lassen, und sagte, er sei nicht nur unschädlich für die Menschen, sondern sogar sehr nützlich, denn er fange die Schlangen und die übrigen Kriechtiere und fresse sie auf. Der Vogelfänger erwiderte: »Gut, auch wenn du im Grunde nicht schlecht bist, verdienst du doch deswegen Strafe, weil du dich zu Übeltätern gesellt hast.« Aber es ist notwendig, dass auch wir den Umgang mit Übeltätern meiden, damit wir nicht den Anschein erwecken, an deren Schlechtigkeit teilzuhaben. Ein Vogelfänger stellte ein Fangnetz für Vögel auf. Eine Haubenlerche sah im zu und fragte ihn, was er da tue. Als er ihr gesagt hatte, er gründe eine Stadt, und ein Stück zurückgetreten war, vertraute sie seinen Worten, flog heran, fraß den Köder und verfing sich unversehens in den Schlingen. Als der Vogelfänger herbeigelaufen kam und sie packte, sagte die Haubenlerche: »Ach du, wenn du solche Städte gründest, wirst du nicht viele Besucher finden.« Die Geschichte zeigt, dass Dörfer und Städte dann vor allem verlassen werden, wenn die Regierenden schwer zu ertragen sind. Ein Vogelsteller nahm Leim und Schilfrohre und ging auf die Jagd. Dann sah er eine Drossel auf einem hohen Baum sitzen und wollte sie fangen. Er fügte also die Schilfrohre zu einer langen Stange zusammen und schaute ganz angespannt nach oben. Während er auf diese Weise nach oben blickte, trat er aus Versehen auf eine schlafende Natter, die sich herumdrehte und ihn biss. Sterbend sprach er zu sich selbst: »Ach, ich Unglücklicher. Ich wollte einen anderen jagen und merkte nicht, dass ich selbst in den Tod gejagt wurde.« So geraten diejenigen, die ihren Mitmenschen eine Falle stellen, vorher selbst ins Unglück. Der Vogelfänger erhielt zu später Stunde Besuch, und weil er nicht wusste, was er ihm vorsetzen sollte, machte er sich an sein zahmes Rebhuhn und traf Anstalten, es zu schlachten. Das Rebhuhn zieh ihn deshalb der Undankbarkeit, denn er habe ja von ihm großen Nutzen gehabt, weil es seine Stammesgenossen herausgelockt und ihm übergeben habe, und jetzt wolle er ihm selber ans Leben! Doch der Vogelfänger erwiderte: »Gerade darum werde ich dich um so eher schlachten, weil du nicht einmal vor deinen Stammesgenossen haltmachst.« Die Fabel zeigt, dass die, welche ihre eigenen Leute verraten, nicht nur von denen gehasst werden, die durch sie Unrecht leiden, sondern auch von denen, für die sie Verrat üben. Hermes fuhr einstens mit einem Wagen, der mit Lügen, Hinterlist und Betrug beladen war, über Land und verteilte an jedem Orte ein bisschen von seiner Last. Als er aber ins Araberland kam, so erzählt man sich, schüttete der Wagen plötzlich um. Die Araber raubten die vermeintlich wertvolle Ladung und verhinderten so, dass sie zu den anderen Menschen gelangte. Die Araber sind nämlich die allerschlimmsten Lügner und Betrüger; in ihren Reden gibt es keine Wahrheit. Ein Wanderer, der sich auf einer weiten Reise befand, gelobte, dass er von allem, was er finde, die Hälfte dem Hermes überlassen werde. Er stieß auf einen Ranzen, in dem sich Mandeln und Feigen befanden. Er nahm ihn an sich, weil er glaubte, es sei Geld darin. Daraufhin schüttete er ihn aus, und als er gefunden hatte, was er enthielt, aß er dies auf, nahm die Schalen der Mandeln und die Kerne der Feigen, legte sie auf irgendeinen Altar und sprach: »Hiermit hast du, was ich gelobt habe. Denn sowohl das, was im Innern meines Fundes war, als auch das, was außen war, habe ich mit dir geteilt.« Die Geschichte passt gut zu einem Menschen, der aus Habsucht sogar die Götter betrügt. Ein Wanderer war im Winter unterwegs, als er eine Schlange sah, die vor Kälte erstarrt war. Er hatte Mitleid mit mir, nahm sie in die Hand, legte sie unter sein Kleid und versuchte, sie zu wärmen. Solange sie durch die Kälte gelähmt war, blieb sie friedlich. Als sie aber wieder warm geworden war, grub sie sich mit ihren Giftzähnen in seinen Bauch. Der Mann aber sagte sterbend: »Das geschieht mir zu Recht. Denn warum habe ich die Schlange vor dem Tod bewahrt, von der doch zu erwarten war, dass sie mich, sobald sie wieder zu Kräften kommt, umbringt?« Die Geschichte zeigt, dass der Übeltäter; wenn er Gutes erfährt, nicht nur darauf verzichtet, sich erkenntlich zu zeigen, sondern sich sogar gegen seine Wohltäter erhebt. Ein Wanderer zog durch die Wüste und begegnete in dieser Einsamkeit einer Frau, welche gesenkten Hauptes dastand. Redete er sie an: »Wer bist du?« Antwortete sie ihm: »Ich bin die Wahrheit.« - »Und weshalb hast du die Stadt verlassen und hausest in der Wüste?« Erwiderte ihm jene: »In alten Zeiten wohnte die Lüge nur bei wenigen. Jetzt aber findest du sie bei allen Menschen, wenn du nur etwas hören oder sagen willst.« Ein elendes, erbärmliches Leben führen die Menschen wenn sie der Lüge den Vorzug vor der Wahrheit geben. Ein Wanderer hatte schon einen weiten Weg zurückgelegt. Als er völlig erschöpft war, ließ er sich neben einen Brunnen fallen und schlief ein. Als er fast schon hineinzufallen drohte, trat das Schicksal zu ihm hin, weckte ihn und sprach: »Mein Lieber, wenn du hineingefallen wärst, hättest du nicht deine eigene Dummheit, sondern mich beschuldigt.« So machen viele Menschen, die durch eigenes Verschulden ins Unglück geraten, die Götter dafür verantwortlich. Ein wilder Hund fror im Winter jämmerlich. Er kroch in eine Höhle, rollte sich zusammen, zitterte vor Kälte und sprach vor sich hin: »Wenn es nur wieder Sommer und warm wird, dann will ich mir eine Hütte bauen, damit ich im nächsten Winter nicht mehr frieren muss.« Als aber der Sommer mit seiner wohltuenden Wärme kam, hatte er seine guten Vorsätze vergessen. Er lag da, reckte und streckte sich, blinzelte behaglich in die Sonne und dachte nicht mehr daran, sich eine Hütte zu bauen. Der nächste Winter war bitter kalt, und der Hund musste erfrieren. Ein wilder Esel sah einen zahmen Esel auf einem von der Sonne beschienenen Platz stehen. Er ging zu ihm hin und beglückwünschte ihn wegen seines guten körperlichen Zustands und seiner vorzüglichen Lebensbedingungen. Später aber sah er, wie dieser eine schwere Last tragen musste und ein Eselstreiber hinter ihm herging und ihn mit dem Stock schlug. Da sagte er zu ihm: »Ach, jetzt beglückwünsche ich dich nicht mehr. Denn ich sehe, dass du nicht ohne große Nachteile im Überfluss lebst.« So sind die Vorteile, die man nur unter Gefahren und Schmerzen gewinnt, nicht erstrebenswert. Der Wind und die Sonne stritten darum, wer die größere Macht habe. Sie vereinbarten nun, dass derjenige der Sieger sei, der es schaffe, einen Wanderer auszuziehen. Der Wind machte den Anfang und blies heftig. Als sich der Mensch aber mit seiner Kleidung zu schützen versuchte, blies er noch heftiger. Der Mensch litt dann noch mehr unter der Kälte und zog sich wärmer an, bis der Wind es aufgab und der Sonne das Feld überließ. Von der Sonne ging zuerst eine ganz maßvolle Wärme aus. Als der Mensch daraufhin seine überflüssigen Kleider ablegte, wurde die Sonne stärker, bis er es nicht mehr aushalten konnte, sich ganz auszog und zu seinem Schutz in einen Fluss sprang, um sich abzukühlen. Die Geschichte zeigt, dass es oft wirksamer ist zu überzeugen als Gewalt anzuwenden. Ein Esel weidete auf einer Wiese. Als er einen Wolf bemerkte, der auf ihn zurannte, tat er so, als sei er lahm. Als dann der Wolf an ihn herantrat und nach dem Grund für seine Lahmheit fragte, erwiderte er, dass er, als er durch eine Hecke ging, in einen Dorn getreten sei. Dann bat er den Wolf, ihm zuerst den Dorn herauszuziehen. So könne er ihn auffressen, ohne das ihm der Dorn beim Fressen im Wege sei. Der Wolf ließ sich von diesen Worten überzeugen, hob den Fuß des Esels hoch und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf diesen. Da trat der Esel mit dem Huf in das Maul des Wolfes und schlug ihm alle Zähne aus. Nachdem er so übel zugerichtet worden war, sagte er: »Ja, mir ist recht geschehen. Denn obwohl mein Vater die Kunst des Fleischers lehrte, habe ich mich der Heilkunst zugewandt.« So geraten auch die Menschen, die sich mit Dingen abgeben, die ihnen nicht zukommen, zu Recht ins Unglück. Ein Wolf beschloss einmal, sich zu verkleiden, um im Überfluss leben zu können. Er legte sich ein Schafsfell um und weidete zusammen mit der Herde, nachdem er den Hirt durch seine List getäuscht hatte. Am Abend wurde er vom Hirten zusammen mit der Herde eingeschlossen, der Eingang wurde verrammelt und die ganze Einfriedung gesichert. Als aber der Hirt hungrig wurde, schlachtete er den Wolf. So hat schon manch einer, der in fremden Kleidern auftrat, seine Habe eingebüßt. Der Wolf sah einen riesigen Hund, der mit einem Halsband festgebunden war, und fragte ihn: »Wer hat dich denn so an die Kette gelegt und dann herausgefüttert?« »Der Jäger«, erwiderte der Hund. »Doch sollte man das dem Wolf nicht wünschen. Mir wäre nämlich der Hunger lieber als die Last des Halsbandes.« Im Unglück macht nicht einmal das Essen Spaß. Ein Wolf hatte einen Knochen verschluckt. Er lief herum und suchte jemanden, der ihm helfen konnte. Er fand einen Reiher und bat ihn, gegen eine Belohnung den Knochen herauszuziehen. Jener steckte seinen Kopf in den Schlund des Wolfes, zog den Knochen heraus und verlangte den vereinbarten Lohn. Der Wolf erwiderte: »Lieber Freund, kannst du nicht zufrieden sein, dass du deinen Kopf heil aus dem Rachen eines Wolfes herausgezogen hast? Und dafür verlangst du auch noch einen Lohn?« Die Geschichte zeigt, dass die größte Vergeltung einer guten Tat bei den Bösen darin besteht, dass man von ihnen nicht dazu noch Unrecht angetan bekommt. Ein hungriger Wolf lief überall herum und wollte sich Futter beschaffen. Als er aber zu einem Bauernhof kam und hörte, wie eine alte Frau einem weinenden Kind drohte, sie werde es, wenn es nicht aufhöre, einem Wolf vorwerfen, wartete er, weil er glaubte, sie meine es ernst. Als es aber Abend wurde, machte er sich davon, weil nichts geschah, was diesen Worten entsprach, und sprach zu sich selbst: »In diesem Bauernhof sagen die Menschen anderes als sie in Wirklichkeit tun.« Diese Geschichte dürfte auf jene Menschen zutreffen, die nicht in Übereinstimmung mit ihren Worten handeln. Ein Wolf sah, wie Hirten in ihrer Hütte ein Schaf verzehrten. Er ging hinzu und sprach: »Ein schönes Geschrei hättet ihr erhoben, wenn ich dasselbe getan hätte.« Der Wolf ging hinter einer Schafherde her, ohne ihr etwas zuleide zu tun. Anfangs nahm sich der Hirt vor ihm, dem Feinde, in acht und beobachtete ihn furchtsam. Wie aber jener fortwährend hinterher trottete und keine Anstalten traf, etwas zu rauben, kam dem Hirten der Gedanke, der Wolf möchte vielleicht lieber Wächter als Angreifer sein. Als er daher einmal in die Notwendigkeit versetzt wurde, zur Stadt zu gehen, überließ er dem Wolfe die Schafe und entfernte sich. Der aber sah seine Gelegenheit gekommen und fraß die Überzahl der Herde. Wie nun der Hirt zurückkehrte und seine Herde vernichtet sah, da rief er bloß: »Es ist mir ganz recht ergangen; denn warum hatte ich dem Wolfe Schafe anvertraut?« So erleiden auch unter den Menschen diejenigen nach Gebühr Verluste, die den Geldgierigen ihre Ersparnisse anvertrauen. Der Wolf raubte einst ein Schaf von der Herde und brachte es in sein Lager. Da kam der Löwe des Weges daher und entriss dem Wolf seine Beute. Der schrie von ferne: »Mit Unrecht hast du genommen, was mein war.« Doch lachend erwiderte ihm der Löwe: »Dir hat wohl ein Freund das Schaf nach Recht und Gesetz geschenkt?« Wie habgierige Räuber, wenn die Zeit es ergibt, gegeneinander gehen, zeigt diese Fabel. Ein Wolf sah eine Ziege an einem steilen Abhang weiden. Weil er nicht an sie herankommen konnte, forderte er sie von unten auf, zu ihm hinab zusteigen, damit sie nicht aus Versehen abstürze. Er sagte, die Wiese bei ihm sei besser, da auch das Gras hier besonders kräftig wachse. Sie aber antwortete ihm: »Nicht mich rufst du zu einem Weideplatz, sondern du hast selbst kein Futter.« So haben auch die Übeltäter unter den Menschen nichts von ihren listigen Plänen, wenn sie Leuten, von denen sie durchschaut werden, Übles antun wollen. Ein Wolf sah, wie ein Lamm aus irgendeinem Fluss trank. Er suchte einen vernünftigen Anlass, um es zu fressen. Deshalb stellte er sich weiter oben an das Ufer und warf dem Lamm vor, dass es das Wasser trübe mache und ihn nicht trinken lasse. Als das Lamm entgegnete, dass es am Ufer stehe und trinke und es auch nicht möglich sei, dass jemand, der weiter unten stehe, das Wasser oberhalb dieser Stelle durcheinander bringe, ließ der Wolf von dieser Begründung ab und sagte: »Aber du hast im vorigen Jahr meinen Vater beleidigt.« Als das Lamm entgegnete, es sei noch nicht einmal ein Jahr alt, sagte der Wolf zu ihm: »Auch wenn du in der Lage bist, dich geschickt zu rechtfertigen, werde ich dich deshalb etwa nicht fressen?« Die Geschichte veranschaulicht, dass bei denjenigen, die die Absicht haben, eine Untat zu begehen, auch eine gelungene Rechtfertigung keinen Eindruck macht. Während ein Wolf unterwegs war, fand er Gerste auf irgendeinem Feld. Weil er diese als Nahrung nicht gebrauchen konnte, ließ er sie stehen und ging weg. Dann traf er aber ein Pferd und führte es zu dem Feld. Er sagte, er habe Gerste gefunden. Er habe sie selbst nicht gefressen, sondern sie für das Pferd bewacht, da er so gern dem Geräusch seiner Zähne lausche. Darauf erwiderte das Pferd: »Ja, mein Freund, wenn Wölfe in der Lage wären, Gerste als Nahrung zu gebrauchen, dann hättest du niemals die Ohren dem Magen vorgezogen.« Die Geschichte zeigt, dass die eigentlich Bösen, auch wenn sie Anständigkeit versprechen, kein Vertrauen verdienen. Ein Wolf, der sich satt gefressen hatte, sah ein Schaf auf der Erde liegen und merkte, dass es sich aus Angst vor ihm hingeworfen hatte. Da trat er heran und machte ihm Mut: »Wenn du mir drei Wahrheiten sagst«, sagte er, »werde ich dich freilassen.« Da sagte das Schaf: »Erstens wäre ich dir lieber gar nicht begegnet. Zweitens wünschte ich, da es nun soweit ist, dass du blind wärest. Drittens mögen alle Wölfe verrecken! Wir haben euch nichts getan, und doch seid ihr unsere ärgsten Feinde.« Gegen diese Offenheit konnte der Wolf nichts einwenden, und er ließ das Schaf laufen. Die Fabel zeigt, dass die Wahrheit manchmal auch auf Feinde Eindruck macht. Der Wurm, der im Morast verborgen lebt, kam auf die Erde herauf gekrochen und erzählte allen Tieren: »Ich bin ein Arzt, der sich auf die Medizin versteht gleich wie der Götterarzt Paian*.« »Und wie dann«, bemerkte der Fuchs, »hast du, der du andere heilst, die eigene Lahmheit nicht heilen können?« Die Fabel zeigt, dass die Theorie ohne die Praxis nichts taugt. *Paian,Paion, Päon: "Nothelfer", der Götterarzt, auch Beiname des Apollon als Heilgott. An einem Wege stand ein Feigenbaum. Dort sah der Wurm die Schlange schlafend liegen; bei ihrem Anblick ergriff ihn Neid wegen ihrer Länge. Und weil er ihr gleich zu werden wünschte, ließ er sich neben sie fallen und versuchte immer neu, sich auszustrecken, bis dass er das Maß überspannte und unversehens barst. So ergeht es denen, die mit den Stärkeren in Wettbewerb treten. Sie werden eher selbst zerbrochen, als dass sie es jenen gleichzutun vermögen. Ein Mann bereitete ein Gastmahl vor, um einen lieben Freund zu bewirten. Da lud auch sein Hund einen anderen, ihm befreundeten Hund ein mit den Worten: »Lieber Freund, komm, speise mit mir!« Der Hund folgte der Einladung, erblickte die große Tafel, trat heran und überlegte: »Ah, welch große Freude ist mir da eben zuteil geworden! Unversehens ist mir das zugefallen, und so will ich bis zum Überdruss schwelgen.« Während er das bei sich erwog und mit dem Schwanz wedelte, richtete er seinen Blick auf den Freund, der ihm zum Mahle geladen hatte. Als aber der Koch des schweifwedelnden Hundes ansichtig wurde, packte er ihm am Schenkel und warf ihn zur Tür hinaus. Wieder auf die Beine gekommen, trollte sich der Hund unter lautem Gebell. Als nun die anderen Hunde sich sehen ließen und ihnV fragten: »Wie hast du gespeist?« erwiderte er ihnen: »Volltrunken von dem, was ich zu mir nahm, habe ich nicht einmal den Weg gesehen, auf dem ich wieder herauskam.« Die Fabel beweist, dass man den Unfähigen nicht vertrauen darf. Ein Hirt hatte seine Ziegen auf die Weide getrieben. Als er sah, dass sie sich unter wilde Ziegen gemischt hatten, trieb er, als es Abend wurde, alle zusammen in seine Höhle. Am nächsten Tag kam ein starkes Unwetter auf, und er konnte die Ziegen nicht wie gewöhnlich auf die Weide treiben. Also versorgte er sie in der Höhle. Seinen eigenen Ziegen warf er nur so viel Futter vor, dass sie keinen Hunger bekamen. Den fremden aber gab er mehr, um auch sie zutraulich werden zu lassen. Als aber das Unwetter aufgehört hatte und er alle wieder auf die Weide trieb, machten sich die wilden Ziegen davon und liefen zu den Bergen. Der Hirt warf ihnen ihre Undankbarkeit vor: Obwohl sie größere Fürsorge erhalten hätten, verließen sie ihn. Da drehten sie sich um und sagten: »Aber gerade deswegen sind wir besonders vorsichtig. Denn wenn du uns, die wir dir gestern zugelaufen sind, besser versorgst als die anderen, die schon lange bei dir sind, dann ist es klar, dass du, wenn danach wieder andere zu dir kommen, jene uns wiederum vorziehst.« Die Geschichte zeigt, dass man sich nicht über die Freundschaft von Leuten freuen sollte, die uns als neue Freunde ihren alten Freunden vorziehen. Denn wir sollten bedenken, dass die, wenn unsere Freundschaft in die Jahre kommt und sie anderen ihre Zuneigung schenken, auch jene vorziehen. Die Affen versammelten sich und berieten sich über die Notwendigkeit, eine Stadt zu gründen. Sie beschlossen es und waren im Begriff, das Werk zu beginnen, da hielt sie ein alter Affe zurück, indem er darauf hinwies, dass sie leichter gefangen werden könnten, wenn man sie innerhalb eines Walles fände. Eine alte Frau hatte ein Augenleiden. Sie rief einen Arzt gegen ein Honorar zu sich. Er kam zu ihr und jedes Mal, wenn er Salbe auftrug und die Frau die Augen geschlossen hatte, schaffte er nach und nach ihre gesamte Habe fort. Als er aber alles herausgetragen und die Frau geheilt hatte, verlangte er das vereinbarte Honorar. Weil sie aber nicht zahlen wollte, brachte er sie vor Gericht. Sie erklärte, sie habe dem Arzt tatsächlich ein Honorar versprochen, wenn er ihre Augen geheilt habe. Jetzt aber sei sie trotz seiner Behandlung in einem noch schlimmeren Zustand als vorher. »Damals nämlich sah ich alle meine Möbel im Haus, jetzt aber kann ich gar nichts mehr sehen.« So ziehen sich die schlechten Menschen aufgrund ihrer Habgier Schimpf und Schande zu. Die heutige Ameise war einst ein Mensch, der sich mit der Landwirtschaft befasste, aber nicht genug an den Mühen hatte, die er für seine eigenen Aufgaben aufwandte, sondern dauernd seine Augen auch auf fremden Besitz warf und den Nachbarn ihre Erträge wegnahm. Zeus aber ärgerte sich über dessen Habgier und verwandelte ihn in dieses Tier, das Ameise heißt. Er hatte seine Gestalt zwar verändert, aber nicht seinen Charakter. Denn bis heute läuft er auf den Feldern herum und sammelt Körner des Weizens und der Gerste, die anderen gehören, und hebt sie für sich auf. Die Geschichte zeigt, dass die von Natur aus Bösen, auch wenn sie besonders hart bestraft werden, ihr Wesen nicht verändern. Im Sommer ging eine Ameise über das Feld, sammelte Weizen und Gerste und hob sich das Getreide auf als Nahrung für den Winter. Ein Käfer sah dies und bedauerte ihr schweres Schicksal, weil sie sich zu einer Zeit abmühte, wo die anderen Tiere frei von Anstrengungen seien und sich erholten. Auch der Käfer ruhte sich damals aus. Später aber, als der Winter kam und der Mist vom Regen aufgelöst war, kam der Mistkäfer hungrig zur Ameise und bat sie darum, dass sie ihm etwas von ihrer Nahrung gebe. Sie sagte aber zu ihm: »Du, Mistkäfer, wenn du dich damals angestrengt hättest, als du mir meinen Fleiß vorwarfst, würde dir jetzt das Futter nicht fehlen.« So ergeht es denen, die sich, solange es ihnen gut geht, keine Gedanken um die Zukunft machen und dann, wenn sich die Umstände ändern, in großes Unglück geraten. Eine durstige Ameise war zum Quell gekommen, wurde von der Strömung fortgeschwemmt und drohte zu ertrinken. Eine Taube sah es, brach einen Zweig von einem Baum und warf ihn in das Wasser. Die Ameise kletterte darauf und rettete sich so. Da stellte ein Vogelsteller der Taube nach, um sie mit einer Leimrute einzufangen. Dies sah die Ameise und biss den Vogelsteller in den Fuß. Vor Schmerz ließ er die Rute fallen, und sogleich konnte die Taube entfliehen. Die Fabel zeigt, dass man seinen Wohltätern dankbar sein soll. Die Bäume machten sich einst auf den Weg, um sich einen König zu salben. Dabei sagten sie zu dem Ölbaum: »Sei König über uns!« Doch der Ölbaum antwortete ihnen: »Soll ich meine Fettigkeit hassen, die Gott und die Menschen an mir priesen, und hingehen, um über die Bäume zu herrschen?« Da sprachen die Bäume zum Feigenbaum: »Komm und regiere uns!« Doch der Feigenbaum entgegnete ihnen: »Soll ich meine Süßigkeit und meine gute Frucht hingeben und mich aufmachen, um über die Bäume zu herrschen?« Da wandten sich die Bäume an den Dornbusch: »Komm, sei du König über uns!« Da sprach der Dornbusch zu den Bäumen: »Wenn ihr mich wirklich zum König über euch salben wollt, nun, dann tretet in meinen Schutz! Wenn nicht, dann soll Feuer von dem Dornbusch ausgehen und die Zedern des Libanon verschlingen.« Bettelpriester* besaßen einen Esel. Sie waren es gewohnt, diesem alles, was sie hatten, aufzuladen, und ihre Runden zu ziehen. Als er eines Tages vor Erschöpfung starb, zogen sie ihm das Fell ab. Aus der Haut stellten sie Trommeln her und schlugen auch darauf. Als ihnen einmal andere Bettelpriester begegneten und sie fragten, wo denn der Esel sei, sagten sie, dass er tot sei. Aber er bekomme so viele Schläge, wie er sie nicht einmal zu Lebzeiten ertragen musste. So ergeht es auch manchen Sklaven, die sich von niederer Arbeit nicht befreien können, auch wenn sie aus der Sklaverei entlassen sind. * Bettelpriester oder Agyrten: Wahrsager, wandernde Zauberer, Heiler und Beschwörer im antiken Griechenland. Am bekanntesten die Metragyrten, die im Dienste der Großen Mutter Kybele – einer phrygischen Fruchtbarkeitsgöttin – standen. Zwei Frösche, deren Tümpel die heiße Sommersonne ausgetrocknet hatte, gingen auf die Wanderschaft. Gegen Abend kamen sie in die Kammer eines Bauernhofes und fanden dort eine große Schüssel Milch vor, die zum abrahmen aufgestellt worden war. Sie hüpften sogleich hinein und ließen es sich schmecken. Als sie ihren Durst gestillt hatten und wieder ins Freie wollten, konnten sie es nicht: die glatte Wand der Schüssel war nicht zu bezwingen, und sie rutschten immer wieder in die Milch zurück. Viele Stunden mühten sie sich nun vergeblich ab, und ihre Schenkel wurden allmählich immer matter. Da quakte der eine Frosch: »Alles Strampeln ist umsonst, das Schicksal ist gegen uns, ich gebe es auf!« Er machte keine Bewegung mehr, glitt auf den Boden des Gefäßes und ertrank. Sein Gefährte aber kämpfte verzweifelt weiter bis tief in die Nacht hinein. Da fühlte er den ersten festen Butterbrocken unter seinen Füßen, er stieß sich mit letzter Kraft ab und war im Freien. Von zwei Hähnen, welche um Hennen miteinander kämpften, behielt der eine die Oberhand über den andern. Der Überwundene zog sich zurück und verbarg sich an einem dunklen Orte; der Sieger aber flog aufwärts, stellte sich auf eine hohe Wand und krähte mit lauter Stimme. Da schoss jählings ein Adler herab und nahm ihn mit sich fort. Nunmehr kam der Versteckte ungehindert wieder aus seinem Verschlupf hervor und gesellte sich zu den Hennen. Die Bienen missgönnten den Menschen ihren Honig. Sie kamen zu Zeus und baten ihn, ihnen die Kraft zu verleihen, mit ihren Stacheln alle, die sich ihren Waben näherten, zu stechen und zu töten. Zeus aber ärgerte sich über sie wegen ihrer Missgunst und richtete es so ein, dass sie, wenn sie jemanden stachen, ihren Stachel und anschließend auch ihr Leben verloren. Diese Geschichte dürfte auf missgünstige Menschen zutreffen, die es darum sogar ertragen, selbst Schaden zu erleiden. In einer hohlen Eiche stellten Bienen Honig her. Ein Hirte überraschte sie bei ihrer Arbeit und schickte sich an, ihnen den Honig wegzunehmen. Sie aber flogen von allen Seiten herbei und stachen ihn mit ihren Stacheln. Schließlich rief er aus: »Ich gehe ja schon, ich brauche keinen Honig, wenn ich es deshalb mit den Bienen zu tun bekomme.« Unrecht Gut bringt den, der ihm nachjagt, in Gefahr. Delphine und Wale stritten miteinander. Als der Streit auszuarten drohte, tauchte ein Gründling auf und versuchte, die Streitenden auseinander zu bringen. Einer der Delphine ergriff das Wort und sagte zu ihm: »Wir wollen uns lieber im Kampf gegenseitig umbringen als dich als Streitschlichter hinnehmen.« So ergeht es anscheinend auch manchen Menschen, die keine Anerkennung genießen, wenn sie einen Streit schlichten wollen. Diebe drangen in ein Haus ein, fanden dann aber nichts weiter als einen Hahn. Sie packten diesen und verschwanden. Als er aber von ihnen als Opfer dargebracht werden sollte, bat er sie, ihn am Leben zu lassen. Er sagte, er sei den Menschen nützlich, weil er sie im Morgengrauen zur Arbeit wecke. Doch sie erwiderten ihm: »Ja, gerade deshalb haben wir noch mehr Grund, dich zu opfern. Denn weil du jene weckst, lässt du uns nicht stehlen!« Die Geschichte zeigt, dass die Dinge den Übeltätern am meisten schaden, die den anständigen Menschen nützlich sind. Jemand fing eine Dohle, band einen Faden an ihren Fuß und schenkte sie seinem Kind. Sie konnte aber das Leben unter den Menschen nicht ertragen, und als sie für einen Augenblick losgelassen wurde, floh sie und erreichte ihr Nest. Als sich aber das Band in den Zweigen verwickelte, konnte sie nicht mehr fortfliegen, und als sie sterben sollte, sprach sie: »Ach, ich Unglückselige; weil ich die Knechtschaft bei den Menschen nicht aushalten konnte, habe ich auch noch mir selbst das Leben genommen!« Diese Geschichte könnte auf jene Menschen passen, die sich geringen Gefahren entziehen wollen und dann unbeabsichtigt in weitaus gefährlichere Situationen geraten. Eine hungrige Dohle setzte sich auf einen Feigenbaum. Sie fand aber, dass die Feigen noch nicht reif waren. Also wollte sie warten, bis sie gereift waren. Als ein Fuchs sah, womit die Dohle ihre Zeit verbrachte und den Grund dafür von ihr erfuhr, sagte er: »Du bist wirklich auf dem falschen Weg, liebe Freundin, indem du dich einer Hoffnung hingibst, die zwar zu täuschen, aber niemals zu ernähren weiß.« Auf einen Menschen, der die Unwahrheit sagt. Zeus wollte einen König der Vögel einsetzen und er gab ihnen einen bestimmten Zeitpunkt an, zu dem sie sich einfinden sollten. Eine Dohle aber, die sich ihrer Unansehnlichkeit bewusst war, ging überall herum und hob die Federn auf, die anderen Vögeln ausgefallen waren, und steckte sie sich an. Als der Tag gekommen war, kam sie bunt geschmückt zu Zeus. Als Zeus vorhatte, die Dohle wegen ihrer auffallenden Erscheinung zum König zu ernennen, ärgerten sich die anderen Vögel und umringten die Dohle. Und jeder einzelne Vogel nahm seine Feder aus ihrem Gefieder wieder heraus. So geschah es, dass sie ihren Federschmuck verlor und wieder eine Dohle wurde. So ist es auch bei den Menschen: Solange die Schuldner fremdes Geld besitzen, scheinen sie bedeutend zu sein. Sobald sie es aber zurückgeben, finden sie sich so wieder, wie sie ursprünglich waren. Eine Dohle, die sich von den anderen Dohlen durch ihre Größe unterschied, verachtete ihre Artgenossen. Sie schloss sich den Raben an und wollte mit ihnen zusammenleben. Diese aber störten sich an ihrem Aussehen und ihrer Stimme, schlugen und verjagten sie. Und als die Dohle von den Raben vertrieben worden war, kam sie wieder zu ihren Artgenossen zurück. Aber weil sich die Dohlen über ihre Überheblichkeit ärgerten, nahmen sie, sie nicht wieder auf. So geschah es, dass sie von beiden ausgeschlossen wurde. So ergeht es auch den Menschen, die ihre Heimat verlassen, die Fremde vorziehen und dort nicht anerkannt werden, weil sie eben Fremde sind, und von den eigenen Mitbürgern wegen ihrer Überheblichkeit abgelehnt werden. Als eine Dohle Tauben erblickt hatte, die in einem Taubenschlag gutes Futter erhielten, färbte sie sich weiß und kam zu den Tauben, um an derselben Mahlzeit teilzunehmen. Solange die Dohle keinen Ton von sich gab, glaubten sie, dass sie eine Taube sei, und ließen sie an das Futter heran. Als sie aber einmal aus Versehen etwas sagte, da erkannten sie ihre Stimme und verjagten sie. Und da sie kein Taubenfutter bekommen konnte, kehrte sie wieder zu den Dohlen zurück. Aber jene erkannten sie wegen ihrer Farbe nicht und hielten sie von der gemeinsamen Mahlzeit fern. So geschah es, dass sie zwei Dinge zu bekommen versuchte, aber keines wirklich bekam. Aber auch wir müssen uns mit dem, was wir haben, zufrieden geben und dabei bedenken, dass die Gier nach mehr nicht nur keinen Nutzen bringt, sondern oft auch zum Verlust des Vorhandenen führt. Eine Drossel lebte in einem Myrtenbusch. Weil die Früchte so süß waren, konnte sie nie genug kriegen. Aber ein Vogelsteller lauerte ihr auf, stellte ihr eine Falle, während sie dort saß, und fing sie. Und als sie sterben sollte, sagte sie: »Ach, ich Unglückliche, weil mein Futter so süß war, verliere ich mein Leben.« Die Geschichte passt auf einen Menschen, der unersättlich ist und an seiner Gier zugrunde geht. Eine Taube hatte großen Durst. Als sie auf einem Gemälde einen Krug mit Wasser abgebildet sah, nahm sie an, dass es ein wirklicher Krug sei. Darum erhob sie sich mit großem Schwung und stürzte sich unversehens auf das Gemälde. So passierte es ihr, dass sie sich die Flügel brach, auf die Erde fiel und von einem, der zufällig vorbeikam, gefangen wurde. So stürzen sich manche Menschen in ihr Verderben, wenn sie sich aufgrund heftiger Begierden ohne Überlegung mit den Dingen befassen. Eine Eiche und ein Schilfrohr stritten über ihre Stärke. Als aber ein heftiger Wind aufkam, bog sich das Schilfrohr, neigte sich vor dem Wehen des Windes und blieb fest im Boden. Die Eiche aber, die sich dem Wind mit ganzer Kraft entgegenstemmte, wurde entwurzelt. Die Geschichte zeigt, dass es keinen Zweck hat, mit den Mächtigeren zu streiten oder ihnen Widerstand zu leisten. Die Eichen führten Klage vor Zeus: »Weshalb hast du uns erschaffen, da es uns doch bestimmt ist, von den Menschen gefällt zu werden?« Jener hingegen erwiderte: »Dass ihr gefällt werdet, daran bin nicht ich, sondern seid ihr selbst schuld. Denn ließet ihr euch keine Stämme wachsen, würde euch die Axt auch nicht fällen.« Weil die Esel einmal darüber aufgebracht waren, dass sie fortwährend Lasten tragen und Leiden erdulden mussten, schickten sie Gesandte zu Zeus, um eine Befreiung von den Mühen zu erbitten. Weil Zeus ihnen aber zeigen wollte, dass dies unmöglich ist, erklärte er, sie würden dann von ihren Leiden befreit, wenn sie beim Pinkeln einen Fluss entstehen ließen. Und weil jene annahmen, dass er es ernst meinte, stellen sie sich seitdem bis auf den heutigen Tag an die Stelle, wo sie sehen, dass schon einer von ihnen hingepinkelt hat, um auch selbst dort zu pinkeln. Die Geschichte veranschaulicht, dass das Schicksal, das jedem einzelnen bestimmt ist, nicht zu beeinflussen ist. Die Eule, weise wie sie ist, riet den Vögeln, die Aussaat von Eicheln von Anfang an nicht zuzulassen, sondern sie unbedingt zu vernichten, denn von der Eiche käme ein schädlicher Stoff, mit dem man sie fangen würde. Wiederum, als die Menschen Leinsaat säten, gebot sie ihnen, auch diesen Samen aufzupicken, denn nicht zum Guten werde er ihnen angebaut. Zum dritten: Als sie einen Bogenschützen sah, prophezeite sie: »Dieser Mensch wird euch mit euren eigenen Schwingen erjagen, denn ob er gleich zu Fuß geht, wird er geflügelte Geschosse auf euch los lassen.« Die Vögel aber glaubten ihr nicht, sondern sagten, sie sei unvernünftig, ja verrückt. Später aber, durch Erfahrung belehrt, staunten sie und hielten sie in der Tat für den weisesten aller Vögel. Wenn sie sich daher zeigt, fliegen alle auf sie zu, weil sie ja alles wisse, sie aber pflegt nicht mehr Rat mit ihnen, sondern ächzt nur. Zwei Feinde fuhren mit demselben Schiff. Weil sie möglichst weit voneinander entfernt sein wollten, ging der eine zum Bug, der andere zum Heck, und dort blieben sie. Ein mächtiger Sturm packte das Schiff und ließ es kentern. Da fragte der Mann am Heck den Steuermann mit welchem Teil das Schiff zuerst unterzugehen drohe. Der Steuermann erwiderte ihm: »Mit dem Bug.« Daraufhin sagte er: »Dann tut es mir nicht mehr leid zu sterben, wenn ich mit ansehen kann, wie mein Feind vor mir ertrinkt.« So nehmen es manche Menschen aus Hass gegen ihre Mitmenschen auf sich, auch selbst großes Leid zu ertragen, nur um jene im Unglück zu sehen. Fischer, die hinausgefahren waren, um etwas zu fangen, und, obwohl sie sich lange Zeit abgemüht hatten, nichts fangen konnten, saßen mutlos in ihrem Boot. Da sprang ein Thunfisch, der verfolgt und mit gewaltigem Zischen aus dem Wasser geschleudert wurde, aus Versehen in den Kahn. Die Fischer packten ihn und gingen in die Stadt, um ihn zu verkaufen. So schenkt oft das Glück, was die Kunst nicht schafft. Eine Fledermaus fiel auf die Erde und wurde von einer Katze gefangen. Als sie schon sterben sollte, bat sie um ihr Leben. Als aber die Katze sagte, sie könne sie nicht freilassen, denn sie sei eine natürliche Feindin aller geflügelten Lebewesen, sagte die Fledermaus, sie sei kein Vogel, sondern eine Maus, und daraufhin wurde sie losgelassen. Später aber fiel sie wieder auf die Erde, wurde von einer anderen Katze gefangen und bat darum, dass diese sie freilasse. Als die Katze aber erklärte, sie sei eine Feindin aller Mäuse, sagte die Fledermaus, sie sei keine Maus, sondern eine Fledermaus. Da wurde sie wiederum frei gelassen. So passierte es ihr, dass ihr die zweimalige Namensänderung das Leben rettete. Aber es ist nun notwendig, dass auch wir nicht immer auf demselben Standpunkt beharren, sondern bedenken, dass diejenigen, die sich den Umständen anpassen, oft auch den schlimmsten Gefahren entgehen. Eine Fledermaus, ein Dornbusch und eine Möwe schlossen sich zu einer Gemeinschaft zusammen und entschieden sich, ein Geschäft zu betreiben. Da lieh die Fledermaus Geld und stellte es für diesen Zweck zur Verfügung. Der Dornbusch brachte Kleidung mit. Die Möwe kaufte Erz, lud es auf ein Schiff und fuhr los. Als ein heftiges Unwetter aufkam und das Schiff kenterte, verloren sie zwar alles, konnten sich aber an Land retten. Seit jenem Vorfall sucht die Möwe das Erz auf dem Grund des Meeres, weil sie glaubt, es irgendwann einmal zu finden. Die Fledermaus zeigt sich aus Angst vor den Gläubigern nie am Tag, sondern geht nur nachts auf Nahrungssuche aus. Der Dornbusch schließlich ist hinter den Kleidern her und krallt sich an den Mänteln der Vorübergehenden fest, weil er damit rechnet, einen von denen, die ihm gehört hatten, wiederzuerkennen. Die Geschichte zeigt, dass wir uns mit den Dingen besonders beschäftigen, mit denen wir früher unsere Schwierigkeiten hatten. Eine Fliege fiel in einen Fleischtopf. Als sie daraufhin in der Fleischbrühe zu ertrinken drohte, sagte sie zu sich selbst: »Ja, ich habe gegessen, getrunken und gebadet. Auch wenn ich jetzt sterben muss, macht es mir nichts aus.« Die Geschichte zeigt, dass die Menschen den Tod leicht ertragen, wenn er unerwartet auf einen zukommt. In irgendeiner Vorratskammer war Honig ausgeflossen. Da flogen Fliegen herbei und fraßen davon. Da der Honig so süß war, ließen sie nicht mehr davon ab, ihn zu ernten. Als dann aber ihre Beine festklebten und sie nicht mehr wegfliegen konnten, riefen sie sterbend aus: »Ach, wir Unseligen! Wir gehen für einen kurzen Lustgewinn zugrunde!« So wird die Gier für viele zur Wurzel zahlreicher Übel. Die Flüsse kamen zusammen und machten dem Meer Vorwürfe: »Wenn wir in dich münden, führen wir Süßwasser, das trinkbar ist, du aber machst es salzig und ungenießbar.« Als das Meer diese Vorwürfe hörte, sprach es: »So kommt halt nicht, dann werdet ihr nicht salzig.« Diese Geschichte legt Zeugnis ab gegen solche, die zu Unrecht andere beschuldigen, während sie von ihnen eher Vorteil haben. Eine fleißige Witwe hatte mehrere Dienerinnen. Sie war es gewohnt, sie in der Nacht beim ersten Hahnenschrei zur Arbeit zu wecken. Da sie sich ununterbrochen fast zu Tode abmühten, meinten sie dem Hahn den Hals umdrehen zu müssen. Denn sie glaubten, er sei die Wurzel des Übels, weil er ihre Herrin in der Nacht wecke. Es kam aber dazu, dass ihr Leiden nach dieser Tat noch schlimmer wurde. Denn die Herrin wusste die Stunde der Hähne nicht mehr und weckte ihre Dienerinnen noch früher. So ist es auch bei vielen Menschen: Die eigenen Absichten bringen einem selbst Leid und Not. Eine Frau, die kürzlich ihren Mann verloren hatte, saß jeden Tag an seinem Grab und weinte. Ein Bauer, der unweit davon beim pflügen war, bekam Lust, mit ihr etwas anzufangen. Er ließ also seine Ochsen stehen, ging hin und weinte mit ihr. »Warum weinst auch du?« fragte sie. Er antwortete: »Ich habe meine schöne Frau begraben, und wenn ich weine, erleichtert es meinen Schmerz.« Sie sprach: »Mir geht es ebenso.« Da sagte er: »Wenn wir nun in die gleiche Trauer geraten sind, warum tun wir uns nicht zusammen? Ich werde dich lieben wie sie, und du mich wie deinen Mann.« Solchermaßen überredete er die Frau, gesellte sich zu ihr und stillte seine Lust. Inzwischen aber kam ein Dieb, spannte die Ochsen aus und trieb sie fort. Als der Bauer zurückkam und die Ochsen nicht mehr fand, begann er zu weinen und sich wehklagend an die Brust zu schlagen. Die Frau fand ihn, wie er heulte und fragte: »Du weinst wieder?« - »Ja«, sprach er, »jetzt weine ich wirklich.« Eine Frau hatte einen Trunkenbold zum Manne. Da sie ihn von seiner Sucht befreien wollte, kam sie auf folgende List. Sie wartete, bis er vollkommen betrunken und wie ein Toter ohne Gefühl war, nahm ihn dann auf die Schultern, brachte ihn ins Leichenhaus, setzte ihn dort ab und entfernte sich. Zu der Zeit, als sie annehmen musste, dass er bereits wieder nüchtern sei, kehrte sie zurück und klopfte an die Tür des Leichenhauses. Als jener fragte:» Wer hat geklopft?«, erwiderte die Frau: »Ich bin es, der Mann, der den Toten ihr Essen bringt.« Jener entgegnete: »Statt zu essen, guter Freund, bring mir lieber zu trinken! Es tut mir leid, dass du ans Essen und nicht ans Trinken dachtest.« Da schlug sich die Frau vor die Brust. »Ach, ich Unglückliche, nicht das Geringste hat mir meine List eingebracht! Du, Mann, hast nicht nur keine Lehre angenommen, sondern bist gegenüber früher sogar noch gesunken, weil dir die Sucht zur Gewohnheit geworden ist.« Die Fabel zeigt, man soll sich mit schlechten Verhaltensweisen nicht zu lange abgeben; mit der Zeit werden sie nämlich, auch wenn es der Betreffende nicht will, zur Gewohnheit. Eine Witwe besaß einen Vogel, der jeden Tag ein Ei legte. Sie hielt es aber für möglich, dass er auch zweimal am Tag Eier legen werde, wenn sie ihm mehr Futter hinstreue. Und als sie dies tat, passierte es, dass der Vogel fett wurde und dann nicht einmal mehr ein einziges Ei legte. Die Geschichte zeigt, dass die meisten Menschen aus Habsucht mehr wollen und dann verlieren, was sie schon haben. Im Sommer verheiratete sich Helios*, und alle Tiere freuten sich dessen. Auch die Frösche feierten ihn. Einer von ihnen aber sprach: »Ihr Narren, wafeiert ihr? Wenn Helios schon allein den ganzen Wald austrocknet, wie übel wird es unerst ergehen, wenn er nach der Heirat noch seinesgleichen zeugt?« *griech. Sonnengott nach Prof. Dr. B. Fahland 1902
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