Ende 1878 war er 55 Jahre alt. Auch in diesem Jahr fand wieder eine große Pariser Weltausstellung statt. Anmerkung zu Pariser Weltausstellungen. ▼ Der Erziehungsminister
ließ ihm aus dem Anlass eine Silbermedaille schicken. Es war nun längst an der Zeit, die Ergebnisse seiner Forschungen zusammenzufassen, einen ersten umfassenden Bericht zu geben über die Arbeit von fünfundzwanzig Jahren. 1879 erschien der erste Band der »Souvenirs Entomologiques«. »Entomologische Erinnerungen«, könnte man übersetzen, oder Insektenkundliche Erinnerungen; Erinnerungen eines Entomologen; Erinnerungen eines Insektenforschers... Der Untertitel lautete: »Etudes sur l'instinct et les mœrs des insectes« - »Studien über den Instinkt und die Sitten der Insekten«.
Dem Heiligen Pillendreher gehört das erste Kapitel. Dem Mistkäfer.
Es beginnt mit einer Erinnerung an die Zeit in Avignon, an eine Wanderung
mit seinen Lieblingsschülern. Die zum Ziel eben die Beobachtung dieses
Mistkäfers hatte.
Des Säuberers der Böden, Umwandlers von
toter, unverdaulicher Materie in fruchtbarem Humus. Vierzehn Jahre lag
der Ausflug zurück. Legenden und Märchen knüpfen sich an
den Pillendreher. Den Ägyptern war die Kugel aus Mist, die er über
den Boden rollt, Abbild der Erdkugel. Im Innern der Pille ruhe das Ei des
Skarabäus, würde mit ihr in der Erde vergraben. So übernahm
es einer vom andern, von den Ägyptern bis zu den Wissenschaftlern
des 19. Jahrhunderts. Noch eine andere Legende sei, schrieb er, »in
vielen Büchern zu lesen«. Dass der Skarabäus Hilfe
hole, wenn das Gelände zu schwierig werde, die Kugel von einem nicht
fortzuschaffen sei. Eine erstaunliche Intelligenzleistung für das
kleine Tier, wenn es denn wahr wäre. Jahrelang beobachtete er, suchte
nach einer Bestätigung der Behauptung, stellte Experimente an. Fixierte
die Mistkugel mit einer Stecknadel. Hob steile Gruben aus, in die die Pille
der genarrten Tiere rollen musste. Nie konnte er feststellen, dass
Hilfe herbeiholt wurde. Nach vierzehn Jahren der Beobachtung konnte er
die Behauptung wohl als widerlegt ansehen. Wieder hatte sich eine wissenschaftliche
Tatsache als Ergebnis mangelhafter Beobachtung erwiesen. Die Behauptung
stammte von Émile Blanchard, dessen Werk ihn in die Insektenkunde
eingeführt hatte, dessen Buch auf einem Ehrenplatz in seinem Regal
stand: »Hier nun liefert der Ateuchus (Scarabäus) einen erstaunlichen
Beweis seiner Einsicht und der überraschenden Leichtigkeit der Verständigung
mit Individuen seiner Art. (...) Der Scarabäus ging Hilfe holen, und
darum kann man inmitten dieser dürren Felder oft einige Scarabäen
antreffen, die gemeinsam mit dem Abtransport einer einzigen Mistkugel beschäftigt
sind.« Dass zwei oder mehr Käfer an einer Kugel schieben,
konnte der geduldige Beobachter oft genug sehen. Die »Zusammenarbeit«
stellte sich als Kampf und Raub heraus. Was freilich neue Fragen aufwarf.
Denn Sinn oder Ursache dieser Räuberei, für Insekten ungewöhnlich, konnte er nicht entdecken. Auch das Ei, das in der Pille sein sollte, konnte er nicht entdecken, soviele Pillen er aufschnitt. Die Pille ist Futter. Die Käfer graben eine Höhle für sich und ihren Proviant, verschließen den Eingang, bleiben da ein, zwei Wochen, ununterbrochen fressend, verdauend, bis der Vorrat aufgezehrt ist. Das Rätsel der Brutpille zu lösen dauerte weitere Jahre. Erst im fünften Band, der 1897 erschien, sollten der Pillendreher und seine Verwandten wieder auftauchen. Der zweite Abschnitt gehört seinen Beobachtungen an der Knotenwespe, der Cerceris, die ihm den ersten Ruhm eingetragen hatten. Auch der Rest des Bandes ist Hautflüglern gewidmet. Der Grabwespe Sphex, die für ihre Brut Grillen einträgt. Den Sandwespen, Kreiselwespen, Mörtelbienen. Der Grundstein war gelegt. Neun Bände würden noch folgen, ein Gebäude von 4000 Seiten, errichtet in dreißig Jahren.
Doch die wichtigen Ideen, die großen Fragen, enthält schon der erste Band. Insekten leisten Erstaunliches beim Nestbau, der Jagd, der Brutpflege. Ihre Handlungen sind zielführend, genau, oft aus unwahrscheinlich vielen, sinnvoll verknüpften Einzelhandlungen zusammengesetzt. Was befähigt sie dazu? Das »winzige Fünkchen Verstand«, das ihnen von anderen Forschern zugeschrieben wurde, etwas der menschlichen Intelligenz Vergleichbares, wenn auch eingeschränkt, auf die Aufgaben begrenzt, die dem Tier sich stellen? Oder aber etwas anderes, der Instinkt, die unbewusste Fähigkeit.
Was aber ist dieser Instinkt,
was ist er zu leisten imstande, was nicht? Diesen Fragen ging er nach,
nicht mit Seziermesser und Mikroskop. Um das lebende Insekt bei seinen Handlungen
zu beobachten, war die Lupe besser geeignet. Sein zweites Instrument war
ein geistiges. Das Experiment. Listig ausgedachte Situationen, die die
Fähigkeiten des Tiers auf die Probe stellten, es dazu brachten, die
Fragen des Forschers zu beantworten. Sein Studium der Chemie, der Physik,
hatte ihn die Notwendigkeit des Experimentierens gelehrt. In der Biologie
war er der erste, der systematisch das Experiment anwandte. Seine Fragestellungen
mussten ihn, zwangsläufig, auf die neuen Theorien stoßen,
die Lamarck, später Darwin aufgestellt hatten, die gerade in Mode
waren, heiß diskutiert wurden. Durch »natürliche Zuchtwahl«
sollten die Lebewesen sich entwickelt haben, sollten die Arten in kleinen
Schritten, durch winzige, sich aufhäufende Veränderungen, auseinander
hervorgegangen sein. War das möglich, vorstellbar? Konnten so die
ungeheuer komplexen Verhaltensweisen, die er beobachtete, entstanden sein?
Lebendig, anschaulich, erzählend wie seine Lehrbücher für
die Kinder ist auch das gelehrte Werk. Der Autor erzählt von seiner
Arbeit, den Fragestellungen, die ihn bewegten, seinen Beobachtungen, seinen
Irrwegen, Enttäuschungen, freudigen Überraschungen, seinen Schlussfolgerungen.
Er ist immer auch selbst anwesend in seinem Buch, nicht nur in den autobiographischen
Kapiteln.
Anmerkung:
Fabre blieb ungeachtet einer freundlichen Korrespondenz mit Ch. Darwin lebenslang skeptisch
gegenüber der Darwin'schen Evolutions-Lehre.