"Ich aber erforsche das Leben"
Die Lebensgeschichte des Naturforschers Jean-Henri Fabre

Volksbildung

Duruy war der große Wiedererbauer des Unterrichtswesens in Frankreich. War auch der Schöpfer der französischen konfessionslosen Bildung, führte die Erwachsenenbildung ein. Zu diesen Abendkursen waren Arbeiter, Bauern, Bürger, junge Mädchen eingeladen. Die Idee war: Ein jeder sollte zwei Rollen im Leben spielen können, wovon die eine die Sorge ums tägliche Brot zum Inhalt hatte, die andere das geistige Leben.

Praktisches Ergebnis war eine Bevölkerung, deren Bildung den Anforderungen des Industriezeitalters besser entsprach. Ergebnis war auch, dass die Mädchen nicht mehr unter der ausschließlichen Kuratel des Klerus standen. Zum ersten Mal öffnete sich ihnen: das goldene Tor der Wissenschaften. Die Interessen der Kirche traf diese Unternehmung im Innersten. Fabre war es, der in Avignon diese freien Kurse übernahm. In der alten Abtei von Saint-Martial drängte sich unter dem Spitzbogengewölbe die Menge, die ihn hören wollte. Er unterrichtete einfach, lebendig, malerisch. Er war überzeugt, dass man schon von den ersten Lebensjahren an Mädchen und Knaben Dinge lehren konnte, an die damals keiner dachte.

Eben Naturgeschichte zum Beispiel, für ihn ein Buch, in dem alle Welt lesen konnte. Eine Wissenschaft, die nur durch die akademische Herangehensweise mühselig und steril geworden war, vom Buchstaben erstickt. Die Mädchen überhäuften seinen Tisch mit Blumen, um von ihm ihre Namen, ihre Geschichte zu erfahren. Die staatlichen Kurse fanden abends statt, zweimal die Woche, wechselten mit den städtischen Kursen ab. Für die letzteren wünschten sich die Stadtväter die Verbreitung praktischer Kenntnisse. Das Volk sollte sie in Landwirtschaft, Handwerk, Industrie anwenden können. Doch konnte es nicht noch eine andere Art von Hörern geben, die, »ohne sich um die Anwendungen zu bekümmern, die die wissenschaftliche Theorie erfahren könnte, vor allem wünschten, in das Spiel der Kräfte eingeweiht zu werden, die die Natur beherrschen, und so ihrem Geist neue wunderbare Horizonte zu öffnen«? So schrieb der mit der neuen Aufgabe Betraute an die Stadtverwaltung. »Soll das heißen, dass jede rein wissenschaftliche Wahrnehmung, die nicht unmittelbar angewandt werden kann, rigoros aus dem Unterricht verbannt werden muss? Soll das heißen, dass, eingeschlossen in einen unüberwindlichen Kreis, man den Wert jeder Wahrheit auf soundsoviel Prozent abschätzen und alles mit Stillschweigen übergehen muss, was nur dem lobenswerten Wunsch zu wissen dient? Nein, meine Herren, denn dann würde diesen Kursen eine wesentliche Sache fehlen, der belebende Geist!«

Die freien Kurse von Saint-Martial ließen die Frömmler tuscheln, die Sektierer sich zusammenrotten, riefen die Intoleranz der Pedanten hervor. Von den Kollegen am lycée hatte der Volksbildner keine Unterstützung. Man ging dort so weit, ihn öffentlich zu denunzieren. Vom Katheder herab wurde er als subversiver, gefährlicher Mensch bezeichnet. Den einen missfiel, dass dieser »irreguläre« Mensch, Sohn seiner einsamen Studien, durch seine Arbeiten, durch die Magie seines Unterrichts einen so besonderen Platz einnahm. Die anderen empfanden die Neuerung, die Wissenschaft auch den Mädchen zugänglich zu machen, als Ketzerei und Skandal. Er hatte den Mädchen über die Befruchtung der Blüten erzählt! Ihre Intrigen triumphierten. Duruy war gerade den unaufhörlichen Angriffen der Klerikalen unterlegen. Mit ihm verlor der Lehrer des Volks, der Lehrer der Mädchen, den Freund und Beschützer. Seine Vermieterinnen, fromme alte Jungfern, machten sich zum Instrument seiner Gegner, kündigten ihm unvermittelt. Zum Ende des Monats musste er ausziehen. Arglos hatte er keine schriftliche Vereinbarung getroffen.

Er war so arm, dass er nicht einmal die Kosten eines Umzugs bestreiten konnte. Die Zeiten waren ernst, man war im Krieg mit Deutschland. Aus dem belagerten Paris konnte er nicht einmal die bescheidenen Erträge seiner ersten Lehrbücher bekommen. In Avignon hatte er keine Bekannten, keine Beziehungen. Er hatte immer fern jeder Gesellschaft gelebt. Er dachte an Mill. Der rettete ihn. Mill war gerade Mitglied des Unterhauses geworden und für einige Wochen nach London gereist. Doch seine Antwort kam umgehend: Er sandte dreitausend Francs ohne Sicherheit. Angeekelt schüttelte der »Irreguläre« sein Joch ab, gab seine Professorenstelle auf, zog sich nach Orange zurück. Er fand ein einsames Haus am Stadtrand, durch eine herrliche Platanenallee mit der Straße verbunden. Eine Einsiedelei, die ihn ein wenig an die von Mill erinnerte. Serignan, letztes Ziel seines Lebens, war von dort aus beinahe schon zu sehen.

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