Bemerkungen
Seit Jahrtausenden üben das Labyrinth und der Irrgarten eine
Anziehungskraft auf uns Menschen aus, die einem archetypischen
menschlichen Bedürfnis entsprechen muss. Ist es das Bedürfnis, den
Gefahren, Unwägbarkeiten, Geduldsproben, Hoffnungslosigkeiten des
Lebens in einer Simulation zu begegnen? Literatur, Schauspielkunst,
Spiele, Wettkämpfe und Achterbahn, aber auch die zum "Gaffen"
verleitenden Unglücksfälle und Katastrophen erfüllen letztlich den
gleichen Zweck: Der Mensch will in all den genannten Fällen
spielerisch oder fiktiv sein Verhalten in Ausnahmesituationen in
Frage stellen, seine Überlebensfähigkeit, Intelligenz, Tapferkeit,
Ausdauer, moralische Position usw. erproben und bestätigt oder
verbessert sehen.
Soweit gleichen sich Labyrinth und Irrgarten. Der
Konstruktionsunterschied beider Kategorien ist ja dem
uneingeweihten Sucher nicht bekannt und beeinflusst die
psychologische Ausnahmesituation nicht. Dennoch warten die beiden
Spielarten mit einem wesentlichen Unterschied im Ziel-Erlebnis auf:
Beim Irrgarten hat man es "geschafft", wenn vom Eingang her
an allen Weg-Gabelungen und -Kreuzungen vorbei der Ausgang
erreicht ist und man nicht etwa bei der Suche scheitert und wider
Willen an den Eingang zurückkommt. Im Labyrinth hat man das
erlösende Ziel im Zentrum erreicht. Ein Verirren ist nicht
möglich, da es nur einen mehr oder weniger gewundenen Weg gibt. Der
Hinein-Weg ein symbolisches Zurückverfolgen des bisherigen
Lebensweges bis zur Geburt, zur Höhle der Gebärmutter? Der wiederum
mühsame Hinaus-Weg bringt vielleicht tröstliche Gewissheit, dass
Leben eben so ist, ein stetes mühe- und gefahrvolles Kreisen um ein
Leit-Zentrum, Balanceakt zwischen zentripetalen und zentrifugalen
Kräften, die unabhängig sind von der Frage:
Eine Frage der Architektur, des Bauplans: Labyrinthe sehen nur verwirrend und kompliziert aus, bestehen aber nur aus einem einzigen Pfad, der windungsreich aber entscheidungslos hinein und wieder heraus abgeschritten werden kann. Er führt mit Sicherheit zum Labyrinth-Ziel und zurück. Nur Ausdauer und Geduld sind hier gefragt. (Es sei denn, das typische Labyrinth wird durch ein paar kleine Veränderungen zu einem Irrgarten umfunktioniert - siehe folgende Animation.
Die Frage "Labyrinth oder Irrgarten" birgt einen Denkfehler;
sie setzt voraus, dass wir den Plan eines L. vor uns liegen haben
und damit die Kategorie festlegen können. Damit ist das Labyrinth
entzaubert, das Rätsel des Irrgartens gelöst und auf eine
Grundriss-Beschreibung reduziert. Im alltäglichen Leben oder bei
einem Labyrinth-Besuch weiß ja niemand, wie eine unbekannte oder
gefährliche Situation verlaufen und ausgehen wird. Wir besitzen
keinen Risiko-Grundriss. Insofern besteht eine echte Simulation
des Lebens-Dramas nur dann, wenn wir das Prinzip eines
Verwirrspiels garnicht kennen, also nicht wissen, ob uns ein
Labyrinth oder ein Irrgarten herausfordert. Letzterer verlangt
tatsächlich Entscheidungen an Kreuzungen und Scheidewegen. Er kann
also zu echten Verirrungen führen. Fehlen allerdings Kreuzungen
und/oder Wegegabelungen, handelt es sich mit großer
Wahrscheinlichkeit um ein Labyrinth, das man geduldig und
wendebereit ablaufen kann. Aber kommt nicht doch irgendwann ein
Scheideweg, der meine Sicherheit zunichte macht??? Also: nicht zu
früh freuen, wie im wirklichen Leben.
Kluge Leute haben herausgefunden, dass auch der verwirrendste
Irrgarten bezwungen werden kann, wenn man nur vom Eingang aus mit
der rechten Hand immer-an-der-Wand-lang geht. Mal
Ausprobieren! Somit gibt es verschiedene
Genügen die unter 2. und 3. genannten Methoden nicht, können
zahlreiche reale L. im In- und Ausland besucht werden. Einfacher
und kostengünstiger ist die Simulation mit einem
"Guckloch-Betrachter", bei dem der Irrgarten-Plan nur an dem
jeweiligen Standort gesehen werden kann. Alles andere bleibt
ausgeblendet. Schließlich soll noch das absolut sichere, aber
mühsame Lösungs-Verfahren "Rechte-Hand-an-der-Wand" erwähnt
werden. Damit lässt sich auch der komplizierteste Irrgarten
entschärfen, solange er aus Wegen oder Gängen besteht und den
Suchenden nicht mit Richtungs-Befehlen über Farb-, Würfel- oder
Schach-Codes lenkt.
Ende der Anmerkungen