Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Schlussbetrachtung

Schlussbetrachtung

Die Zahl der Welträtsel hat sich durch die angeführten Fortschritte der wahren Natur-Erkenntnis im Laufe des 19. Jahrhunderts stetig vermindert; sie ist schließlich auf ein einziges allumfassendes Universal-Rätsel zurückgeführt, auf das Substanz-Problem. Was ist denn nun eigentlich im tiefsten Grunde dieses allgewaltige Weltwunder, welches der realistische Naturforscher als Natur oder Universum verherrlicht, der idealistische Philosoph als Substanz oder Kosmos, der fromme Gläubige als Schöpfer oder Gott? Können wir heute behaupten, dass die wunderbaren Fortschritte unserer modernen Kosmologie dieses "Substanz-Rätsel" gelöst oder auch nur, dass sie uns dessen Lösung sehr viel näher gebracht haben?

Die Antwort auf diese Schlussfrage fällt natürlich sehr verschieden aus, entsprechend dem Standpunkt des fragenden Philosophen und seiner empirischen Kenntnis der wirklichen Welt. Wir geben von vornherein zu, dass wir dem innersten Wesen der Natur heute vielleicht noch ebenso fremd und verständnislos gegenüberstehen, wie Anaximander und Empedokles vor 2 400 Jahren, wie Spinoza und Newton for 200 Jahren, wie Kant und Goethe vor 100 Jahren. Ja wir müssen sogar eingestehen, dass uns dieses eigentliche Wesen der Substanz immer wunderbarer und rätselhafter wird, je tiefer wir in die Erkenntnis ihrer Attribute, der Materie und Energie, eindringen, je gründlicher wir ihre unzähligen Erscheinungsformen und deren Entwicklung kennen lernen. Was als "Ding an sich" hinter den erkennbaren Erscheinungen steckt, das wissen wir auch heute noch nicht. Aber was geht uns dieses mystische "Ding an sich" überhaupt an, wenn wir keine Mittel zu seiner Erforschung besitzen, wenn wir nicht einmal klar wissen, ob es existiert oder nicht? Überlassen wir daher das unfruchtbare Grübeln über dieses ideale Gespenst den "reinen Metaphysikern" und erfreuen wir uns statt dessen als "echte Physiker" an den gewaltigen realen Fortschritten, welche unsere monistische Natur-Philosophie tatsächlich errungen hat.

Da überragt alle anderen Fortschritte und Entdeckungen des verflossenen "großen Jahrhunderts" das gewaltige, allumfassende Substanz-Gesetz, das "Grundgesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes". Die Tatsache dass die Substanz überall einer ewigen Bewegung und Umbildung unterworfen ist, stempelt dasselbe zugleich zum universalen Entwicklungs-Gesetz. Indem dieses höchste Naturgesetz festgestellt und alle anderen ihm untergeordnet wurden, gelangten wir zur Überzeugung von der universalen Einheit der Natur und der ewigen Geltung der Naturgesetze. Aus dem dunklen Substanz-Problem entwickelte sich das klare Substanz-Gesetz. Der Monismus des Kosmos, den wir darauf begründen, lehrt uns die ausnahmslose Geltung der "ewigen, ehernen, großen Gesetze" im ganzen Universum. Damit zertrümmert derselbe aber zugleich die drei großen Zentral-Dogmen der bisherigen dualistischen Philosophie, den persönlichen Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens.

Viele von uns sehen gewiss mit lebhaftem Bedauern oder selbst mit tiefem Schmerze dem Untergange der Götter zu, welche unseren teuern Eltern und Voreltern als höchste geistige Güter galten. Wir trösten uns aber mit dem Wort des Dichters:
"Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,
Und neues Leben blüht aus den Ruinen!"
Friedrich Schiller, Wilhelm Tell IV, 2.

Die alte Weltanschauung des Ideal-Dualismus mit ihren mystischen und anthropistischen Dogmen versinkt in Trümmer; aber über diesem gewaltigen Trümmerfeld steigt hehr und herrlich die neue Sonne unseres Real-Monismus auf, welche uns den wundervollen Tempel der Natur voll erschließt. In dem reinen Kultus des "Wahren, Guten und Schönen", welcher der Kern unserer neuen monistischen Religion bildet, finden wir reichen Ersatz für die verlorenen anthropistischen Ideale von "Gott, Freiheit und Unsterblichkeit".

In der vorliegenden Behandlung der Welträtsel habe ich meinen konsequenten monistischen Standpunkt scharf betont und den Gegensatz zur dualistischen, heute noch herrschenden Weltanschauung klar hervorgehoben. Ich stütze mich dabei auf die Zustimmung von fast allen modernen Naturforschern, welche überhaupt Neigung und Mut zum Bekenntnis einer abgerundeten philosophischen Überzeugung besitzen. Ich möchte aber von meinen Lesern nicht Abschied nehmen, ohne versöhnlich darauf hinzuweisen, dass dieser schroffe Gegensatz bei konsequentem und klarem Denken sich bis zu einem gewissen Grade mildert, ja selbst bis zu einer erfreulichen Harmonie gelöst werden kann. Bei völlig folgerichtigem Denken, bei gleichmäßiger Anwendung der höchsten Prinzipien auf das Gesamtgebiet des Kosmos - der organischen und anorganischen Natur -, nähern sich die Gegensätze des Theismus und Pantheismus, des Vitalismus und Mechanismus bis zur Berührung. Aber freilich, konsequentes Denken bleibt eine seltene Natur-Erscheinung! Die große Mehrzahl aller Philosophen möchte mit der rechten Hand das reine, auf Erfahrung begründete Wissen ergreifen, kann aber gleichzeitig nicht den mystischen, auf Offenbarung gestützten Glauben entbehren, den sie mit der linken Hand festhält. Charakteristisch für diesen widerspruchsvollen Dualismus bleibt der Konflikt zwischen der reinen und der praktischen Vernunft in der kritischen Philosophie des höchstgestellten neueren Denkers, des großen Immanuel Kant.

Dagegen ist immer die Zahl derjenigen Denker klein gewesen, welche diesen Dualismus tapfer überwanden und sich dem reinen Monismus zuwendeten. Das gilt ebensowohl für die konsequenten Idealisten und Theisten, wie für die folgerichtig denkenden Realisten und Pantheisten. Die Verschmelzung der anscheinenden Gegensätze, und damit der Fortschritt zur Lösung des fundamentalen Welträtsels, wird uns aber durch das stetig zunehmende Wachstum der Natur-Erkenntnis mit jedem Jahre näher gelegt. So dürfen wir uns denn der frohen Hoffnung hingeben, dass das anbrechende 20. Jahrhundert immer mehr jene Gegensätze ausgleichen und durch Ausbildung des reinen Monismus die ersehnte Einheit der Weltanschauung in weiten Kreisen verbreiten wird. Unser größter Dichter und Denker, dessen 150. Geburtstag wir 1899 begingen, Wolfgang Goethe, hat dieser Einheits-Philosophie schon am Anfang des 19. Jahrhunderts den vollendeten poetischen Ausdruck gegeben in seinen unsterblichen Dichtungen: Faust, Prometheus, Gott und Welt!

Nach ewigen, ehernen,
Großen Gesetzen
Müssen wir Alle
Unseres Daseins
Kreise vollenden.
J. W. Goethe, Das Göttliche