Ernst Haeckel

Biographische Angaben
nach Dr. Angelika Weiß-Merklein

Ernst Haeckel: Naturwissenschaftler, Arzt, Künstler und Philosoph (1834-1919)

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Der Lebenslauf von Ernst Haeckel
Entwicklungsjahre und Studentenzeit
Der Weg zur Zoologieprofessur und Institutsgründung
 in Jena

Wissenschaft, Darwinismus und Weltanschauung
Tabellarischer und
  Narrativer Lebenslauf

Der Naturwissenschaftler Haeckel
Die Selektionstheorie
Die Biogenetische Regel oder "Durchlaufen wir in der
 Embryonalentwicklung ein Fischstadium?"

Leben aus toter Materie?
Die Herkunft des Menschen
Der Philosoph Haeckel
Der Künstler Haeckel
Ernst Haeckels Suche nach dem idealen Symmetriege
 setz

Ästhetische Naturbetrachtung
Naturformen-Kunstformen
Was ist die Ursache für das Schönheitsempfinden?
  Haeckel als Wegbereiter der Neuroästhetik

Wirkungen
Kritik
Würdigung und Weiterführung
Ausblick
Lebensabend und Bilanz


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Der Lebenslauf von Ernst Haeckel

Entwicklungsjahre und Studentenzeit

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Geboren wurde Ernst Heinrich Philipp August Haeckel am 16. Februar 1834 als zweiter Sohn des Regierungsrates Carl Gottlob Haeckel und dessen Ehefrau Charlotte, geborene Sethe, in Potsdam.

Ernst Haeckel mit seinen Eltern (1857)

Haeckels Jugendzeit fiel in die Periode der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848. Er erlebte Adelsherrschaft, politische Zersplitterung und die nationale Ohnmacht. Haeckel hasste von Jugend an Junkertum und feudale Kleinstaaterei. Als reifer Gelehrter stand er unter dem Einfluss der Bismarck-Ära. Als Greis wurde er mit dem ersten Weltkrieg und dessen verheerenden Folgen konfrontiert.
Die Erziehung durch den Vater war streng, doch hat er wohl von ihm das lebhafte, leicht erregbare, leidenschaftliche Temperament geerbt. Er selbst schrieb es dem Einfluss seines Vaters zu, dass er sich später nicht in der Erforschung des Einzelnen verlor, sondern sich immer einen allgemeinen Überblick bewahrte. Von der Mutter, an die er eine außergewöhnlich starke Bindung hatte, erbte er die große Sensibilität. So schreibt er einmal:
"Gleich meiner Mutter konnte ich oft in lebhaftes Entzücken über den Anblick einer bunten Blume, eines niedlichen Vogels, eines farbenreichen Sonnenuntergangs geraten". Beide Eltern waren literarisch (hier waren es vor allem die Werke Goethes) und philosophisch sehr interessiert und gaben diese Neigungen an ihren Sohn weiter. Im Jahre 1835 übersiedelte die Familie nach Merseburg. Dort verbrachte Ernst Haeckel seine Kindheit und Jugend bis zum 18. Lebensjahr. Den ersten Unterricht erhielt Haeckel von seiner Mutter, unter ihrer Anleitung sammelte er erste gärtnerische Erfahrungen. Auch eine kleine Schmetterlings­sammlung legte er an. Im sechsten Lebensjahr engagierten die Eltern den Privatlehrer Karl Gude, der Haeckel sehr früh mit der systematischen Botanik vertraut machte, etwas , was er im Domgymnasium, das er bis zum Abitur 1852 besuchte, sehr vermisste. Den Lehrplan hat er heftig kritisiert:
"Das Hauptgewicht wurde auf die genaue Kenntnis des griechischen und römischen Altertums gelegt, auf die völlige Beherrschung der griechischen und lateinischen Sprache (....) Erst in zweiter Linie kam die deutsche Sprache und Literatur, sodann Französisch und Mathematik. In dritter Linie, ganz im Hintergrunde, standen Geographie und Naturkunde".
Aus dieser Erfahrung heraus hat Haeckel sich später immer wieder für eine Stärkung des naturkundlichen Unterricht in den Schulen eingesetzt.
Doch auch in der Domschule gab es einen Lehrer (Otto Gandtner), der Mathematik und Naturkunde unterrichtete und der es wagte, in der traditionsreichen 300 Jahre alten Domschule physikalische und chemische Experimente durchzuführen. Naturwissenschaftliche Kenntnisse erwarb sich Haeckel überwiegend in seiner Freizeit, in der er botanisierte und ein umfassendes Schülerherbarium anlegte. Schon damals zeigte sich sein Zeichentalent. Weiter las er viel: Klassiker der deutschen Literatur, Natur- und Reisebeschreibungen und Darwins "Naturgeschichtliche Reisen". Durch das Buch "Die Pflanze und ihr Leben" von Matthias Jacob Schleiden, das er als 14jähriger las, wurde er so stark beeindruckt, dass er beschloss, Botanik zu studieren. Nach bestandenem Abitur - am 12. März 1852 - immatrikulierte sich Ernst Haeckel jedoch auf den dringenden Wunsch des Vaters hin in Berlin als Student der Medizin und der Naturwissenschaften. Seine hochgespannten Erwartungen wurden im Verlauf des ersten Semesters nur teilweise erfüllt, denn ein eigentliches botanisches Institut für mikroskopische Untersuchungen existierte in Berlin nicht. Auch von Würzburg, wo er sein Studium unter Virchow fortsetzte, war er sehr enttäuscht, fühlte sich unglücklich und meinte für das Medizinstudium total ungeeignet zu sein. In den Briefen an seine Eltern zeigte sich seine Verzweiflung:

Ernst Haeckel als Student

"Ja, armer Dr. med, ärmster stud. med. Wenn Ihr wüsstet , wie es mit diesem aussieht. Ich will euch gleich ganz offen sagen, dass mir der stud. med. noch niemals so leid gewesen ist, wie jetzt. Ich habe jetzt die feste Überzeugung, ... dass ich nie praktischer Arzt werden, nicht einmal Medizin studieren kann."
Dabei versicherte Haeckel, dass es nicht der erste Ekel der Sezierübungen sei, der ihn hinderte, sondern "eine unüberwindliche Abscheu gegen alles Krankhafte".
Die Eltern, von den Stimmungsschwankungen ihres sensiblen Sohnes nicht überrascht, aber um seine Zukunft besorgt, ermunterten ihn immer wieder, das Medizinstudium auf jeden Fall bis zum praktischen Arzt fortzusetzen, ohne ihn jedoch "unbarmherzig zu zwingen", wie Haeckel später darstellte. Immer wieder versicherte der Vater ihm, dass er den Arztberuf später nicht ausüben müsse. Haeckel wusste dabei, dass es nur über das Studium der Medizin möglich war, sich eingehend mit vergleichender Anatomie und Entwicklungsgeschichte zu beschäftigen sowie intensive mikroskopische Untersuchungen und Meereszoologie zu betreiben. Er war fasziniert von der Formenvielfalt und Schönheit der niederen Seetiere und arbeitete weit über das geforderte Maß hinaus. So schrieb er an seine Eltern:
"Erst heute komme ich dazu, Euch wieder einmal zu schreiben, da die wundervollen Polypen, Quallen, Korallen usw. mich die ganze vorige und jetzige Woche von früh 5 bis abends 10 beschäftigt und mir das größte Vergnügen gemacht haben."
Aber auch Virchows mikroskopischen Untersuchungen an krankhaft veränderten Geweben und Zellen konnte er für sein Arbeitsgebiet etwas abgewinnen. Die Virchowschen Gedanken zur Zellforschung waren neuartig und originell und Haeckel berichtet begeistert:
"Ja, über die Zellentheorie geht mir nichts! (...) Für mich ist es das Anziehendste, was es gibt und dem Studium und der Erforschung der Zelle möchte ich alle meine Kräfte widmen.... Vivant cellulae!"
Entscheidend für seinen wissenschaftlichen Werdegang wurden für Haeckel die Vorlesungen des damals berühmten Johannes Peter Müller über vergleichende Anatomie und Physiologie. Einen weiteren Bildungsimpuls gaben seine Reisen: eine Tropenreise, ein Kindheitstraum, weiterhin Reisen an die französische und italienische Mittelmeerküste und nach Helgoland, die er mit Müller durchführte. Auf Helgoland reifte sein Entschluss, seine Lebensarbeit der Meeresbiologie zu widmen.
Im Dezember 1854 legte Haeckel in Berlin das "Examen physicum" ab, Ostern 1855 setzte er sein Studium in den klinischen Fächern in Würzburg fort. Nicht mehr die praktische Medizin brachte ihn jetzt in Konflikte, sondern es waren weltanschauliche Probleme. Nicht nur Virchow, sondern die Mehrzahl der Naturforscher und Ärzte vertraten materialistische Anschauungen und erschütterten das Fundament seines christlichen Weltbildes. Haeckel war es unbegreiflich, dass man "mit dieser Überzeugung leben konnte und dabei ein edler, guter Mensch war." Er ahnte nicht, dass er wenige Jahre später selbst sich radikal vom christlichen Glauben abkehren würde.
In Würzburg wurde er unter Virchow "Königlich bayrischer Assistent an der pathologisch-anatomischen Anstalt zu Würzburg" mit monatlich 12 1/2 Gulden und als Virchow bald darauf nach Berlin gerufen wurde, folgte ihm Haeckel nicht, sondern entschied sich für die wissenschaftliche Zoologie. Wieder reiste er an das Meer, dieses Mal nach Nizza, um sich den Krebstieren zuzuwenden. Er promovierte 1857 über den Flusskrebs. Sein Staatsexamen legte er im August des gleichen Jahres in Berlin ab. Im März 1858 wurde er approbiert und eröffnete formell eine Praxis im väterlichen Haus. Der Erfolg seiner ärztlichen Tätigkeit war gering, kein Wunder, hatte er die Praxis doch nur von 5-7 Uhr morgens geöffnet. In seiner freien Zeit wollte er bei Johannes Müller vergleichend-anatomische und mikroskopische Studien betreiben, doch starb Müller unerwartet. In dieser schwierigen Situation bot ihm seine Cousine Anna Sethe Halt. Am 14. September 1858 verlobte er sich in Heringsdorf mit ihr.


Haeckels erste Frau Anna Sethe

Der Weg zur Zoologieprofessur und Institutsgründung in Jena

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An der kleinen Universität Jena war die Zoologie in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. keine selbständige akademische Disziplin. Erst langsam entwickelte sich über das Zoologische Museum unter Gegenbaur ein selbständiger Zweig. Bevor Haeckel diesen übernehmen konnte, musste er sich habilitieren. Zunächst aber trat er - wieder mit finanzieller Unterstützung des Vaters - eine Reise nach Messina, Rom und Neapel an. In Florenz kaufte er sich ein leistungsfähiges kleines Mikroskop, dessen Anschaffung er dem Vater wegen des hohen Preises zunächst nicht mitzuteilen wagte, das sich aber später bei seinen Planktonuntersuchungen als außerordentlich wertvoll erwies. Zwar arbeitete er zunächst angestrengt über Seesterne und unbekannte Radiolariengruppen, doch wurde er dann so von der Landschaft Italiens auf der Insel Ischia überwältigt, dass er - unter dem Einfluss des norddeutschen Dichters Hermann Allmers - ernsthaft überlegte, ob er Landschaftsmaler werden solle. Doch der Vater zeigte sich dieses Mal unnachgibig und wollte keinesfalls für diesen Beruf eine Unterstützung gewähren. Schließlich gelang es Haeckel bis zu seiner Abreise 120 neue Radiolarienarten sicher zu unterscheiden. Über dieses Thema habilitierte er sich dann schließlich am 4. März 1861. Und schon am 24. April begann er im Zoologischen Museum vor neun eingeschriebenen Hörern seine erste Vorlesung. Noch aber war Haeckel nicht Professor und benötigte weiterhin die finanzielle Unterstützung des Vaters. Erst mit der Ernennung zum außerordentlichen Professor im Juni 1862 und dem damit verbundenen höheren Gehalt war die Voraussetzung für eine Eheschließung gegeben. Zwei Monate später heiratete Haeckel Anna Sethe in Berlin.
Haeckel war im Sommer 1860 auf Darwins epochemachendes Werk "Entstehung der Arten" aufmerksam geworden und bekannte sich sofort zu dieser neuen Theorie. In den folgenden Jahren interpretierte er nicht nur die Evolutionstheorie, sondern erweiterte sie was den Ursprung des Lebens und die Herkunft des Menschen anbetrifft. Im Gegensatz zu Darwin wies er auch sofort auf die weltanschaulichen Konsequenzen hin. Der damals 29-jährige setzte mit dem offenen Bekenntnis zu Darwin seine eben erst begonnene Laufbahn aufs Spiel. Am Tage seines 30. Geburtstages wurde er für seine Radiolarienwerke ausgezeichnet und just am selben Tag starb nach kurzem Krankenlager seine über alles geliebte Frau Anna. Haeckel war nicht fähig, an der Beisetzung teilzunehmen, der Vater reiste aus Berlin an, um ihm zur Seite zu stehen. Ausweg und Halt fand Haeckel nun in der wissenschaftlichen Arbeit. Belohnt wurde er mit einer ordentlichen Professur in Jena 1865. Der erste Schritt zur Gründung eines Zoologischen Institutes in Jena war getan, auch wenn die Ausstattung in jeder Hinsicht primitiv war. In einer Eingabe an das Weimarische Staatsministerium forderte Haeckel Mittel für die Einrichtung, denn "mit einer Porzellanschüssel, einem Napf, einer alten Pinzette und einigen alten Scheren" ließe sich schwerlich arbeiten. Er erhielt 300 Reichstaler zur instrumentalen Ausstattung und 1869 eine geräumige Dienstwohnung. Parallel zu dieser enormen Verbesserung entwickelte sich auch die Zahl der Studenten. Schließlich erreichte Haeckel 1882 den Neubau eines modernen und großzügig angelegten Zoologischen Instituts im Garten des ehemaligen Döbereinerschen Hauses. Am Ende seines Lebens hat Haeckel immer wieder betont, dass ihm keine andere als die vom Geist der Goethe-Zeit geprägte Jenaer Universität so günstige Schaffensmöglichkeiten hätte bieten können. 1883 konnte er auch in sein Wohnhaus, die "Villa Medusa", einziehen, die er in unmittelbarer Nähe des Instituts im Stile eines oberitalienischen Landhauses hatte bauen lassen.





Wissenschaft, Darwinismus und Weltanschauung

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Die Jahre 1865/66 gehören zu den erfolgreichsten und wissenschaftlich fruchtbarsten in Haeckels Leben. Im Wintersemester 1865/66 las er erfolgreich über Darwin: Haeckel musste den größten verfügbaren Hörsaal benutzen. Neben 120 eingeschriebenen Hörern nahmen Laien aller Berufsstände teil.
Ausgehend von der Forderung nach einer streng mechanistisch-kausalen Naturbetrachtung begründete Haeckel in seinem Werk der "Generellen Morphologie" ein philosophisches System des Monismus. Darin lehnte er jede dualistische Weltanschauung ab und postulierte die Entstehung der ersten Organismen aus anorganischer Materie. In die Zeit 1872 fällt die Formulierung des Biogenetischen Grundgesetzes, wonach die Individualentwicklung eine kurze Rekapitulation der Stammesentwicklung darstellt. Schon zu Lebzeiten erntete er für seine Thesen Kritik; besonders polemisch waren die Auseinandersetzungen über die Entwicklung des Menschen aus affenähnlichen Vorstufen. Haeckel antwortete:
"Interessant und lehrreich ist dabei nur der Umstand, dass besonders diejenigen Menschen über die Entdeckung der natürlichen Entwicklung des Menschengeschlechts aus echten Affen am meisten empört sind und in den heftigsten Zorn geraten, welche offenbar hinsichtlich ihrer intellektuellen Ausbildung und cerebralen Differenzierung sich bisher noch am wenigsten von den gemeinsamen tertiären Stammeltern entfernt haben."
1867 ging Haeckel eine zweite Ehe mit Agnes Huschke, der jüngsten Tochter des Jenaer Anatom Emil Huschke, ein.

Ernst Haeckel mit seiner zweiten Frau Agnes Huschke und den Kindern Walter und Elisabeth (1874)

In den ersten Ehejahren folgte ihm Agnes mit Begeisterung in allen Situationen, später erwies sich die Verbindung als problematisch. Agnes litt unter den oft monatelangen Trennungen während Haeckels zahlreicher Reisen ebenso wie unter den zunehmend wissenschaftlichen und weltanschaulichen Kämpfen, in die ihr Mann verstrickt war. Vor allem die Anwendung der Evolutionstheorie auf die Stammesgeschichte des Menschen stieß nicht nur in kirchlichen Kreisen auf erheblichen Widerstand. Im Mittelalter hätte ihn sein Buch "Anthropogenie" vermutlich vor die Inquisition gebracht. Mit dem hochverehrten Lehrer Rudolf Virchow entspann sich eine Kontroverse, die in erbitterter Gegnerschaft endete. Vor allem als Haeckel öffentlich forderte, dass die Evolutionstheorie in den Schulen gelehrt werden müsse, unterstellte Virchow ihr staatsgefährdende Tendenzen und boykottierte somit ein neues Unterrichtsgesetz. Überzeugt von der Wahrheit seiner Ansichten kämpfte Haeckel mit allen Mitteln für die Anerkennung und Popularisierung der Evolutionstheorie. Sein vielzitierter Kampfruf war: "Impavidi progrediamur" (Uner­schrocken lasst uns vorwärts schreiten). Vortragsreisen durch 13 Städte bis Triest riefen zwar die Zustimmung breiter Bevölkerungsschichten hervor, jedoch auch den erbitterten Widerstand der Kirche. Darwins und Haeckels Schriften wurden in höheren Schulen verboten, 1882 wurde dann in Preußen der biologische Unterricht in der Oberstufe der Gymnasien abgeschafft.
Während der aufreibenden Kämpfe um den Entwicklungsgedanken ließ Haeckel aber seine wissenschaftlichen Arbeiten nicht ruhen. 1872 - 1876 wurde auf der sog. Challenger-Expedition (von der Royal Society durchgeführt) an 354 verschiedenen Stellen in den Weltmeeren die Tiefseefauna untersucht. Haeckels Auswertung des Challenger-Materials dauerte zwölf Jahre und beanspruchte ihn stark. In dieser Zeit unternahm er noch 16 ausgedehnte Reisen, u.a. in die Tropen und in den Vorderen Orient. Seine Eindrücke und Erlebnisse gab er in den "Indischen Reisebriefen" wieder oder stellte sie künstlerisch dar, so etwa in 50 Aquarellen von der Orientreise. Mit dem Abschluss der Challenger-Monographien widmete sich Haeckel verstärkt der Popularisierung des Evolutionsgedankens und dem Ausbau des Monismus. 1892 opponierte Haeckel in einer Reihe von Aufsätzen gegen das reaktionäre Volksschulgesetz. Er forderte einen stärker naturwissenschaftlich orientierten Unterricht und eine Bevorzugung der neueren Sprachen gegenüber den klassischen, weiterhin angemessenen Kunstunterricht und mehr sportliche Betätigung. In seinem berühmten Buch "Die Welträtsel (1899)" versuchte er seine monistische Philosophie zu veranschaulichen. Das Buch wurde Haeckels größter Erfolg. Es wurde in über 400000 Exemplaren aufgelegt und in mehr als 30 Sprachen übersetzt. ( 1903 erschien noch eine billige Volksausgabe) Der antiklerikale Charakter des Buches rief einen Sturm der Entrüstung hervor, zumal Haeckel immer wieder die Trennung von Staat und Kirche forderte. Ein Abgeordneter des preußischen Herrenhauses warnte eindringlich vor dem "unheilvollen Einfluss, welchen die ‚Welträtsel' besonders auf Primaner, Volksschullehrer und höhere Töchter ausübe". Als Antwort darauf begann Haeckel eine Vortragsreihe.

Die kirchlichen Kreise antworteten mit aller Schärfe und Haeckel bemerkte dazu: "Die Flut von Beschimpfungen und Verleumdungen aller Art, welche die 'frommen Blätter'- voran der lutherische Reichsbote und die römische Germania- über mich ergossen, überstieg alles bisher dagewesene."

Um die gesellschaftliche Reaktion zu begreifen, müssen wir uns näher mit dem Forschungsgebiet Haeckels befassen. Was können wir nun zunächst über den Naturwissenschaftler Haeckel sagen?





Der Naturwissenschaftler Haeckel

Die Selektionstheorie

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Im Sommer 1860, als Haeckel an seiner Radiolarienmonografie arbeitete, wurde er auf das Werk von Charles Darwin (1809-1882) "Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl" aufmerksam. Sofort bekannte er sich zu dieser neuen Theorie, die das Weltbild des Menschen völlig umwälzte. Darwins Theorie entthronte den Menschen als Krone der Schöpfung. Sein fester Glaube an die Unveränderlichkeit der Arten war nach einer fünfjährigen Weltreise erschüttert worden und er schrieb 1844:
"Endlich kamen Lichtstrahlen, und ich bin beinahe überzeugt, dass die Spezies nicht unveränderlich sind. Mir ist, als gestände ich einen Mord ein. Der Himmel bewahre mich vor Lamarckschem Unsinn einer 'Neigung zum Fortschritt', der Anpassung in Folge des langsam wirkenden Willens der Tiere.." (Darwin: Die Entstehung der Arten).
Dabei war es das Verdienst des französischen Biologen Jean Baptiste Lamarck (1744 -1829), den Entwicklungsgedanken, der seit dem 18. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung gewann, auszuformuliert zu haben. Das erste Gesetz Lamarcks lautet: "Organe ändern sich durch den Gebrauch bzw. Nichtgebrauch". Im zweiten Gesetz folgerte Lamarck, dass diese Eigenschaften vererbbar seien. Ferner nahm Lamarck als Ursache der Höherentwicklung einen Vervollkommnungstrieb an.
Wie steht nun Haeckel zu Lamarck? Haeckel hob immer wieder neben Lorenz Oken und Wolfgang Goethe Lamarck als Vorläufer Darwins hervor. Er hielt auch die Vererbung erworbener Eigenschaften für weitaus bedeutungsvoller als Darwin und entwickelte dazu eine eigene fragwürdige Theorie. Sein ultimatives Vorgehen, sein Desinteresse an den Veröffentlichungen Gregor Mendels, haben nicht dazu beigetragen, die wichtige Grundfrage der Entwicklung und Vererbung sachlich zu klären. Eigene Vererbungsexperimente, wie sie z. B. Darwin an Tauben und Mendel an Erbsen durchgeführt haben, unternahm Haeckel nicht.
Wie lautet nun die Darwinsche Selektionstheorie?
Darwin ging von folgenden Tatsachen aus:
1. Alle Arten sind veränderlich. Es spielen jedoch nur die vererbbaren Variationen eine Rolle.
2. Alle Arten erzeugen weitaus mehr Nachkommen als schließlich überleben oder sich fortpflanzen.
Darwin folgert daraus:
Es findet eine natürliche Auslese, die Selektion, statt. Dieser "Kampf ums Dasein" äußert sich so, dass diejenigen Nachkommen, die etwas besser angepasst sind als ihre Artgenossen, nicht nur die größten Überlebenschancen, sondern auch die größten Fortpflanzungschancen haben. Dadurch werden die günstigeren Merkmale - sofern sie eine erbliche Basis haben - über ihre Träger bevorzugt an die nächste Generation weitergegeben. So findet eine schrittweise Änderung in jeder Generation statt.
Jede der aufeinander folgenden Veränderungen ist gegenüber ihrem Vorgänger einfach. Betrachtet man aber das komplexe Endprodukt und vergleicht es mit dem ursprünglichen Produkt, so wird die schöpferische Seite der Selektion deutlich. Sie ist nämlich keine rein negative Kraft, die nur Schwächliche ausrottet, sondern wirkt dynamisch in dem Sinne, dass immer besser angepasste Individuen, schließlich neue Arten entstehen. Und dies war das Revolutionäre, denn dass neue Rassen innerhalb einer Art entstehen können, war aus der Züchtung hinlänglich bekannt.
War Haeckel nun lediglich ein deutscher Darwin?
Er war Darwin freundschaftlich verbunden, wechselte Briefe mit ihm und besuchte ihn mehrmals in England. Darwin, Zeit seines Lebens mit äußerster Disziplin gegen Krankheiten ankämpfend, äußerte sich einmal bewundernd gegenüber Haeckel:
"Ich glaube, dass Sie an einem Tag so viel arbeiten wie ich in einer Woche." Des öfteren ermahnte er ihn aber auch zu mehr öffentlicher Zurückhaltung.
Haeckel hat Darwins Theorie nicht nur entschieden verteidigt, sondern auch weiterentwickelt.
Abstammungs- und Verwandtschaftsverhältnisse wurden lange Zeit ausschließlich aufgrund fossiler Funde rekonstruiert. Haeckel befasste sich nun intensiv mit einer Methode, mit der er meinte, nicht mehr vollständig auf das lückenhafte paläontologische Material angewiesen zu sein. Er wandte die von ihm aufgestellte Biogenetische Regel an.





Die Biogenetische Regel oder "Durchlaufen wir in unserer Embryonalentwicklung ein Fischstadium?

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Bereits 1842 hatte Darwin in einem Entwurf und in seinem Werk "Entstehung der Arten" den Zusammenhang zwischen Individualentwicklung und Stammesentwicklung dargestellt. Er hat die Bedeutung der embryologischen Forschungen für die Erkenntnis der Evolution der ausgestorbenen Vorfahren rezenter Tiere hoch eingeschätzt, betonte aber auch, dass Unähnlichkeit in der Embryonalentwicklung noch keinen Beweis für eine verschiedene Abstammung liefert. Ausführliche vergleichende Untersuchungen der Embryonalstadien verschiedener Wirbeltiere (einschließlich des Menschen) sind aber das Verdienst Haeckels und führten zur Formulierung der Haeckelschen oder 'Biogenetischen Grundregel': "Die Ontogenese ( = Individual-Entwicklung) ist die kurze und schnelle Wiederholung der Phylogenese ( = Stammesentwicklung)".

Säugetierembryonen

Es werden also während der kurzen und schnellen Keimesentwicklung wichtige Stadien wiederholt, die die Ahnenformen im Laufe der langandauernden Stammesentwicklung durchlaufen haben. Wie schon Darwin wies Haeckel auf mögliche Störungen in der Ontogenese und auf Neuentwicklungen hin. Auch die Embryonalstadien unterliegen der Evolution, doch ist diese Veränderung weitaus weniger spektakulär. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass während der Ontogenese nicht Ahnenformen, sondern ursprüngliche Organisationsformen, nicht fertige Organe, sondern deren Anlagen wiederholt werden. So konnte die moderne Genetik zeigen, dass die Steuerung der Embryonalentwicklung durch die in der befruchteten Eizelle vollständig enthaltenen Informationen erfolgt. Auch haben Forscher des Instituts für Genetik in Köln vor wenigen Jahren die aufregende Tatsache vorgestellt, dass so höchst unterschiedliche Lebewesen wie eine Fliege, ein Frosch, eine Maus und ein Mensch bei ihrer Embryonalentwicklung verblüffend ähnliche Steuerungsmechanismen aufweisen. So hat Haeckels Rekapitulationsthese, obwohl mit Beobachtungsdaten unbeweisbar, zahlreiche Entdeckungen und Erkenntnisse in der Embryonalentwicklung provoziert und nimmt nicht nur wissenschaftshistorisch einen wichtigen Stellenwert in der Evolutionsforschung ein.






Leben aus toter Materie?

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Haeckel hat es gewagt, auch das Problem vom Ursprung des Lebens anzugehen. In gewisser Weise hat er heutige Erkenntnisse vorweggenommen und Darwins Theorie in entscheidender Weise erweitert. Haeckel bezeichnete als den größten Mangel an Darwins Theorie, dass jener für die Entstehung des ersten Organismus einen Schöpfungsakt annimmt. Er schreibt dazu: "Die moderne Entwicklungslehre hat uns aber überzeugt, dass eine solche 'Schöpfung' niemals stattgefunden hat, dass das Universum seit Ewigkeit besteht und dass das Substanzgesetz alles beherrscht.... Die Vorstellung, dass der 'persönliche Gott' als denkendes immaterielles Wesen die Welt auf einmal aus nichts erschaffen hat, ist durchaus unvernünftig und im Grunde nichtssagend." (Aus: Haeckel: Die Lebenswunder, Nachdruck Jena 1904, S. 47).
Haeckel erklärt, dass das Leben von selbst aus anorganischer Substanz, aus toter Materie entstanden sei. So wie anorganische Kristalle sich in der Salzlösung bilden und wachsen, sollen in einem Prozess der sogenannten 'Selbstzeugung' (Autogenie) einfache Eiweißklümpchen entstanden sein, denen er Lebensqualitäten zuschrieb, wenn sie sich ernähren, also Stoffwechsel betreiben, wachsen und dann schließlich in Teilstücke zerfallen ( = Fortpflanzung). Aus solchen Urgebilden, die er 'Moneren' (monos, griech. = einzeln) nannte, sollten sich dann im Laufe von Jahrtausenden mehrzellige Organismen und schließlich das gesamte Organismenreich entwickelt haben. Die Hypothese Haeckels der Autogenie konnte bis heute experimentell nicht bewiesen werden, die Entstehung eines 'Protobionten' aus anorganischer Materie ist noch nicht gelungen. Dennoch konnte Haeckel in einigen wesentlichen Punkten bestätigt werden. 1932 hat MILLER in seinem berühmten Versuch in einem Glaskolben die Bedingungen der Atmosphäre auf der Früherde nachvollzogen, indem er Gasmischungen aus Methan, Ammoniak, Wasserdampf und Wasserstoff elektrischen Entladungen aussetzte. Die Ergebnisse dieser Experimente waren aufregend. Organische Moleküle, wie man sie nur in lebenden Systemen findet, setzten sich in diesem Kolben spontan zusammen. So konnte man organische Säuren und Harnstoff, aber auch mehrere 'biotische' Aminosäuren (Bausteine der Eiweißstoffe) nachweisen. Die bei diesen Reaktionen wirksamen chemischen Kräfte ergeben nicht etwa ein "Chaos" aller möglichen Verbindungen, sondern es entstehen bevorzugt ganz bestimmte Stoffe, die nur in lebenden Systemen vorkommen. Bereits vor 20 Jahren sind Experimente gelungen, bei denen Bakteriengeißeln, hochorganisierte Strukturen, ja sogar Viren, sich aus ihren "Teilmolekülen" selbst zusammenbauen. "Selfassembly" erster lebender Urzellen erscheint zunehmend als Möglichkeit. Sind aber erst einmal Informationsträger (Erbsubstanz) und Funktionsträger (Eiweiße, die als Biokatalysatoren wirken) zusammengetreten, ist nach EIGEN ein so genannter 'Hypercyclus' entstanden, der ungeheuer lebendig ist und sich in einem 'Selbstbeschleunigungsprozess' schnell vermehrt.





Die Herkunft des Menschen

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DARWIN hat in seinem Werk "Über die Entstehung der Arten" zur Evolution des Menschen sehr vorsichtig bemerkt: "Licht wird auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte fallen" . Haeckel ging hier weiter. Mutig behandelte er in seinen Vorlesungen die Abstammung des Menschen von affenähnlichen Ahnen. So schreibt er: "Unsere monistische Anthropologie ist zu der klaren Erkenntnis gelangt, dass der Mensch nur ein winziges Teilchen dieses universalen Ganzen ist, ein plazentales Säugetier, das erst in späterer Tertiärzeit sich aus einem Zweige der Primatenordnung entwickelt hat" (Aus: Haeckel: Die Lebenswunder, Nachdruck Jena 1904, S. 291).
Nun gab auch Darwin seine anfängliche Zurückhaltung auf und veröffentlichte 1871 seine Schrift "Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl". 1874 folgte Haeckels umfassende Ergänzung zu diesem Problem: "Die Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen." Der "Systematische Stammbaum des Menschen" demonstriert deutlich Haeckels Auffassungen über die Ahnenstufen des Menschen.
An der Wurzel einer alten knorrigen Eiche vermitteln die strukturlosen Moneren den Übergang zwischen anorganischen und organischen Naturkörpern. Die weiteren Übergangsformen der menschlichen Entwicklung erschloss Haeckel nach dem "Biogenetischen Grundgesetz". Dabei hob Haeckel immer wieder hervor, dass der Mensch nicht von heute noch lebenden Menschenaffen, sondern von längst ausgestorbenen Formen, wie Dryopithecus fontani oder Pliopithecus abzuleiten sei. Als hypothetisches Zwischenglied hatte er die Gattung Pithecanthropus angenommen.

Entwicklung des Gesichts und Pithecanthrophus alatus (Ölgemälde von Prof. Max, Geschenk an Haeckel zum 60. Geburtstag)

Der holländische Arzt Eugen Dubois fand 1891 in Mitteljava ein Schädeldach und einen Oberschenkel einer menschenähnlichen Übergangsform, die er als das von Haeckel postulierte Zwischenglied ansah. Wie wir heute wissen, gehören die Pithecanthropinen der Homo erectus Gruppe an. Auch Haeckels Vorstellung von Asien als Wiege der Menschheit wurde schon sehr früh falsifiziert. Nichtsdestotrotz hat Haeckel die Darwinsche Evolutionstheorie folgerichtig auf die Abstammungsgeschichte des Menschen übertragen. Und die Entschlüsselung des genetischen Code hat gezeigt, dass alle Lebewesen, so verschieden sie auch zu sein scheinen, auf ihrer molekularen Grundlage erstaunlich einheitlich sind.






Der Philosoph Haeckel

Der Monismus

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Bereits in der Generellen Morphologie der Organismen formulierte Haeckel als philosophische Grundlage seiner Auffassungen im Anschluss an August Schleicher und unter Berufung auf Goethe seinen schon erwähnten MONISMUS, eine naturwissenschaftlich- materialistische Philosophie, wonach keine Materie ohne Geist und kein Geist ohne Materie existiere, sondern "EINS BEIDES zugleich sei" und Gott identisch mit dem allgemeinen Kausalgesetz der Natur selbst sei. Die traditionelle Schulphilosophie dieser Zeit entwickelte ihre Theorien zum Teil bewusst in Antithese zur Wissenschaft, wodurch Haeckel und andere an einer naturwissenschaftlichen Begründung der Philosophie interessiert waren. Haeckel sah als oberstes allumfassendes Naturgesetz das Substanzgesetz als untrennbare Einheit des Gesetzes von der Erhaltung des Stoffes (Lavoisier 1789) und des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft (Robert Meyer 1842) an. Unter Rückgriff auf den Substanzbegriff Spinozas ordnete er dieser Universalsubstanz zwei Attribute zu: Materie als raumerfüllenden Stoff und Energie als bewegende Kraft, später als dritte Eigenschaft noch das Psychom (Empfindung). Diese Universalsubstanz verkörpert seiner Auffassung nach gleichzeitig die Vereinigung der "GOTT-NATUR".

Titelblatt 1892 und Ernst Haeckel als Aufklärer (Lustige Blätter 1900)

Was unterscheidet aber nun den HAECKELSCHEN MONISMUS und einen MATERIALISMUS? Haeckel differenziert nicht zwischen belebter und unbelebter Sphäre der Natur, sondern nach Haeckel ist alles Materielle belebt. Das Materielle hat selbst eine geistig psychische Dimension. Seele ist dabei eine Eigenheit des Materiellen, eine zusätzlich im eigentlichen Materialismus nicht beachtete Dimension der Materie. Insofern formiert sich in seinem Bild der Welt dann auch faktisch ein Dualismus, in dem den Substanzen immer noch zu ihrer Materialität eine Beseeltheit zukommt. Da diese aber notwendige Eigenheit der Materie sei, sei die Konsequenz eben kein Dualismus, sondern Monismus. Dass all dies auf Einzellerbasis möglich sei, führt zu Begriffen wie "Zellgedächtnis" (Mneme), zu "Kristallseelen". Sein Materialismus ist einer der durchgeistigten Materie und eines Geistes, den es nur auf materieller Grundlage geben kann, seine Philosophie entzaubert nicht die Welt des Wunderbaren, GOTT ist identisch mit dem allgemeinen Naturgesetz und der Natur selbst. Haeckel ist auch in seinen philosophischen Anschauungen ein Kind seiner Zeit, denn die grundlegenden Entdeckungen und gewaltigen Fortschritte der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert führten zu einer weitgehend natürlichen und kausalen Erklärung der Lebensprozesse. Erwähnt seien hier die Entdeckung der elektro-magnetischen Induktion durch Faraday 1831, der Energieerhaltungssatz von Joule und Helmholtz, das Periodensystem der Elemente, die Ionenlehre von Svante Arrhenius (1886), die Entdeckung der Röntgenstrahlen (1895) und der Radioaktivität, schließlich die Quantentheorie von Max Planck (1900) bis hin zur Relativitätstheorie. Zusammen mit den schon dargelegten Umwälzungen im Bereich der Biologie ergab sich auch in weltanschaulicher Hinsicht eine Revolution, eine Kampfansage an idealistische und insbesondere religiöse Auffassungen. So wurde 1881 der "Deutsche Freidenkerbund" gegründet, 1892 als Reaktion auf den Schulgesetzentwurf von Zedlitz-Trütschler, der die gesamte Volksbildung unter kirchlichen Einfluss stellen sollte, die "Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur". Großen Aufschwung nahmen auch die Freireligiösen Gemeinden. In diesem Spannungsfeld freigeistiger Reformbestrebungen ist auch die Gründung des "Deutschen Monistenbundes" (1906) zu sehen. Haeckel hatte bereits 1904 auf dem Internationalen Freidenker-Kongress in Rom versucht, eine internationale Institutionalisierung seiner monistischen Weltanschauung zu erreichen. Er hatte 30 Thesen zur Organisation des Monismus formuliert, wobei 20 sich auf den theoretischen und 10 auf den praktischen Monismus beziehen. Unter theoretischem Monismus verstand er eine "reine Weltanschauung auf Grund der Erfahrung, der reinen Vernunft und der Wissenschaft". Diese basiert auf der Evolutionstheorie und geht von der Einheit der Natur und des Kosmos aus und lehnt jede göttliche Offenbarung ab. Er postuliert die Entstehung des Lebens aus anorganischem Material und bezieht den Menschen als Nachfahren affenähnlicher Vorfahren in die Evolution ein. Als praktischen Monismus betrachtete er eine vernünftige Lebensführung auf der Basis des theoretischen Monismus. Wahrheit, Tugend und Schönheit, eine aus den sozialen Instinkten der höheren Tiere abgeleitet Ethik, Trennung von Staat und Kirche, Trennung von Schule und Kirche, Ersetzen des Religionsunterrichts durch vergleichende Religionsgeschichte, monistische Erziehung durch Training von Körper und Geist. Nach jahrelangen Bemühungen, eine zentrale Organisation zu gründen, fand endlich am 11. Januar 1906 in Jena die Gründungsversammlung statt. Ein Jahr später hatte der Monistenbund ca. 2500 Mitglieder. Als Gegenorganisation wurde der evangelische Keplerbund gegründet. Der Erzbischof von München-Freising brandmarkte die Philosophie des Monismus in einem Hirtenbrief. Dennoch hatte der Monistenbund weiter regen Zulauf: 1912 waren bereits 7000 Mitglieder beigetreten.
Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam die Arbeit im Monistenbund immer mehr zum Erliegen. Ab 1933 war der Monistenbund verboten. 1945 wurde er wieder begründet und unter dem Namen "Freigeistige Aktion- Deutscher Monistenbund" bis heute mit dem Sitz in Hannover weitergeführt. Er hat aber lange nicht mehr die Bedeutung wie zu Haeckels Zeiten.



Der Künstler Haeckel

Ernst Haeckels Suche nach dem idealen Symmetriegesetz

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Die Persönlichkeit Ernst Haeckels ist dadurch gekennzeichnet, dass er eigentlich nie den Künstler vom Gelehrten zu trennen vermochte.

     

Fische - Staatsquallen
Kieselskelette

Es ist daher kein Zufall, dass Haeckel seine wissenschaftliche Laufbahn als Zoologe mit dem Studium der einzelligen Radiolarien begann, deren unerschöpfliche Formenvielfalt und deren außergewöhnliche Schönheit und fast perfekte Symmetrie der Kieselskelette ihn faszinierten. Jede neuentdeckte Art war für ihn ein Glücksfang, der ihn "halb unsinnig vor Freude machte". Durch die intensive Beschäftigung mit den Skelettformen der Radiolarien versuchte er Gesetzmäßigkeiten für die Gestaltbildung der anorganischen Materie und der Individuen zu finden. Dabei versuchte er eine organische Grundformenlehre zu gründen, deren Aufgabe es ist, "die Bestimmung der idealen Grundform durch Abstraktion aus der realen organischen Form, und die Erkenntnis der bestimmten Naturgesetze, nach denen die organische Materie die äußere Gesamtform der organischen Individuen bildet."
Haeckel reduzierte die von ihm betrachteten Organismen auf die ihn interessierenden Symmetriegrundmuster, und nicht nur bei den Radiolarien. Bei der Tafel, die Fische zeigen, wird dies besonders deutlich:
Die Nachricht ist eindeutig: Die Lebensform Fisch wird reduziert auf die in dieser Tafel einsichtigen Symmetriebezüge. Bei der Suche nach dem idealen Symmetriegesetz, das durch mathematische Formeln zu beschreiben ist, das Zurückführen auf Grundformen, zeigt sich die Nähe zu Goethe: "Nach ewigen, ehernen, großen Gesetzen müssen wir alle unseres Daseins Kreise vollenden." Haeckel unterschied in seinem System zwei große Hauptgruppen: Axenlose (unregelmäßig gebaute) und Axenfeste (symmetrisch gebaute Formen). Als Ursache für die Formgestaltung sah er zwei formbildende Kräfte an: einen inneren Bildungstrieb (vis plastica interna), gleichbedeutend mit Erblichkeit und einen äußeren Bildungstrieb (vis plastica externa), gleichbedeutend mit Variabilität. Die Wechselwirkung dieser beiden formbildenden Kräfte leitete er offenbar aus der Goetheschen Metamorphosenlehre ab und setzte den inneren Bildungstrieb mit dem Urbild, dem Typus, gleich. Prinzipiell vertrat Haeckel die Ansicht, dass die Ursachen der Formbildung für die anorganische und organische Form die gleichen seien, die Annahme bewusst wirkender Zweckursachen somit unnötig sei.
In der Kunst spielt die Symmetrie als ästhetisches Gestaltungsprinzip eine große Rolle, in der Natur hat die Entstehung von Symmetrien eine tiefe, evolutionsbiologische Wurzel. So steht z. B. der bilateral-symmetrische, aber auch der radiär-symmetrische Bau von Organismen in Zusammenhang mit der Fortbewegung. Aber auch die sexuelle Selektion begünstigt Symmetrien, man denke nur an die Schönheit von Gesichtern. Asymmetrien weisen auf Störungen der homöostatischen Entwicklung hin, symmetrische Individuen besitzen eine höhere reproduktive Fitness. Doch nicht nur das symmetrische Bauprinzip in der Natur, sondern auch in der Technik, steht in engem Zusammenhang mit dem Funktionieren. Wir sprechen von Schönheit der Funktion, nicht von Schönheit als Funktion.
Der Künstler Haeckel zeigt sich auch in der ästhetischen Betrachtung der Natur.





Ästhetische Naturbetrachtung

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Capri - Eine ästhetische Naturbetrachtung strebte bereits Alexander von Humboldt (1769-1859) mit seinen "Ansichten der Natur" an. Die Anregungen Humboldts und des Botanikers Schleiden, nicht die Einzelformen, sondern das Ganze eines Naturgemäldes zu erfassen, nahm Haeckel schon als Gymnasiast auf und diskutierte beispielsweise in einem Schulaufsatz den "Charakter der norddeutschen Landschaft". In seinen späteren Skizzen und Aquarellen versuchte er stets die Physiognomik der Landschaften zu erfassen. Er habe "in jedem Landschaftsbilde einen Charakter - Ausdruck unseres Planeten - erblickt und seine wesentlichen Züge in seinen Skizzen wiederzugeben versucht". Haeckel schuf während seiner über 90 großen Reisen an die 1200 Landschaftsaquarelle, zahlreiche Skizzen und einige Ölbilder, in denen er stets die Natur in ihrer Gesamtheit, als ökologische Einheit festzuhalten versuchte. Dabei betrachtete er sich nicht als vollendeten Künstler: "Ich bin kein vollendeter Künstler, sondern nur ein enthusiastischer Dilettant.".
Er wollte lediglich mit seinen Bildern die sinnlichen Eindrücke der Natur einfangen. Naturbetrachtung und Landschaftsmalerei vermitteln seiner Meinung nach nicht nur Naturgenuss, sondern veredeln und vervollkommnen auch den Menschen. Entsprechend seiner Vorstellung von einer Allbeseeltheit der Natur spricht Haeckel von einer Plasmaseele und er postuliert einen dem Plasma innewohnenden, unbewusst wirkenden Kunsttrieb.




Naturformen-Kunstformen

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Das eindrucksvollste Dokument seiner ästhetischen Naturbetrachtung bildet der 100 Tafeln umfassende Bildband "Kunstformen der Natur" (1899-1904) mit naturgetreuen Abbildungen überwiegend wirbelloser mariner Organismen, aber auch mit einigen Darstellungen höherer Tiere und Pflanzen. Das Buch war das Schmuckstück eines jeden bürgerlichen Haushaltes. Trotz des populärwissenschaftlichen Charakters enthält es eine Fülle von Erstbeschreibungen. Eine der schönsten, immer wieder reproduzierten Formen ist die Meduse Annasethe, eine südamerikanische Form.

Die Meduse Annasethe

Jede Tafel hat zudem eine exemplarische Funktion. Zunächst erscheinen die bunten Tafeln dem Laien fremdartig. Die netzartigen Gefüge der Radiolarien wirken vertraut, doch es überrascht, sie in der Natur zu finden. Haeckel interessieren nicht die existierenden Lebewesen, sondern die Formeigenschaften, die aber nur dann sichtbar werden, wenn man die gallertigen, schleimartigen Zellkörper, die ohnehin bei der Präparation zerstört werden, weglässt und nur die Skelette der Tiere zeichnet, die die organische Stereometrie (eine Botschaft) deutlich machen. In dem Werk werden die Naturformen ganz unvermittelt zu Kunstformen transformiert, wobei Haeckel ausdrücklich darauf hinweist, dass hier alle dargestellten Kunstformen in Wahrheit reale Naturformen seien und von jeder Idealisierung und Stilisierung abgesehen wurde.





Was ist die Ursache für das Schönheitsempfinden? Haeckel als Wegbereiter der Neuroästhetik

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Schon Haeckel suchte nach einer neurobiologischen Erklärung für das Schönheitsempfinden. So gehört die Wahrnehmung der Schönheit der Landschaft für ihn " ... durch die physiologischen Funktionen der Nervenzellen unserer Großhirnrinde, die diese ästhetischen Genüsse bewirken ... zu den vollkommensten Leistungen des organischen Lebens". Das Schönheitsempfinden ist also in "ästhetischen Neuronen" oder "sinnlichen Gehirnzellen" verankert. Aber er wundert sich auch : "Sehr merkwürdig ist, dass für die Schönheit der Landschaft die absolute Unregelmäßigkeit , der Mangel von Symmetrie... die erste Voraussetzung ist." Darauf wusste Haeckel keine Antwort. Schließlich deklariert er eine aufsteigende Entwicklungsreihe der Schönheit der Naturformen "vom Einfachen zum Zusammengesetzten", vom Niederen zum Höheren, wobei die organische Differenziertheit ausschlaggebend ist. Eine Seegurke, ein unansehnliches Gebilde, erscheint uns primitiver und lange nicht so schön wie die evolutionär niedriger stehende Staatsqualle (Abb. 22), die hoch differenziert ist. Das entspricht nach Haeckels Ansicht der Entwicklung des Schönheitsgefühls des Menschen sowohl ontogenetisch vom Kind zum Erwachsenen als auch phylogentisch vom "Wilden und Barbaren zum Kulturkritiker".
Haeckel ist mit seinen Überlegungen zur physiologischen Entstehung von ästhetischen Empfindungen gewissermaßen ein Wegbereiter der Neuroästhetik (sie erklärt die ästhetischen Empfindungen auf neuronaler Basis). Wenn wir als Betrachter die Radiolarien schön finden, hat das etwas mit der Funktionsweise unseres Wahrnehmungsapparates zu tun. Unsere Sinnesorgane und unser Zentralnervensystem sind als Ergebnis einer stammesgeschichtlichen Entwicklung genetisch so programmiert, dass sie in der Lage sind, Regelmäßigkeiten und damit Ordnung zu erkennen. Für einen Organismus muss die Welt voraussagbar sein, sonst kann er nicht in ihr leben. Der Gestaltpsychologe Wolfgang Metzger (1936) sprach in diesem Zusammenhang von einer "Ordnungsliebe der Sinne". Das ist der Grund, weshalb wir Kristalle schön finden oder Organismen, seien sie nun bilateral oder radiärsymmetrisch gebaut.
Ob wir etwas als schön oder hässlich empfinden, beruht unter Anderem auch auf angeborenen Schemata. Weitere Schemata bilden sich neu über Lernprozesse individueller und kultureller Erfahrung. Man denke nur an das von Konrad Lorenz beschriebene Kindchenschema. Da das Gesicht eine große Bedeutung für die zwischenmenschliche Kommunikation hat, erstaunt es nicht, dass es bei Affen und Menschen eine eigene Hirnregion gibt, die dem Gesichtererkennen dient. Ein ästhetisches Vorurteil besonderer Art stellt die Positivbewertung von Pflanzen dar. Vermutlich spiegelt sich in ihr eine archaische, ästhetische Prägung wieder. Wo Pflanzen gedeihen, fanden unsere Vorfahren auch alles, was sie zum Leben brauchten. In ähnlicher Weise ist uns auch eine archaische ästhetische Präferenz für einen Landschaftstyp vorgegeben, in dem sich die Menschwerdung vollzog, nämlich den der Savanne. Die Savannenpräferenz zeigt sich nach Untersuchungen von E. Synek (1998) hauptsächlich im vorpubertären Alter. Danach überlagert sich dieser sekundär eine Vorliebe für den Landschaftstyp, in dem man aufwächst, was man mit Heimat charakterisiert. Hier handelt es sich um eine prägungsähnliche Festlegung, deren neuronale Grundlagen mittlerweile bekannt sind.



Wirkungen

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Die von Haeckel gezeichneten Radiolarien, Polypen, Quallen, Korallen und Algen wurden durch den Jenaer Lithographen Adolf Giltsch meisterhaft umgesetzt und dienten Kunsthandwerkern, Bildhauern, Zeichnern und Architekten als Vorlage zu ornamentaler Gestaltung. Bedeutende Künstler des Jugendstils, der zu dieser Zeit bereits nicht mehr vom floralen, sondern vom abstrakten Stil Henry van de Veldes (1863-1957) geprägt war, bedienten sich dieser neuen Formenwelt, um der Kunst neue Impulse zu verleihen. Die industrielle Revolution brachte es mit sich, dass die maschinelle Herstellung von Möbeln, Teppichen, Tapeten und Stoffen zu einer tausendfachen Vervielfältigung der Muster führte, so dass die herkömmlichen Motive bald erschöpft waren. So eröffneten auch hier die Haeckel'schen Zeichnungen der marinen Organismen eine völlig neue Perspektive.

Welchen Einfluss hatte Haeckel nun auf den deutschen Jugendstil? Der Kunsthandwerker, Bildhauer und Architekt Hermann Obrist (1863-1927) hatte naturwissenschaftliche und medizinische Studien absolviert und betätigte sich später als Künstler, der die Haeckelschen Formen für Skizzen, Zeichnungen, Vasen und Brunnenmodelle benutzte. Der Pariser Architekt René Binet (1806- 1911) nahm eine Radiolarie als Vorbild für das Monumentaltor zur Pariser Weltausstellung 1900:

Ernst Haeckel selbst ließ sein im italienischen Landhausstil erbautes Wohnhaus mit Medusenornamenten als Deckengemälde schmücken, von denen drei noch erhalten geblieben sind.

Auch die Fassade des von ihm 1907 in Jena begründeten Phyletischen Museums wurde auf seinen Wunsch hin mit Stuckornamenten stilisierter mariner Tierformen verziert. Große Freude machte es ihm, als er zur Eröffnung des Oceanographischen Museums in Monaco 1910 im Vestibül einen Kronleuchter bewundern konnte, der einer von ihm dargestellten Meduse nachgestaltet wurde.
Auch wenn Haeckels ästhetische Theorie heute längst Geschichte ist, sind seine Darstellungen der Radiolarien noch immer Gegenstand der Diskussion. So nimmt die moderne Architektur darauf Bezug, weil gerade in der Skelettform der Radiolarien größte Stabilität mit geringsten Mitteln erreicht wird und die Natur hier effiziente Vorbilder für architektonische Gestaltung liefert.



Kritik

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Einige kritische Anmerkungen möchte ich zu Haeckel als Naturwissenschaftler anfügen.

Dabei möchte ich drei Punkte näher betrachten.
1. Bei der Anwendung des Auslesegedankens führte Haeckels Unvorsichtigkeit zu bedenklichen Reaktionen. Im Gegensatz zu Darwin, der einmal in Bezug auf die Entwicklungsstufen schrieb: "Sage nie höher oder niedriger", glaubte Haeckel die Selektionstheorie auf die menschliche Gesellschaft übertragen zu können. In diesem Punkt kann er als Wegbereiter der späteren Sozialdarwinisten angesehen werden, die erfolgreiche und skrupellose Menschen als angepasst bezeichneten und die die partielle Abschwächung des Daseinskampfes durch Sozialpolitik, Bevölkerungskontrolle oder medizinische Versorgung als Verhängnis ansahen. Dies war sicher jedoch nicht im Sinne Haeckels. Stets wandte er sich gegen einen "sittlichen Materialismus", im Sinne von Gier nach materiellen Gütern.
2. Das Biogenetische Grundgesetz, genial und vereinfachend formuliert, hatte scharfe Reaktionen zur Folge, vor allem, weil sein Umgang mit Druckstöcken, die die frühesten Embryonalstadien zeigten, etwas zu großzügig war. So hatte er für drei von ihnen - Hund, Huhn und Schildkröte- einfach dasselbe Klischee verwendet, da sie in dieser Phase ohnehin nicht unterscheidbar wären.
3. Weder Darwin noch Haeckel sahen in der natürlichen Zuchtwahl einen Gegensatz zu Lamarcks "Vererbung erworbener Eigenschaften" beim Zustandekommen von Anpassungen in der Evolution. Darwin spekulierte später über Mechanismen eines Informationsrückflusses von den Körperzellen auf die Keimbahn in seiner "Pangenesis-Theorie", die aber unbeachtet blieb. Haeckel erklärte Phänomene wie die dunkle Haut der Schwarzafrikaner mit der ökologischen Gewohnheit, die - sofern lang genug wirkend - zum erblichen Merkmal einer Art geworden sei. Auch die Asymmetrien, z. B. der Gehäuseschnecken oder der adulten Schollen, Ausnahmen im Formenkanon des Lebens, sind für Haeckel die schönsten Beispiele für die Vererbung erworbener Eigenschaften.
Beruhen also manche von Haeckels Hypothesen und Theorien teilweise auf falschen Grundannahmen, hatten sie jedoch einen großen heuristischen Wert und gaben der weiterführenden Forschung wertvolle Impulse.



Würdigung und Weiterführung

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So schreibt Ernst Mayr, einer der bedeutendsten Evolutionsbiologen der Gegenwart: "Die Evolution ist keine Theorie, sondern eine tausendfach belegte Tatsache". Über die Ursachen des Ablaufs kam es in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts zu einem Zusammenschluss der wichtigsten biologischen Disziplinen und Positionen, die zur so genannten "Synthetischen Theorie" der Evolution führten. Sie basiert auf den Überlegungen Darwins und kann durch das Zusammenwirken von "Genetischer Variabilität" und "Selektion" beschrieben werden. Die genetische Variabilität einer Population wird nicht nur von der Rekombination der elterlichen Erbanlagen und 'zufälligen' Mutationen bestimmt. Es konnte gezeigt werden (EIGEN 1988), dass Mutanten keineswegs völlig regellos entstehen, sondern vor allem aus recht häufig erscheinenden Vorläufern. Es scheint, als ob bereits der gesamte Mutantenclan von der Selektion bewertet würde. Zudem lieferten uns erst kürzlich Molekulargenetiker den Beleg von sogenannten 'springenden Genen', die die genetische Variabilität weiter steigern. Die natürliche Auslese, die Darwin und Haeckel beschrieben, ist das Ergebnis, nicht der Vorgang. Heute kann Evolution künstlich im Reagenzglas nachvollzogen werden! Es lassen sich beispielsweise verschiedene mutierte Formen von Nucleinsäuren ('Erbmoleküle') erzeugen, auf die man dann einen Selektionsdruck ausübt. Es reichern sich dann solche Moleküle an, die dem Milieu besser angepasst sind. Auf diese Weise kann man innerhalb weniger Tage Nucleinsäuren "züchten, die von einem Verdauungsenzym nicht angegriffen werden. Die Selektion ist also nicht nur "stabilisierend" tätig, indem sie Negatives "ausmerzt", sondern sie kann auch konstruktiv wirksam sein. Komplexität, Schönheit und Leistungsfähigkeit eines Bauplans sind ebenfalls ihr Ergebnis. Es ist vor allem das Versagen aller 'Gegentheorien', was die universelle Annahme der synthetischen Evolutionstheorie gefördert hat.

Auch die moderne Soziobiologie überträgt die Evolutionstheorie auf das menschliche Sozialverhalten.





Ausblick

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Der englische Biologe DAWKINS (1978) bezeichnet in seinem Buch 'Das egoistische Gen' das Individuum als "eine eigennützige Maschine, die so programmiert ist, dass sie das tut, was immer für ihre Gene als Gesamtheit am besten ist". Dawkins zeigt, dass in unserem Verhalten Antriebe fortwirken, die die Freiheit des menschlichen Verhaltens erheblich einschränken. Die Fortschritte in der Molekularbiologie, die zunehmenden Erkenntnisse in den Naturwissenschaften schaffen Ernüchterung, viele Menschen geraten in einem Glaubenskonflikt oder fühlen sich zumindest gedemütigt. Der Mensch ist Teil der Natur, die Naturgesetze sind Teil der Schöpfung. Es gilt, diese Gesetze zu erforschen, nur so sind wir aktiv am Vollzug der Schöpfung beteiligt, einer Schöpfung, die noch im Entstehen ist, die noch nicht abgeschlossen wurde. Die von uns erlebte Wirklichkeit ist nur Teil einer viel größeren Wirklichkeit, die schrittweise aus ihrer Verborgenheit hervorkommt. Auch wenn wir Menschen den Naturgesetzen unterliegen, so sind wir doch als einzige in der Lage, sie zu ergründen und Verantwortung für den Ablauf der Dinge zu übernehmen. Die biologische Erkenntnistheorie ist nicht dahingehend zu interpretieren, als ob die Biologie den gesamten "Erkenntnis-Apparat" bestimmt, der Mensch also unfrei sein müsste. Und auch DAWKINS schließt sein Buch versöhnend: " Wir sind als Genmaschinen gebaut und werden als Memmaschinen (analog zum Gen die Einheit der kulturellen Vererbung) erzogen, aber wir haben die Macht, uns unseren Schöpfern entgegenzustellen. Wir allein, einzig und allein wir auf der Erde, können uns gegen die Tyrannei der egoistischen Replikatoren auflehnen" (DAWKINS 1978, S. 237).





Lebensabend und Bilanz

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Ernst Haeckel vor seiner Villa Medusa



Wie sieht nun die Bilanz von Haeckels Lebens aus?
1907 erfolgte die offizielle Gründung des Phyletischen Museums, das Haeckel schon 1879 geplant hatte. Im selben Jahr schied er 75-jährig offiziell aus dem Lehramt aus.
1915 starb seine Frau Agnes, die in den letzten Lebensjahren wieder größere Bedeutung für Haeckel gewonnen hatte, so dass er nach ihrem Tod sehr vereinsamte, zumal seine Kinder nicht in der Nähe wohnten.
1918 erklärte sein Sohn Walter, Kunstmaler in Sonthofen, den Verzicht auf das elterliche Wohnhaus, die Villa Medusa, die Haeckels Wunsch gemäß nach seinem Tod als Museum eingerichtet werden sollte.
In den letzten Lebensjahren nahmen seine Körperkräfte immer mehr ab; er lebte zurückgezogen in seiner Villa, war unablässig mit dem Ordnen seiner umfangreichen wissenschaftlichen und künstlerischen Sammlung beschäftigt. Bis zuletzt malte er vom Balkon seines Hauses aus. Am 9. August 1919 starb Haeckel.
In der Rückschau müssen wir Ernst Haeckel als einen der bekanntesten und beeindruckendsten, zugleich aber auch umstrittensten Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts betrachten, der wie kein anderer Biologe seiner Zeit über sein Fachgebiet hinaus das Geistesleben seiner Zeit mitbestimmt hat.



Im August 1999
Dr. Angelika Weiß-Merklein

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Literatur:

Krauße, Erika "Ernst Haeckel", Leipzig 1984
Museum Ernst-Haeckel-Haus der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Dawkins, Richard "Das egoistische Gen", Berlin, Heidelberg, New York 1978
Haeckel, Ernst "Kunstformen der Natur", New York 1998
Ausstellungskatalog "Hackel e l'Italia - La vita come scienza e come storia", Padova und Jena 1993
Ausstellungskatalog "Welträtsel und Lebenswunder - Ernst Haeckel - Werk, Wirkung und Folgen", Oberöstereichisches Landesmuseum 1998