Ernst Haeckel, Die Welträtsel - 7. Kapitel

7. Kapitel

Stufenleiter der Seele

Monistische Studien über vergleichende Psychologie. Die psychologische Skala. Psychoplasma und Nervensystem. Instinkt und Vernunft.

Inhalt: Psychologische Einheit der organischen Natur. Materielle Basis der Psyche: Psychoplasma. Skala der Empfindungen. Skala der Bewegungen. Skala der Reflexe. Einfache und zusammengesetzte Reflexe. Reflextat und Bewusstsein. Skala der Vorstellungen. Unbewusste und bewusste Vorstellungen. Skala des Gedächtnisses. Unbewusstes und bewusstes Gedächtnis. Assoziation der Vorstellungen. Instinkte. Primäre und sekundäre Instinkte. Skala der Vernunft. Sprache. Gemütsbewegungen und Leidenschaften. Wille. Freiheit des Willens.

Die großartigen Fortschritte, welche die Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Hilfe der Entwicklungslehre gemacht hat, gipfeln in der Anerkennung der psychologischen Einheit der organischen Welt. Die vergleichende Seelenlehre, im Vereine mit der Ontogenie und Phylogenie der Psyche, hat uns zu der Überzeugung geführt, dass das organische Leben in allen Abstufungen, vom einfachsten, einzelligen Protisten bis zum Menschen hinauf, aus denselben elementaren Naturkräften sich entwickelt, aus den physiologischen Funktionen der Empfindung und Bewegung. Die Hauptaufgabe der wissenschaftlichen Psychologie wird daher künftig nicht, wie bisher, die ausschließlich subjektive und introspektive Zergliederung der höchstentwickelten Philosophen-Seele sein, sondern die objektive und vergleichende Untersuchung der langen Stufenleiter, auf welcher sich der menschliche Geist allmählich aus einer langen Reihe von niederen tierischen Zuständen entwickelt hat. Die schöne Aufgabe, die einzelnen Stufen dieser psychologischen Skala zu unterscheiden und ihren ununterbrochenen phylogenetischen Zusammenhang nachzuweisen, ist erst in den letzten Dezennien unseres Jahrhunderts ernstlich in Angriff genommen worden, vor Allem in dem ausgezeichneten Werke von Romanes (vergl. S. 46). Wir beschränken uns hier auf die kurze Besprechung einiger der allgemeinsten Fragen, welche uns die Erkenntnis jener Stufenleiter vorlegt.

Materielle Basis der Psyche

Alle Erscheinungen des Seelenlebens ohne Ausnahme sind verknüpft mit materiellen Vorgängen in der lebendigen Substanz des Körpers, im Plasma oder Protoplasma. Wir haben jenen Teil des letzteren, der als der unentbehrliche Träger der Psyche erscheint, als Psychoplasma bezeichnet (als "Seelesubstanz" im monistischen Sinne), d. h. wir erblicken darin kein besonderes "Wesen", sondern wir betrachten die Psyche als Kollektiv-Begriff für die gesamten psychischen Funktionen des Plasma. "Seele" ist in diesem Sinne ebenso eine physiologische Abstraktion wie der Begriff "Stoffwechsel" oder "Zeugung". Beim Menschen und den höheren Tieren ist das Psychoplasma, zufolge der fortgeschrittenen Arbeitsteilung der Organe und Gewebe, ein differenzierter Bestandteil des Nervensystems, das Neuroplasma der Ganglienzellen und ihrer leitenden Ausläufer, der Nervenfasern. Bei den niederen Tieren dagegen, die noch keine gesonderten Nerven und Sinnesorgane besitzen, ist das Psychoplasma noch nicht zur selbstständigen Differenzierung gelangt, ebenso wie bei den Pflanzen. Bei den einzelligen Protisten endlich ist das Psychoplasma entweder identisch mit dem ganzen lebendigen Protoplasma der einfachen Zelle oder mit einem Teile desselben. In allen Fällen, ebenso auf dieser niedersten wie auf jener höchsten Stufe der psychologischen Skala, ist eine gewisse chemische Zusammensetzung des Psychoplasma und eine gewisse physikalische Beschaffenheit desselben unentbehrlich, wenn die "Seele" fungieren oder arbeiten soll. Das gilt ebenso von der elementaren Seelentätigkeit der plasmatischen Empfindung und Bewegung bei den Protozoen wie von den zusammengesetzten Funktionen der Sinnesorgane und des Gehirns bei den höheren Tieren und an ihrer Spitze dem Menschen. Die Arbeit des Psychoplasma, die wir "Seele" nennen, ist stets mit Stoffwechsel verknüpft.

Skala der Empfindungen

Alle lebendigen Organismen ohne Ausnahme sind empfindlich; sie unterscheiden die Zustände der umgebenden Außenwelt und reagieren darauf durch gewisse Veränderungen in ihrem Innern. Licht und Wärme, Schwerkraft und Elektrizität, mechanische Prozesse und chemische Vorgänge in der Umgebung wirken als "Reize" auf das empfindliche Psychoplasma und rufen Veränderungen in seiner molekularen Zusammensetzung hervor. Als Hauptstufen seiner Empfindlichkeit oder Sensibilität unterscheiden wir folgende fünf Grade:

I. Auf den untersten Stufen der Organisation ist das ganze Psychoplasma als solches empfindlich und reagiert auf die einwirkenden Reize, so bei den niedersten Protisten, bei vielen Pflanzen und einem Teile der unvollkommensten Tiere.

II. Auf der zweiten Stufe beginnen sich an der Oberfläche des Körpers einfachste Sinneswerkzeuge zu entwickeln, in Form von Plasmahaaren und Pigmentflecken, als Vorläufer von Tastorganen und Augen; so bei einem Teile der höheren Protisten, aber auch bei vielen niederen Tieren und Pflanzen.

III. Auf der dritten Stufe haben sich aus diesen einfachen Grundlagen durch Differenzierung spezifische Sinnesorgane entwickelt, mit eigentümlicher Anpassung: die chemischen Werkzeuge des Geruchs und Geschmacks, die physikalischen Organe des Tastsinnes und Wärmesinnes, des Gehörs und Gesichts. die "spezifische Energie" dieser höheren Sensillen ist keine ursprüngliche Eigenschaft derselben, sondern durch funktionelle Anpassung und progressive Vererbung stufenweise erworben.

IV. Auf der vierten Stufe tritt die Zentralisation oder Integration des Nervensystems und damit zugleich diejenige der Empfindung ein; durch Assoziation der früheren isolierten oder lokalisierten Empfindungen entstehen Vorstellungen, die zunächst noch unbewusst bleiben, so bei vielen niederen und höheren Tieren.

V. Auf der fünften Stufe entwickelt sich durch Spiegelung der Empfindungen in einem Zentral-Teil des Nervensystems die höchste psychische Funktion, die bewusste Empfindung; so beim Menschen und den höheren Wirbeltieren, wahrscheinlich auch bei einem Teile der höheren wirbellosen Tiere, besonders der Gliedertiere.

Skala der Bewegungen

Alle lebendigen Naturkörper ohne Ausnahme sind spontan beweglich, im Gegensatze zu den starren und unbeweglichen Anorganen (Kristallen), d. h. es finden im lebendigen Psychoplasma Lageveränderungen statt, welche in dessen chemischer Konstitution selbst begründet sind. Diese aktiven vitalen Bewegungen sind zum Teil direkt durch Beobachtung wahrzunehmen, zum anderen Teil aber nur indirekt aus ihren Wirkungen zu erschließen. Wir unterscheiden fünf Abstufungen derselben.

I. Auf der untersten Stufe des organischen Lebens, bei Chromazeen, vielen Protophyten und niederen Metaphyten, nehmen wir nur jene Wachstums-Bewegungen wahr, welche allen Organismen gemeinsam zukommen. Dieselben geschehen gewöhnlich so langsam, dass man sie nicht unmittelbar beobachten, sondern nur indirekt aus ihrem Resultate erschließen kann, aus der Veränderung in Größe und Gestalt des wachsenden Körpers.

II. Viele Protisten, namentlich einzellige Algen aus den Gruppen der Diatomeen und Desmidiazeen, bewegen sich kriechend oder schwimmend durch Sekretion fort, durch einseitige Ausscheidung einer schleimigen Masse.

III. Andere, im Wasser schwebende Organismen, z. B. viele Radiolarien, Siphonophoren, Ktenophoren u. a., steigen auf und nieder, indem sie ihr spezifisches Gewicht verändern, bald durch Osmose, bald durch Absonderung oder Ausstoßung von Luft.

IV. Viele Pflanzen, besonders die empfindlichen Sinnpflanzen (Mimosen) und andere Papilionazeen, führen Bewegungen von Blättern oder anderen Teilen mittels Turgor-Wechsels aus, d. h. sie verändern die Spannung des Protoplasmas und damit auch dessen Druck auf die umschließende elastische Zellenwand.

V. Die wichtigsten von allen organischen Bewegungen sind die Kontraktions-Erscheinungen, d. h. Gestaltsveränderungen der Körper-Oberfläche, welche mit gegenseitigen Lage-Verschiebungen ihrer Teilchen verbunden sind; sie verlaufen stets mit zwei verschiedenen Zuständen oder Phasen der Bewegung: der Kontraktions-Phase (Zusammenziehung) und der Expansions-Phase (Ausdehnung). Als vier verschiedene Formen der Plasma-Kontraktion werden unterschieden

Va: die amöboiden Bewegungen (bei Rhizopoden, Blutzellen, Pigmentzellen usw.);

Vb: die ähnlichen Plasmaströmungen im Innern von abgeschlossenen Zellen;

Vc: die Flimmerbewegung (Geißelbewegung und Wimperbewegung) bei Infusiorien, Spermien, Flimmer-Epithel-Zellen, und endlich

Vd: die Muskelbewegung (bei den meisten Tieren).

Skala der Reflexe

(reflektorische Erscheinungen, Reflex-Bewegungen u.s.w.). Die elementare Seelentätigkeit, welche durch die Verknüpfung von Empfindung und Bewegung entsteht, nennen wir (im weitesten Sinne!) Reflex oder reflektive Funktion (reflektorische Leistung), besser Reflextat. Die Bewegung - gleichviel welcher Art - erscheint hier als die unmittelbare Folge des Reizes, welcher die Empfindung hervorgerufen hat; man hat sie daher auch im einfachsten Falle (bei Protisten) kurz als "Reizbewegung" bezeichnet. Alles lebende Plasma besitzt Reizbarkeit (Irritabilität). Jede physikalische oder chemische Veränderung der umgebenden Außenwelt kann unter Umständen auf das Psychoplasma als Reiz wirken und eine Bewegung hervorrufen oder "auslösen". Wir werden später sehen, wie der wichtige physikalische Begriff der Auslösung die einfachsten organischen Reflextaten unmittelbar anschließt an ähnliche mechanische Bewegungs-Vorgänge in der anorganischen Natur (z. B. bei der Explosion von Pulver durch einen Funken, von Dynamit durch einen Stoß). Wir unterscheiden in der Skala der Reflexe folgende sieben Stufen:

I. Auf der untersten Stufe der Organisation, bei den niedersten Protisten, lösen die Reize der Außenwelt (Licht, Wärme, Elektrizität usw.) im indifferenten Protoplasma nur jene unentbehrlichen inneren Bewegungen des Wachstums und Stoffwechsels aus, welche allen Organismen gemeinsam sind. Dasselbe gilt auch für die meisten Pflanzen.

II. Bei vielen frei beweglichen Protisten (besonders Amöben, Heliozoen und überhaupt den Rhizopoden) rufen äußere Reize an jeder Stelle der nackten Oberfläche des einzelligen Körpers äußere Bewegungen desselben hervor, die sich in der Gestaltsveränderung, oft auch in der Ortsveränderung äußern (amöboide Bewegung, Pseudopoden-Bildung, Ausstrecken und Einziehen von Scheinfüßchen); diese unbestimmten, veränderlichen Fortsätze des Plasma sind keine beständigen Organe. In gleicher Weise äußert sich die allgemeine organische Reizbarkeit als indifferenter Reflex auch bei den empfindlichen "Sinnpflanzen" und den niedersten Metazoen; bei diesen vielzelligen Organismen können die Reize von einer Zelle zur anderen fortgeleitet werden, da alle Zellen durch feine Ausläufer zusammenhängen.

III. Viele Protisten, namenlich höher entwickelte Protozoen, sondern an ihrem einzelligen Körper bereits zweierlei Organelle einfachster Art: sensible Tast-Organe und motorische Bewegungs-Organe; beide Werkzeuge sind direkte äußere Fortsätze des Protoplasma; der Reiz, welcher die ersteren trifft, wird unmittelbar durch das Psychoplasma des einzelligen Körpers zu den letzteren fortgeleitet und bewirkt deren Zusammenziehung. Besonders klar ist diese Erscheinung zu beobachten und auch experimentell festzustellen bei vielen festsitzenden Infusorien (z. B. Poteriodendron unter den Flagellaten, Vorticella unter den Ciliaten). Der schwächste Reiz, welcher die sehr empfindlichen Flimmerhaare (Geißeln oder Wimpern) am freien Ende der Zelle trifft, bewirkt sofort eine Kontraktion eines fadenförmigen Stieles am anderen festgehefteten Ende. Man bezeichnet diese Erscheinung als "einfachen Reflexbogen".

IV. An diese Vorgänge im einzelligen Organismus der Infusorien schließt sich unmittelbar der interessante Mechanismus der Neuromuskel-Zellen an, welchen wir im vielzelligen Körper vieler niederen Metazoen finden, besonders bei Nesseltieren (Polypen, Korallen). jede einzelne "Neuromuskel-Zelle" ist ein "einzelliges Reflex-Organ"; sie besitzt an der Oberfläche ihres Körpers einen empfindlichen Teil, an dem entgegengesetzten inneren Ende einen beweglichen Muskelfaden; der letztere zieht sich zusammen, sobald der erstere gereizt wird.

V. Bei anderen Nesseltieren, namentlich bei den frei schwimmenden Medusen - welche den festsitzenden Polypen nächst verwandt sind - zerfällt die einfache Neuromuskel-Zelle in zwei verschiedene, aber durch einen Faden noch zusammenhängende Zellen, eine äußere Sinneszelle (in der Oberhaut) und eine innere Muskelzelle (unter der Haut); in diesem zweizelligen Reflex-Organ ist die erstere das Elementar-Organ der Empfindung, die letztere dasjenige der Bewegung; die Verbindungsbrücke des Psychoplasma-Fadens leitet den Reiz von der ersteren zur letztere hinüber.

VI. Der wichtigste Fortschritt in der stufenweisen Ausbildung des Reflex-Mechanismus ist die Sonderung von drei Zellen; an die Stelle der eben genannten einfachen Verbindungsbrücke tritt eine selbstständige dritte Zelle, die Seelenzelle oder Ganglienzelle; damit erscheint zugleich eine neue psychische Funktion, die unbewusste "Vorstellung", deren Sitz eben diese zentrale Zelle ist. Der Reiz wird von der empfindlichen Sinneszelle zunächst auf diese vermittelnde Vorstellungs-Zelle oder Seelenzelle übertragen und erst von dieser als Befehl zur Bewegung an die motorische Muskelzelle abgegeben. Diese "dreizelligen Reflexorgane" sind überwiegend bei der großen Mehrzahl der wirbellosen Tiere entwickelt.

VII. An die Stelle dieser Einrichtung tritt bei den meisten Wirbeltieren das vierzellige Reflexorgan, indem zwischen die sensible Sinneszelle und die motorische Muskelzelle nicht eine, sondern zwei verschiedene Seelenzellen eingeschaltet werden. Der äußere Reiz wird hier von der Sinneszelle zunächst zentripetal auf die Empfindungszelle übertragen (die sensible Seelenzelle), von dieser auf die Willenszelle (die motorische Seelenzelle) und von dieser letzteren erst auf die kontraktile Muskelzelle. Indem zahlreiche solche Reflex-Organe sich verbinden und neue Seelenzellen eingeschaltet werden, entsteht der komplizierte Reflex-Mechanismus des Menschen und der höheren Wirbeltiere.

Einfache und zusammengesetzte Reflexe

Der wichtige Unterschied, den wir in morphologischer und physiologischer Hinsicht zwischen den einzelligen Organismen (Protisten) und den vielzelligen (Histonen) machen, gilt auch für deren Seelentätigkeit, für die Reflextat. Bei den einzelligen Protisten (ebenso den plasmodomen Urpflanzen, Protophyten, wie den plasmaphagen Urtieren, Protozoen) läuft der ganze physiologische Prozess des Reflexes innerhalb des Protoplasma einer einzigen Zelle ab; die "Zellseele" derselben erscheint noch als eine einheitliche Funktion des Psychoplasma, deren einzelne Phasen sich erst mit der Differenzierung besonderer Organe zu sondern beginnen. Schon bei den zönobionten Protisten, den Zellvereinen (z. B. Volvox, Carchesium), beginnt die zweite Stufe der Seelentätigkeit, die zusammengesetzte Reflextat. Die zahlreichen sozialen Zellen, welche diese Zellvereine oder Zoenobien zusammensetzen, stehen immer in mehr oder weniger enger Verbindung, oft direkt durch fadenförmige Plasmabrücken. Ein Reiz, welcher eine oder mehrere Zellen des Verbandes trifft, wird durch die Verbindungs-Brücken den übrigen mitgeteilt und kann alle zu gemeinsamer Kontraktion veranlassen. Dieser Zusammenhang besteht auch in den Geweben der vielzelligen Pflanzen und Tiere. Während man früher irrtümlich annahm, dass die Zellen der Pflanzengewebe ganz isoliert nebeneinander stehen, sind jetzt überall feine Plasmafäden nachgewiesen, welche die dicken Zellmembranen durchsetzen und ihre lebendigen Plasmakörper in materiellem und psychologischen Zusammenhang erhalten. So erklärt es sich, dass die Erschütterung der empfindlichen Wurzel von Mimosa, welche der Tritt des Wanderers auf den Boden verursacht, sofort den Reiz auf alle Zelle des Pflanzenstockes überträgt und ihre zarten Fiederblätter zum Zusammenlegen, die Blattstiele zum Herabsinken veranlasst.

Reflextat und Bewusstsein

Ein wichtiger und allgemeiner Charakter aller Reflex-Erscheinungen ist der Mangel des Bewusstseins. Aus Gründen, die wir im zehnten Kapitel auseinandersetzen, nehmen wir ein wirkliches Bewusstsein nur beim Menschen und den höheren Tieren an, dagegen nicht bei den Pflanzen, den niederen Tieren und den Protisten; demnach sind bei diesen letzteren alle Reiz-Bewegungen als Reflexe aufzufassen, d. h. also überhaupt alle Bewegungen, soweit sie nicht spontan und durch innere Ursachen veranlasst sind (impulsive und automatische Bewegungen). Anders verhält es sich bei den höheren Tieren, bei denen ein zentralisiertes Nervensysten und vollkommene Sinnesorgane entwickelt sind. Hier hat sich aus der psychischen Reflex-Tätigkeit allmählich das Bewusstsein entwickelt, und nunmehr treten die bewussten Willenshandlungen in Gegensatz zu den daneben noch fortbestehenden Reflex-Handlungen. Wir müssen aber hier, ebenso wie bei den Instinkten, zwei wesentlich verschiedene Erscheinungen trennen, die primären und die sekundären Reflexe. Primäre Reflexe sind solche, die phyletisch niemals bewusst gewesen sind, also die ursprüngliche Natur (durch Vererbung von niederen Tier-Ahnen) beibehalten haben. Sekundäre Reflexe dagegen sind solche, die bei den Voreltern bewusste Willenshandlungen waren, aber später durch Gewohnheit oder Ausfall des Bewusstseins zu unbewussten geworden sind. Eine scharfe Grenze ist hier - wie überall - zwischen bewussten und unbewussten Seelenfunktionen nicht zu ziehen.

Skala der Vorstellungen

(Dokesen) Ältere Psychologen (z. B. Herbart) haben die "Vorstellung" als das seelische Grundphänomen betrachtet, aus dem alle übrigen abzuleiten seien. Die moderne vergleichende Psychologie akzeptiert diese Anschauung, soweit es sich um den Begriff der unbewussten Vorstellung handelt; dagegen erblickt sie in der bewussten Vorstellung eine sekundäre Erscheinung des Seelenlebens, welche bei den Pflanzen und den niederen Tieren noch ganz fehlt und nur bei den höheren Tieren zur Ausbildung gelangt. Unter den zahlreichen widersprechenden Definitionen, welche die Psychologen vom Begriff der "Vorstellung" (Dokesis) gegeben haben, halten wir diejenige für die zweckmäßigste, welche darin das innere Bild des äußeren Objektes erblickt, welches durch die Empfindung uns übermittelt ist. ("Idee" im gewissen Sinne). Wir unterscheiden in der aufsteigenden Stufenleiter der Vorstellungs-Funktion die folgenden vier Hauptstufen:

I. Zellulare Vorstellung. Auf den niedersten Stufen begegnet uns die Vorstellung als eine allgemeine physiologische Funktion des Psychoplasmas; schon bei den einfachsten einzelligen Protisten können Empfindungen bleibende Spuren im Psychoplasma hinterlassen, und diese können vom Gedächtnis reproduziert werden. Bei mehr als viertausend Radiolarien-Arten, welche ich beschrieben habe, ist jede einzelne Spezies durch eine besondere erbliche Skelettform ausgezeichnet. Die Produktion dieses spezifischen, oft höchst verwickelt gebauten Skeletts durch eine höchst einfach gestaltete (meist kugelige) Zelle ist nur dann erklärlich, wenn wir dem bauenden Plasma die Fähigkeit der Vorstellung zuschreiben, und zwar der besonderen Reproduktion des "plastischen Distanz-Gefühls", wie ich in meiner Psychologie der Radiolarien gezeigt habe (1887, S. 121).

II Histonale Vorstellung. Schon bei den Zoenobien oder Zellvereinen der geselligen Protisten, noch mehr aber in den Geweben der Pflanzen und der niederen, nervenlosen Tiere (Spongien, Polypen) begegnen wir der zweiten Stufe der unbewussten Vorstellung, welche auf dem gemeinsamen Seelenleben zahlreicher, eng verbundener Zellen beruht. Wenn einmalige Reize nicht bloß eine vorübergehende Reflexbewegung eines Organes (z. B. eines Pflanzen-Blattes, eines Polypen-Armes) auslösen, sondern einen bleibenden Eindruck hinterlassen, der von diesem später spontan reproduziert werden kann, so müssen wir zur Erklärung dieser Erscheinung eine Histonal-Vorstellung annehmen, gebunden an das Psychoplasma der assoziierten Gewebe-Zellen.

III. Unbewusste Vorstellung der Ganglien-Zellen. Diese dritte, höhere Stufe der Vorstellung ist die häufigste Form dieser Seelentätigkeit im Tierreich; sie erscheint als eine Lokalisation des Vorstellens auf bestimmte "Seelenzellen". Im einfachsten Falle erscheint sie daher bei der Reflextat erst auf der sechsten Stufe der Entwicklung, wenn das dreizellige Reflex-Organ gebildet ist; der Sitz der Vorstellung ist dann die mittlere Seelenzelle, welche zwischen die sensible Sinneszelle und die motorische Muskelzelle eingeschaltet ist. Mit der aufsteigenden Entwicklung des Zentralnervensystems im Tierreich, seiner zunehmenden Differenzierung und Integration erhebt sich auch die Ausbildung dieser unbewussten Vorstellungen zu immer höheren Stufen.

IV. Bewusste Vorstellung der Gehirnzellen. Erst auf den höchsten Entwicklungsstufen der tierischen Organisation entwickelt sich das Bewusstsein als eine besondere Funktion eines bestimmten Zentral-Organs des Nervensystems. Indem die Vorstellungen bewusst werden, und indem besondere Gehirnteile sich zur Assoziation der bewussten Vorstellungen reich entfalten, wird der Organismus zu jenen höchsten psychischen Funktionen befähigt, welche wir als Denken und Überlegen, als Verstand und Vernunft bezeichnen. Obgleich die Absteckung der phyletischen Grenze zwischen den älteren, unbewussten und den jüngeren, bewussten Vorstellungen höchst schwierig ist, können wir doch mit Wahrscheinlichkeit annehmen, dass die letzteren aus den ersteren polyphyletisch entstanden sind; denn wir finden bewusstes und vernünftiges Denken nicht nur bei den höchsten Formen des Wirbeltier-Stammes (Mensch, Säugetiere, ein Teil der niederen Vertebraten), sondern auch bei den höchstentwickelten Vertretern anderer Tierstämme (Ameisen und andere Insekten, Spinnen und höhere Krebse unter den Gliedertieren, Zephalopoden unter den Weichtieren).

Skala des Gedächtnisses

Eng verknüpft mit der Stufenleiter in der Entwicklung der Vorstellungen ist diejenige des Gedächtnisses; diese höchst wichtige Funktion des Psychoplasma - die Bedingung aller fortschreitenden Seelenentwickelung - ist ja im Wesentlichen Reproduktion von Vorstellungen. Die Eindrücke im Bioplasma, welche der Reiz als Empfindung bewirkt hatte, und welche bleibend zu Vorstellungen geworden waren, werden durch das Gedächtnis neu belebt; sie gehen aus dem potentiellen in den aktuellen Zustand über. Die latente "Spannkraft" im Psychoplasma verwandelt sich in aktive "lebendige Kraft". Entsprechend den vier Stufen der Vorstellung können wir auch beim Gedächtnis vier Hauptstufen der aufsteigenden Entwicklung unterscheiden.

I. Zellular Gedächtnis

Schon vor dreißig Jahren hat Ewald Hering in einer gedankenreichen Abhandlung "das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie" bezeichnet und die hohe Bedeutung dieser Seelentätigkeit hervorgehoben, "der wir fast Alles verdanken, was wir sind und haben" (1870). Ich habe später (1876) diesen Gedanken weiter ausgeführt und in seiner fruchtbaren Anwendung auf die Entwicklungslehre zu begründen versucht, in meiner Abhandlung über "Die Perigenesis der Plastibule oder die Wellenzeugung der Lebensteilchen; ein Versuch zur mechanischen Erklärung der elementaren Entwicklungs-Vorgänge". Ich habe dort das "unbewusste Gedächtnis" als eine allgemeine, höchst wichtige Funktion aller Plastidule nachzuweisen gesucht, d. h. jener hypothetischen Moleküle oder Molekül-Gruppen, welche von Naegeli als Mizellen, von Anderen als Bioplasten usw. bezeichnet worden sind. Nur die lebendigen Plastidule, als die individuellen Moleküle des aktiven Plasma, sind reproduktiv und besitzen somit Gedächtnis; das ist der Hauptunterschied der organischen Natur von der anorganischen. Man kann sagen: "Die Erblichkeit ist das Gedächtnis der Plastidule, hingegen die Variabilität ist die Fassungskraft der Plastidule" (a.a.O. S. 72). Das elementare Gedächtnis der einzelligen Protisten setzt sich zusammen aus dem molekularen Gedächtnis der Plastidule aller Mizellen, aus welchem ihr lebendiger Zellenleib sich aufbaut. Für die erstaunlichen Leistungen des unbewussten Gedächtnisses bei diesen einzelligen Protisten ist wohl keine Tatsache lehrreicher als die unendlich mannigfaltige und regelmäßige Bildung ihrer komplizierten Schutzapparate, der Schalen und Skelette; besonders der Diatomeen und Cosmarieen unter den Protophyten, die Radiolarien und Thalamophoren unter den Protozoen liefern dafür eine Fülle von interessanten Beispielen. In vielen tausend Arten dieser Protisten vererbt sich die spezifische Skelettform relativ konstant und bezeugt die Treue ihres unbewussten zellul aren Gedächtnisses.

II. Histonal-Gedächtnis

Ebenso interessante Beweise für die zweite Stufe der Erinnerung, für das unbewusste Gedächtnis der Gewebe, liefert die Vererbung der einzelnen Organe und Gewebe im Körper der Pflanzen und der niederen, nervenlosen Tiere (Spongien usw.). Diese zweite Stufe erscheint als Reproduktion der Histonal-Vorstellungen, jener Assoziation von Zellular-Vorstellungen, die schon mit der Bildung von Zönobien bei den sozialen Protisten beginnt.

III. Gleicher Weise ist die dritte Stufe, das "unbewusste Gedächtnis" derjenigen Tiere, die bereits ein Nervensystem besitzen, als Reproduktion der entsprechenden "unbewussten Vorstellungen" zu betrachten, welche in gewissen Ganglien-Zellen aufgespeichert sind. Bei den meisten niederen Tieren ist wohl alles Gedächtnis unbewusst. Aber auch beim Menschen und den höheren Tieren, denen wir Bewusstsein zuschreiben müssen, sind die täglichen Funktionen des unbewussten Gedächtnisses ungleich häufiger und mannigfaltiger als diejenigen des bewussten; davon überzeugt uns leicht eine unbefangene Prüfung von tausend unbewussten Tätigkeiten, die wir aus Gewohnheit, ohne daran zu denken, beim Gehen, Sprechen, Schreiben, Essen usw., täglich vollziehen.

IV. Das bewusste Gedächtnis, welches durch bestimmte Gehirnzellen beim Menschen und den höheren Tieren vermittelt wird, erscheint daher nur als eine spät entstandene "innere Spiegelung", als die höchste Blüte derselben psychischen Vorstellungs-Reproduktionen, welche bei unseren niederen tierischen Vorfahren sich als unbewusste Vorgänge in den Ganglien-Zellen abspielen.

Assoziation der Vorstellungen

Die Verkettung der Vorstellungen, welche man gewöhnlich als Assoziation der Ideen (oder kürzer Assoziation) bezeichnet, durchläuft ebenfalls eine lange Skala von den niedersten bis zu den höchsten Stufen. Auch sie ist wieder ursprünglich und ganz überwiegend unbewusst ("Instinkt"); nur bei den höheren Tierklassen wird sie allmählich bewusst ("Vernunft"). Die psychischen Erzeugnisse dieser "Ideen-Assoziation" sind äußerst mannigfaltig; trotzdem aber führt eine sehr lange, ununterbrochene Stufenleiter allmählicher Entwicklung von den einfachsten unbewussten Assoziationen der niedersten Protisten bis zu den vollkommensten bewussten Ideen-Verkettungen des Kulturmenschen hinauf. Auch die Einheit des Bewusstseins bei letzteren wird als das höchste Ergebnis derselben erklärt (Hume, Condillac). Alles höhere Seelenleben wird um so vollkommener, je mehr sich die normale Assoziation unendlich zahlreicher Vorstellungen ausdehnt, und je naturgemäßer dieselben durch die "Kritik der reinen Vernunft" geordnet werden. Im Traume, wo diese Kritik fehlt, erfolgt oft die Assoziation der reproduzierten Vorstellungen in der konfusesten Form. Aber auch im Schaffen der dichterischen Phantasie, welche durch mannigfaltige Verkettung vorhandener Vorstellungen ganz neue Gruppen derselben produziert, ebenso in den Halluzinationen usw. werden dieselben oft ganz naturwidrig geordnet und erscheinen daher bei nüchterner Betrachtung vollkommen unvernünftig. Ganz besonders gilt dies von den übernatürlichen "Gestalten des Glaubens", dem Geisterspuk des Spiritismus und Okkultismus und den Phantasiebildern der transzendenten dualistischen Philosophie; aber gerade diese abnormen Assoziationen des "Glaubens" und der angeblichen "Offenbarung" werden vielfach als die wertvollsten "Geistesgüter" des Menschen hochgeschätzt (vergl. Kapitel 16).

Instinkte

Die veraltete Psychologie des Mittelalters, die allerdings auch heute noch viele Anhänger besitzt, betrachtete das Seelenleben des Menschen und der Tiere als gänzlich verschiedene Erscheinungen; sie leitete das erstere von der "Vernunft", das letztere von dem "Instinkte" ab. Der traditionellen Schöpfungsgeschichte entsprechend nahm man an, dass jeder Tier-Art bei ihrer Schöpfung eine bestimmte, unbewusste Seelen-Qualität vom Schöpfer eingepflanzt sei, und dass dieser "Naturtrieb" (Instinctus) einer jeden Spezies ebenso unveränderlich sei wie deren körperliche Organisation. Nachdem schon Lamarck (1809) bei Begründung seiner Deszendenz-Theorie diesen Irrtum als unhaltbar erwiesen, wurde er durch Darwin (1959) vollständig widerlegt; er bewies an der Hand seiner Selektions-Theorie folgende wichtige Lehrsätze:

I. Die Instinkte der Spezies sind individuell verschieden und ebenso der Abänderung durch Anpassung unterworfen wie die morphologischen Merkmale der Körperbildung.

II. Diese Variationen (großenteils durch veränderte Gewohnheiten entstanden) werden durch Vererbung teilweise auf die Nachkommen übertragen und im Laufe der Generationen gehäuft und befestigt.

III. Die Selektion (ebenso die künstliche wie die natürliche) trifft unter diesen erblichen Veränderungen der Seelentätigkeit eine Auswahl, sie erhält die zweckmäßigsten und entfernt die weniger passenden Modifikationen.

IV. Die dadurch bedingte Divergenz des psychischen Charakters führt so im Laufe der Generations-Folgen ebenso zur Entstehung neuer Instinkte, wie die Divergenz des morphologischen Charakters zur Entstehung neuer Spezies. Diese Instinkt-Theorie Darwin's ist jetzt von den meisten Biologen angenommen; John Romanes hat dieselbe in seinem ausgezeichneten Werke über "Die geistige Entwicklung im Tierreiche" (1885) so eingehend behandelt und so wesentlich erweitert, dass ich hier lediglich darauf verweisen kann. Ich will nur kurz bemerken, dass nach meiner Ansicht Instinkte bei allen Organismen vorkommen, bei sämtlichen Protisten und Pflanzen ebenso wie bei sämtlichen Tieren und Menschen; sie treten aber bei letzteren um so mehr zurück, je mehr sich auf ihre Kosten die Vernunft entwickelt.

Als zwei Hauptklassen sind unter den unzähligen Instinkt-Formen die primären und sekundären zu unterscheiden; primäre Instinkte sind die allgemeinen niederen Triebe, welche dem Psychoplasma von Beginn des organischen Lebens innewohnten und unbewusst waren, vor Allem die Triebe der Selbsterhaltung (Schutz und Ernährung), und der Arterhaltung (Fortpflanzung und Brutpflege). Diese beiden Grundtriebe des organischen Lebens, Hunger und Liebe, sind ursprünglich überall unbewusst, ohne Mitwirkung des Verstandes oder der Vernunft entstanden; bei höheren Tieren sind sie später, wie beim Menschen, Gegenstände des Bewusstseins geworden. Umgekehrt verhält es sich mit den sekundären Instinkten; diese sind ursprünglich durch intelligente Anpassung entstanden, durch verständiges Nachdenken und Schließen, sowie zweckmäßiges bewusstes Handeln; allmählich sind sie so zur Gewohnheit geworden, dass diese "altera natura" unbewusst wirkt und auch bei der Vererbung auf die Nachkommen als "angeboren" erscheint. Das ursprünglich mit diesen besonderen Instinkten der höheren Tiere und des Menschen verknüpfte Bewusstsein und Nachdenken ist im Laufe der Zeit den Plastidulen verloren gegangen (wie bei der "abgekürzten Vererbung"). Die unbewussten zweckmäßigen Handlungen der höheren Tiere (z. B. die Kunsttriebe) erscheinen jetzt als angeborene Instinkte. So ist auch die Entstehung der angeborenen "Erkenntnisse a priori" beim Menschen zu erklären, welche ursprünglich bei seinen Voreltern a posteriori sich empirisch entwickelt hatten.

Skala der Vernunft

In jenen oberflächlichen, mit dem Seelenleben der Tiere unbekannten psychologischen Betrachtungen, welche nur im Menschen eine "wahre Seele" anerkennen, wird auch ihm allein als höchstes Gut die "Vernunft" und das Bewusstsein zugeschrieben. Auch dieser triviale Irrtum (der übrigens noch heute in vielen Lehrbüchern spukt) ist durch die vergleichende Psychologie der letzten vierzig Jahre gründlich widerlegt. Die höheren Wirbeltiere (vor Allem die dem Menschen nächststehenden Säugetiere) besitzen ebenso gut Vernunft wie der Mensch selbst, und innerhalb der Tierreihe ist ebenso eine lange Stufenleiter in der allmählichen Entwicklung der Vernunft zu verfolgen wie innerhalb der Menschen-Reihe. Der Unterschied zwischen der Vernunft eines Goethe, Kant, Lamarck, Darwin und derjenigen des niedersten Naturmenschen, eines Wedda, Akka, Australnegers und Patagoniers, ist viel größer als die graduelle Differenz zwischen der Vernunft dieser letztere und der "vernünftigsten" Säugetiere, der Menschenaffen (Anthropomorpha) und selbst der Papstaffen (Papiomorpha), der Hunde und Elephanten. Auch dieser wichtige Satz ist durch gründliche kritische Vergleichung von Romanes u.a. überzeugend bewiesen. Wir gehen daher auf denselben hier nicht näher ein, ebenso wenig wie auf den Unterschied zwischen Vernunft (Ratio) und Verstand (Intellectus); über diese Begriffe und ihre Grenzen, wie über viele andere Grundbegriffe der Psychologie, geben die angesehensten Philosophen die widersprechendsten Definitionen. Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Fähigkeit der Begriffsbildung, welche beiden Gehirn-Funktionen gemeinsam ist, beim Verstande den engeren Kreis der konkreten, näher liegenden Assoziationen umfasst, bei der Vernunft dagegen den weiteren Kreis der abstrakten, umfassenderen Assoziations-Gruppen. Auf der langen Stufenleiter, welche von den Reflextaten und Instinkten der niederen Tiere zu der Vernunft der höchsten Tiere hinaufführt, geht der Verstand der letzteren voraus. Wichtig ist für unsere allgemeine psychologische Betrachtung vor Allem die Tatsache, dass auch diese höchstentwickelten Seelentätigkeiten den Gesetzen der Vererbung und Anpassung unterliegen, ebenso wie ihre Organe; als solche "Denkorgane" sind beim Menschen und den höheren Säugetieren durch Flechsig (1894), diejenigen Teile der Großhirnrinde nachgewiesen, welche zwischen den vier inneren Sinnesherden liegen (vergl. Kapitel 10 und 11)

Sprache

Der höhere Grad von Entwicklung der Begriffe, von Verstand und Vernunft, welcher den Menschen so hoch über die Tiere erhebt, ist eng verknüpft mit der Ausbildung seiner Sprache. Aber auch hier, wie dort, ist eine lange Stufenleiter der Entwicklung nachweisbar, welche ununterbrochen von den niedersten zu den höchsten Bildungsstufen hinaufführt. Sprache ist ebenso wenig wie Vernunft ein ausschließliches Eigentum des Menschen. Vielmehr ist Sprache im weiteren Sinne ein gemeinsamer Vorzug aller höheren sozialen Tiere, mindestens aller Gliedertiere und Wirbeltiere, welche in Gesellschaften und Herden vereinigt leben; sie ist ihnen notwendig zur Verständigung, zur Mitteilung ihrer Vorstellungen. Diese kann nun entweder durch Berührung oder durch Zeichengebung geschehen, oder durch Töne, welche bestimmte Begriffe bezeichnen. Auch der Gesang der Singvögel und der singenden Menschenaffen (Hylobates) gehört zur Lautsprache, ebenso wie das Bellen der Hunde und das Wiehern der Pferde; ferner das Zirpen der Grillen und das Geschrei der Zikaden. Aber nur beim Menschen hat sich jene artikulierte Begriffssprache entwickelt, welche seine Vernunft zu so viel höheren Leistungen befähigt. Die vergleichende Sprachforschung, eine der interessantesten im 19. Jahrhundert entstandenen Wissenschaften, hat gelehrt, wie die zahlreichen hochentwickelten Sprachen der verschiedenen Völker sich aus wenigen einfachen Ursprachen langsam und allmählich entwickelt haben (Wilhelm Humboldt, Bopp, Schleicher, Steintal u.a.). Insbesondere hat August Schleicher in Jena gezeigt, dass die historische Entwicklung der Sprachen nach denselben phylogenetischen Gesetzen erfolgt, wie diejenige anderer physiologischer Tätigkeiten und ihrer Organe. Romanes hat (1893) diesen Nachweis weiter ausgeführt und überzeugend dargetan, dass auch die Sprache des Menschen nur dem Grade der Entwicklung nach, nicht dem Wesen und der Art nach von derjenigen der höheren Tiere verschieden ist.

Skala der Gemütsbewegungen

oder Affekte. Die wichtige Gruppe von Seelentätigkeiten, welche wir unter dem Begriffe "Gemüt" zusammenfassen, spielt eine große Rolle ebenso in der theoretischen wie in der praktischen Vernunftlehre. Für unsere Betrachtungsweise sind sie deshalb besonders wichtig, weil hier der direkte Zusammenhang der Gehirnfunktion mit anderen physiologischen Funktionen (Herzschlag, Sinnestätigkeit, Muskelbewegung) unmittelbar einleuchtet; dadurch wird hier besonders das Widernatürliche und Unhaltbare jener Philosophie klar, welche die Psychologie prinzipiell von der Physiologie trennen will. Alle die zahlreichen Äußerungen des Gemütslebens, welche wir beim Menschen finden, kommen auch bei den höheren Tieren vor (besonders bei den Menschenaffen und Hunden); so verschiedenartig sie auch entwickelt sind, so lassen sich doch alle wieder auf die beiden Elementar-Funktionen der Psyche zurückführen, auf Empfindung und Bewegung, und auf deren Verbindung im Reflex und in der Vorstellung. Zum Gebiete der Empfindung im weiteren Sinne gehört das Gefühl von Lust und Unlust, welches das Gemüt bestimmt, und ebenso gehört auf der anderen Seite zum Gebiete der Bewegung die entsprechende Zuneigung und Abneigung ("Liebe und Hass"), das Streben nach Erlangen der Lust und nach Vermeiden der Unlust. "Anziehung und Abstoßung" erscheinen hier zugleich als die Urquelle des Willens, jenes hochwichtigen Seelen-Elementes, welches den Charakter des Individuums bestimmt. Die Leidenschaften, welche eine so große Rolle im höheren Seelenleben des Menschen spielen, sind nur Steigerungen der "Gemütsbewegungen" und Affekte. Dass auch diese den Menschen und Tieren gemeinsam sind, hat Romanes neuerdings einleuchtend gezeigt. Auf der tiefsten Stufe des organischen Lebens schon finden wie bei allen Protisten jene elementaren Gefühle von Lust und Unlust, welche sich in ihren sogenannten Tropismen äußern, in dem Streben nach Licht oder Dunkelheit, nach Wärme oder Kälte, in dem verschiedenen Verhalten gegen positive und negative Elektrizität. Auf der höchsten Stufe des Seelenlebens dagegen treffen wir beim Kulturmenschen jene feinsten Gefühlstöne und Abstufungen von Entzücken und Abscheu, von Liebe und Hass, welche die Triebfedern der Kulturgeschichte und die unerschöpfliche Fundgrube der Poesie sind. Und doch verbindet eine zusammenhängende Kette von allen denkbaren Übergangsstufen jene primitivsten Urzustände des Gemüts im Psychoplasma der einzelligen Protisten mit diesen höchsten Entwicklungsformen der Leidenschaften beim Menschen, welche sich in den Ganglienzellen der Großhirnrinde abspielen. Dass auch diese letzeren den physikalischen Gesetzen absolut unterworfen sind, hat schon der große Spinoza in seiner berühmten "Statik der Gemütsbewegungen" dargetan.

Skala des Willens

Der Begriff des Willens unterliegt gleich anderen psychologischen Grundbegriffen (gleich den Begriffen von Vorstellung, Seele, Geist usw.) den verschiedensten Deutungen und Definitionen. Bald wird der Wille im weitesten Sinne als kosmologisches Attribut betrachtet. "die Welt als Wille und Vorstellung" (Schopenhauer), bald im engsten Sinne als ein anthropologisches Attribut, als eine auschließliche Eigenschaft des Menschen; letzteres gilt z. B. für Descartes, für welchen die Tiere willenlose und empfindungslose Maschinen sind. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch wird der Wille von der Erscheinung der willkürlichen Bewegungen abgeleitet und somit als eine Seelentätigkeit der meisten Tiere betrachtet. Wenn wir den Willen im Lichte der vergleichenden Physiologie und Entwicklungsgeschichte untersuchen, so kommen wir - ebenso wie bei der Empfindung - zur Überzeugung, dass er eine allgemeine Eigenschaft des lebenden Psychoplasma ist. Die automatischen Bewegungen sowohl als die Reflexbewegungen, die wir schon bei den einzelligen Protisten allgemein beobachten, erscheinen uns als die Folge von Strebungen, welche mit dem Begriffe des Lebens selbst verknüpft sind. Auch bei den Pflanzen und den niedersten Tieren erscheinen die Strebungen oder Tropismen als das Gesamtresultat der Strebungen aller einzelnen vereinigten Zellen.

Erst wenn das "dreizellige Reflexorgan" sich entwickelt (S. 49), wenn zwischen die sensible Sinneszelle und die motorische Muskelzelle die selbstständige dritte Zelle eingeschaltet wird, die "Seelenzelle oder Ganglienzelle", können wir diese als ein selbstständiges Elementar-Organ des Willens anerkennen. Der Wille bleibt aber hier, bei den niederen Tieren, meistens noch unbewusst. Erst, wenn sich bei den höheren Tieren das Bewusstsein entwickelt, als subjektive Spiegelung der objektiven inneren Vorgänge im Neuroplasma der Seelenzellen, erreicht der Wille jene höchste Stufe, welche ihn qualitativ dem menschlichen Willen gleichstellt, und für den man im Sprachgebrauch das Prädikat der "Freiheit" in Anspruch nimmt. Seine freie Entfaltung und Wirkung erscheint um so imposanter, je mehr sich mit der freien und schnellen Ortsbewegung das Muskelsystem und die Sinnesorgane entwickeln und in Korrelation damit die Denkorgane des Gehirns.

Willensfreiheit

Das Problem von der Freiheit des menschlichen Willens ist unter allen Welträtseln dasjenige, welches den denkenden Menschen von jeher am meisten beschäftigt hat, und zwar deshalb, weil sich hier mit dem hohen philosophischen Interesse der Frage zugleich die wichtigsten Folgerungen für die praktische Philosophie verknüpfen, für die Moral, die Erziehung, die Rechtspflege usw. E. Du Bois-Reymond, welcher dasselbe als das siebente und letzte unter seinen "sieben Welträtseln" behandelt, sagt daher von dem Problem der Willensfreiheit mit Recht: "Jeden berührend, scheinbar Jedem zugänglich, innig verflochten mit den Grundbedingungen der menschlichen Gesellschaft, auf das tiefste eingreifend in die religiösen Überzeugungen, hat diese Frage in der Geistes- und Kulturgeschichte eine Rolle von unermesslicher Wichtigkeit gespielt, und in ihrer Behandlung spiegeln sich die Entwicklungsstadien des Menschengeistes deutlich ab. - Vielleicht gibt es keinen Gegenstand menschlichen Nachdenkens, über welchen längere Reihen nie mehr aufgeschlagener Folianten im Staube der Bibliotheken modern." - Diese Wichtigkeit der Frage tritt auch darin klar zu Tage, dass Kant die Überzeugung von der "Willensfreiheit" unmittelbar neben diejenige von der "Unsterblichkeit der Seele" und neben den "Glauben an Gott" stellte. Er bezeichnete diese drei großen Fragen als die drei unentbehrlichen "Postulate der praktischen Vernunft", nachdem er früher klar dargelegt hatte, dass die Realität derselben im Lichte der reinen Vernunft nicht zu beweisen ist!

Das Merkwürdigste in dem großartigen und höchst verworrenen Streit über die Willensfreiheit ist vielleicht die Tatsache, dass dieselbe theoretisch nicht nur von höchst kritischen Philosophen, sondern auch von den extremsten Gegensätzen verneint und trotzdem von den meisten Menschen als selbstverständlich noch heute bejaht wird. Hervorragende Lehrer der christlichen Kirche, wie der Kirchenvater Augustin und der Reformator Calvin, leugnen die Willensfreiheit ebenso bestimmt wie die bekanntesten Führer des reinen Materialismus, wie Holbach im 18. und Büchner im 19. Jahrhundert. Die christlichen Theologen verneinen sie, weil sie mit ihrem festen Glauben an die Allmacht Gottes und die Prädestination unvereinbar ist; also bestimmte er auch das Handeln des Menschen. Wenn der Mensch nach freiem Willen handelte, anders als es Gott vorausbestimmt hatte, so wäre Gott nicht allmächtig und allwissend gewesen. In demselben Sinne war auch Leibniz unbedingter Determinist. Die monistischen Naturforscher des 18. Jahrhunderts, Allen voran Laplace, verteidigten den Determinismus wieder auf Grund ihrer einheitlichen mechanischen Weltanschauung.

Der gewaltige Kampf zwischen den Deterministen und Indeterministen, zwischen den Gegnern und Anhängern der Willensfreiheit, ist heute, nach mehr als zwei Jahrtausenden, endgültig zu Gunsten der ersteren entschieden. Der menschliche Wille ist ebenso wenig frei wie derjenige der höheren Tiere, von welchem er sich nur dem Grade, nicht der Art nach unterscheidet. Während noch im 18. Jahrhundert das alte Dogma von der Willensfreiheit wesentlich mit allgemeinen, philosophischen und kosmologischen Gründen bestritten wurde, hat uns dagegen das 19. Jahrhundert ganz andere Waffen zu dessen definitiver Widerlegung geschenkt, die gewaltigen Waffen, welche wir dem Arsenal der vergleichenden Physiologie und Entwicklungsgeschichte verdanken. Wir wissen jetzt, dass jeder Willens-Akt ebenso durch die Organisation des wollenden Individuums bestimmt und ebenso von den jeweiligen Bedingungen der umgebenden Außenwelt abhängig ist wie jede andere Seelentätigkeit. Der Charakter des Strebens ist von vornherein durch die Vererbung von Eltern und Voreltern bedingt; der Entschluss zum jedesmaligen Handeln wird durch die Anpassung an die momentanen Umstände gegeben, wobei das stärkste Motiv den Ausschlag gibt, entsprechend den Gesetzen, welche die Statik der Gemütsbewegungen bestimmen. Die Ontogenie lehrt uns die individuelle Entwicklung des Willens beim Kinde verstehen, die Phylogenie aber die historische Ausbildung des Willens innerhalb der Reihe unserer Vertrebraten-Ahnen.