Peter Müller und der Rechtsstaat

ach ja, und die Lauterkeit

rechtsstaat


"Wir müssen die drohende Aushöhlung des Rechtsstaates verhindern!" Völlig zu Recht wählt der Verfassungsrichter Peter Müller diesen alarmierenden "Kassandraruf" als Titel seines Beitrags auf "focus online" (URL am Ende der Erwiderung). Aber diese Aushöhlung "droht" nicht nur, sondern ist schon längst in vollem Gange. Soll der hässliche Faschismus unserer jüngeren Vergangenheit in kleinen Schritten vom konsumentenfreundlich aufgehübschten Faschismus unserer Tage abgelöst werden? 1933 haben es die Nazis geschafft, dem Staat, der Exekutive, also sich selbst mittels "Ermächtigungsgesetz" die Gesetzgebungskompetenz zu erobern und so einer unkontrollierten Selbstprogrammierung ihrer staatlichen Machtentgrenzung Verfassungsrang zu geben. Dass heute erneut der Trend sichtbar wird, den Staat zum Gesetzgeber zu machen, sei nicht nur beiläufig angemerkt (zB durch K. Barley)! Die Nazi-Justiz hat ihr Vermächtnis durch die weitgehende Übernahme führender Nazi-Juristen nach 1945 offenbar gerettet. Dies ist der historisch-juristische Hintergrund unserer Gesellschaft, zu der sich der Jurist Müller zu Wort meldet.

Die Beweise und Hinweise auf seine bedrohliche These schildert Herr Müller mit meisterhaften Formulierungen und geradezu beschwörenden Aufrufen. Er unterstreicht die jeweilige Unbedingtheit und gleichzeitig die wechselseitige Bedingtheit von Rechtsstaat und Demokratie: Ohne Rechtsstaat keine Demokratie! Ohne Demokratie kein Rechtsstaat! Also bestens? Haben wir einen Rechtsstaat, eine Demokratie?

Diese Botschaft wird von den ja sehr gelobten Adressaten sicherlich wohlwollend entgegengenommen, aber wird wirkungslos verpuffen: Der Bote hat ein unlauteres Konzept gewählt:

Müllers Konzept kann ziemlich treffend mit dem Prinzip "Zuckerbrot und drohender Zeigefinger" oder als "Trockenwäsche" umschrieben werden: Die Justiz unseres Landes wird von ihm mit Lob überschüttet. Alles gut! Und sonderbar: Nach dem Lob folgt sogleich der Hieb mit der "Peitsche" der existierenden Realität unseres Landes. War das Lob also falsch, unehrlich? Der Autor ist einer der höchsten Juristen des Landes. Er weiß genau, wie prekär der Zustand unserer Justiz tatsächlich ist. Aber er fühlt sich verpflichtet, der eigenen Zunft die Stange zu halten, sie als tadellos darzustellen und sich so zur Wagenburg der kritisierten Juristerei zu gesellen. Er will schon gar nicht als Mitstreiter des ebenfalls höchstrichterlichen Kollegen Eschelbach auftreten, der mit seinem Weckruf als Nest- oder besser gesagt als Tatortreiniger aufgetreten ist, aber - natürlich - von der blamierten Justiz zurückgewiesen wurde Er könnte dereinst als Feigenblatt missbraucht werden: Auch wir haben uns kritisch geäußert.


Beispiel aus Müllers Beitrag: "Die Justizorgane in Deutschland arbeiten verlässlich, engagiert und auf einem hohen qualitativen Niveau. Ihre Unabhängigkeit ist gewährleistet, die Verbindlichkeit ihrer Entscheidungen wird durchgängig anerkannt. Insgesamt präsentiert sich der Rechtsstaat in Deutschland in guter Verfassung, die keinen internationalen Vergleich zu scheuen braucht. Von der behaupteten "Herrschaft des Unrechts" kann jedenfalls keine Rede sein."

Unter dem Absatztitel: "Einige Entwicklungen geben Anlass zu ernsthafter Sorge"
fährt er dann fort:
"Dennoch gilt es, einzelne Phänomene in den Blick zu nehmen, deren Hinnahme und Weiterverbreitung geeignet wäre, das notwendige Vertrauen in den Rechtsstaat nachhaltig zu erschüttern."


Also offenbar hat das Gegenteil von einer White-wash-Pauschale, von "verlässlich, hochqualitativ, unabhängig, durchgängig anerkannt" Müller zu seinen Warnungen veranlasst. Dieser Widerspruch, diese theo-politische Schizophrenie spiegelt die Realität. So würde auch Frau Merkel sagen: "Eigentlich ist unser Rechtsstaat ganz gut!"

Zu den konkreten Tatbeständen, die Herr Müller Phänomene nennt, gehört die erschreckend hohe Zahl von Fehlurteilen in der Strafjustiz, wie es zB das nicht gerade rechtsstaatliche Verfahren um die Loveparade belegt. Aber nichts davon, nichts Konkretes. Nichts von der Staatsräson, dem Schließfach bzw OK-Stempel für Staats-Verbrechen. Nichts von verfassungswidrigen, unters Volk gestreuten Politiker-Fakes (etwa: Barley, Steinmeier oder Merz). Nichts von der missachteten Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz. Auch nichts von der zum Gewaltenbrei degenerierten Gewaltenteilung, die der Judikative eigentlich Unabhängigkeit von unbefugt weisender Einflussnahme zusichert. Statt dessen versucht die freundlichst Ermahnte, ihre Unabhägigkeit von Recht und Gesetz durchzusetzen. Nichts von der GG-Umgehung bei den allerwichtigsten Problemen unseres Landes (Neuorientierung der Innen-, Außenpolitik/USA, reelle Religionsfreiheit/Kirche)!

Natürlich auch nichts von der fehlenden Fehlerkultur der Justiz selbst. Wozu auch? Die Justiz bleibt ja bei eingetretener Straffälligkeit unter sich, deckt sich gegenseitig, wenn nötig mittels BGH, BVerfG und "Staatsräson"! Die Justiz bedient sich selbst und schafft sich so einen rechtsfreien Raum! Dies können am besten Betroffene bezeugen und beweisen. Die Übrigen mischen sich schon gedanklich ungern in die zumeist angstbesetzten Justizfakten ein, sind bei zunehmender Überwachungsangst mundfaul und feige und äußern "weitgehende Zufriedenheit".

Die Selbsteinschätzung Müllers, unser Rechtsstaat sei in guter Verfassung, kann so lange nicht stimmen, wie der "Rechtsstaat" sich der Verfassung nicht strikt unterordnet, bzw das GG durch eine Verfassung unter Mitwirkung der Demokraten beschließt. Insgesamt muss in Deutschland von einem "Fassaden-Rechtsstaat" analog der "Fassaden-Demokratie" die Rede sein! Für sehr viele unter uns existiert tatsächlich Unrecht in Deutschland! Und die unklugen Politiker lassen sich vom Wähler nicht dreinreden (BTW'17 oder EU-Wahl). Ein internationaler Vergleich ist ein billiges und grundsätzlich unzulässiges Mittel der Einzelfall-Rechtfertigung.

Im Nachsatz möchte ich Zitate der Staatsrechtlerin Ingeborg Maus anfügen, die die herrschenden und sich wahrscheinlich weiter verschlechternden Verhältnisse prophetisch vorhersagt. Sie ist keine Prophetin, sondern strenge Beobachterin, die sich "nur" an die Verfassung hält. Im Blick auf die von Politikern heute geschmähten basisdemokratischen Volksentscheide oder auf die Justiz sagt sie:

"Entgegen aller Nachkriegslegenden, ..., haben die plebiszitären Gesetzgebungsverfahren der Weimarer Republik keineswegs eine politische Dummheit des Volkes zutage gefördert, die diejenige der politischen Funktionseliten erreicht oder gar übertroffen hätte. ...
... so haben zum Beispiel im Übergang von der Weimarer Republik zum Terrorsystem des Nationalsozialismus die Abgeordneten des Reichstags sich noch viel mehr blamiert als das "Volk": Während die letzten freien Wahlen im November 1932 einen Stimmenanteil von 33,1% für die NSDAP ergaben (Juli 1932 noch 37,4%), stimmten die gewählten Volksvertreter im Reichstag✱ mit 68,6% ihrer Stimmen für das von Hitler geforderte Ermächtigungsgesetz ... Es waren nur die "Proleten"-Parteien SPD und KPD, die dem Ermächtigungsgesetz ihre Zustimmung verweigerten, ..., während die sogenannten bürgerlichen Parteien ... geschlossen zustimmten, auch die vom Vatikan unter Druck gesetzten kath. Zentrums-Abgeordneten.

Die Richter des Weimarer Staatsgerichtshofs mussten vom Nazi-Justizministerium zum Teil deshalb gerügt werden, weil ihre Entscheidungen im Strafmaß zu hoch ausfielen."

✱ Anmerkung: Die Abstimmung zur Totalermächtigung Hitlers (NSDAP) fand im März 1933 statt, wenige Wochen nach dem von den Nazis inszenierten Reichstagsbrand im Februar. Jahrzehnte später wird sich Norbert Lammert (CDU) zusammen mit "wiedereingegliederten" Nazi-Redakteuren und -Historikern als Bundestagspräsident dafür hergeben, entgegen allen Fakten und Indizien den Reichstagsbrand als Werk der Kommunisten hinzustellen, die Nazis also von dem erdrückenden Tatverdacht freizusprechen und damit der Verantwortungslosigkeit der Abgeordneten ein wenig Verständnis entgegenzubringen. Die auch heute wieder ein- und abnickenden Abgeordneten werden es ihm danken. Die Bürger wenden sich angewidert ab. Die Judikative sieht keinen Kontrollauftrag im Walten der Gewalten. Sie huldigt dem verfassungswidrigen Gewaltenbrei.


Fazit:

Zu Recht erinnert Müller (aber leider nur indirekt und zurück-haltend) an das verfassungsmäßige Recht und Gebot zum Widerstand bei Beschädigung freiheitlich demokratischer Verhältnisse. Wir müssen ihm unumwunden beipflichten, wenn er Demokratie und Rechtsstaat nur im Doppelpack realisierbar sieht! Aber müssen doch seine lückenhaften Ausführungen damit ergänzen, dass es diesen Doppelpack wiederum nur im Dreierpack mit der Verfassung gibt, die bekanntlich über der Justiz einschließlich ihrem Verfassungsgericht angesiedelt ist. Keine Demokratie und kein Rechtsstaat ohne Verfassungstreue. Somit bietet der Aufsatz des Bundesverfassungsrichters Peter Müller (CDU) ein Dokument der herrschenden theo-politischen Schizophrenie, mit der kein dauerhafter Staat, keine Demokratie, kein Rechtsstaat erreicht werden können - wahrscheinlich auch gar nicht erreicht werden sollen.

Mitte 2019


FOCUS Online (https://www.focus.de/politik/gerichte-in-deutschland/gastbeitrag-fuer-focus-online-verfassungsrichter-peter-mueller-justiz-gut-aufgestellt-aber-es-drohen-grosse-gefahren_id_10972378.html)



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