Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Anmerkungen und Erläuterungen

Anmerkungen und Erläuterungen

1) Kosmologische Perspektive

(S. 11). Der geringe Spielraum, welchen uns das menschliche Vorstellungsvermögen bei Beurteilung großer Dimensionen in Raum und Zeit gestattet, ist ebenso eine reiche Fehlerquelle von anthropistischen Illusionen wie ein mächtiges Hindernis der geläuterten monistischen Weltanschauung. Um sich der unendlichen Weltdehnung des Raumes bewusst zu werden, muss man einerseits bedenken, dass die kleinsten sichtbaren Organismen (Bakterien) riesengroß sind gegenüber den unsichtbaren Atomen und Molekülen, welche weit jenseits der Sichtbarheit auch bei Anwendung der stärksten Mikroskope liegen; andererseits muss man die unbegrenzten Dimensionen des Weltraumes erwägen, in welchem unser Sonnen-System nur den Wert eines einzelnen Fixsternes hat und unsere Erde nur einen winzigen Planeten der mächtigen Sonne darstellt. - In entsprechender Weise werden wir uns der unendlichen Ausdehnung der Zeit bewusst, wenn wir uns einerseits an die physikalischen und physiologischen Bewegungen erinnern, die innerhalb einer Sekunde sich abspielen, and andererseits an die ungeheuere Länge der Zeiträume, welche die Entwicklung der Weltkörper in Anspruch nimmt. Selbst der verhältnismäßig kurze Zeitraum der "organischen Erdgeschichte" (innerhalb deren das organische Leben auf userem Erdball sich entwickelt hat) umfasst nach neueren Berechnungen weit über hundert Millionen Jahre, d. h. mehr als 100 000 Jahrtausende!

Allerdings lassen die geologischen und paläontologischen Tatsachen, auf welche sich diese Berechnungen gründen, nur sehr unsichere und schwankende Zahlen-Angaben zu. Während wohl die meisten sachkundigen Autoritäten gegenwärtig für die Länge der organischen Erdgeschichtee 100-200 Millionen Jahre annehmen, beläuft sich dieselbe nach anderen Schätzungen nur auf 25-50 Millionen; nach einer genauen geologischen Berechnung der neuesten Zeit auf mindestens vierzehnhundert Jahrmillionen. Vergl. meinen Cambridge-Vortrag über den Ursprung des Menschen, 1898, S. 51: "Wenn wir aber auch ganz außer Stande sind, die absolute Länge der phylogenetischen Zeiträume annähernd sicher zu bestimmen, so besitzen wir dagegen andererseits sehr wohl die Mittel, die relative Länge derselben ungefähr abzuschätzen. Nehmen wir hundert Millionen Jahre als Minimal-Zahlen, so würden sich dieselben auf die fünf Hauptperioden der organischen Geschichte etwa folgendermaßen verteilen:

  • Archozoische Periode (Primordial-Zeit), vom Beginn des organischen Lebens bis zum Ende der kambrischen Schichtenbildung; Zeitalter der Schädellosen. - 52 Millionen,

  • Paläozoische Periode (Primär-Zeit), vom Beginn der silurischen bis zum Ende der permischen Schichtenbildung; Zeitalter der Fische. - 34 Millionen,

  • Mesozoische Periode (Sekundär-Zeit), vom Beginn der Trias-Periode bis zum Ende der Kreide Periode; Zeitalter der Reptilien. - 11 Millionen,

  • Cänozoische Periode (Tertiär-Zeit), vom Beginn der eozänen bis zum Ende der pliozänen Periode; Zeitalter der Säugetiere. - 3 Millionen,

  • Anthropozoische Periode (Quartär-Zeit), vom Beginn der Diluvial-Zeit (in welchen wahrscheinlich die Entwicklung der menschlichen Sprache fällt) bis zur Gegenwart; Zeitalter des Menschen, mindestens 100 000 Jahre = 0,1 Million.

Um die ungeheuere Länge dieser phylogenetischen Zeiträume dem menschlichen Auffassungs-Vermögen näher zu bringen und namentlich die relative Kürze der sogenannten "Weltgeschichte" (d. h. der Geschichte der Kulturvölker!) zum Bewusstsein zu bringen, hat kürzlich einer meiner Schüler, Heinrich Schmidt (Jena), die angenommene Minimal-Zahl von hundert Jahr-Millionen durch chronometrische Reduktion auf einen Tag projiziert. Durch diese "verjüngende Projektion" verteilen sich die 24 Stunden des "Schöpfungs-Tages" folgendermaßen auf die fünf phylogenetishen Perioden;

  • Archozoische Periode (52 Jahrmillionen) = 12 St. 30 Min. ( = von Mitternacht bis 1/2 1 Uhr Mittags).

  • Paläozoische Periode (34 Jahrmillionen) = 8 St. 5 Min. (von 1/2 1 Uhr Mittags bis 1/2 9 Uhr Abends).

  • Mesozoische Periode (11 Jahrmillionen) = 2 St. 38 Min. (von 1/2 9 Uhr bis 1/4 12 Uhr Abends).

  • Cänozoische Periode (3 Jahrmillionen) = 43 Min. (von 1/4 12 Uhr Abends bis 2 Min. vor Mitternacht).

  • Anthropozoische Periode (0,1-0,2 Jahrmillionen) = 2 Min.

  • Kultur-Periode, sogenannte "Weltgeschichte" (6 000 Jahre) = 5 Sek.

Wenn man also nur die Minimal-Zahl von 100 Jahrmillionen (nicht die Maximal-Zahl von 1400!) für die Zeitdauer der organischen Entwicklung auf unserem Erdball annimmt und diese auf 24 Stunden projicirt, so beträgt davon die sogenannte "Weltgeschichte" nur fünf Sekunden (Prometheus, Jahrg. X, 1899, {Nr. 492, S. 381}).

2) Neovitalismus

(S. 22). Nachdem die mystische Lehre von der übernatürlichen "Lebenskraft" durch den Darwinismus ihren Todesstoß erhalten hatte und bereits vor zwanzig Jahren glücklich überwunden schien, ist dieselbe neuerdings wieder aufgelebt und hat sogar im letzten Dezennium zahlreiche Anhänger wieder gewonnen. Der Physiologie Bunge, der Pathologe Rindfleisch, der Botaniker Reinke u. a haben den wiedererstandenen Wunderglauben an die immaterielle und intellektuelle Lebenskraft mit großem Erfolg verteidigt. Den größten Eifer haben dabei einige meiner früheren Schüler bewiesen. Diese "modernsten" Naturforscher sind zu der Überzeugung gelangt, dass die Entwicklungslehre und insbesondere der Darwinismus eine haltlose Irrlehre ist, und dass "Geschichte überhaupt keine Wissenschaft" ist. Einer derselben hat sogar die Diagnose gestellt, dass "alle Darwinisten an Gehirnerweichung leiden". Da nun trotz des Neovitalismus die große Mehrzahl der modernen Naturforscher (wohl mehr als neun Zehntel!) in der Entwicklungslehre den größten Fortschritt der Biologie in unserem Jahrhundert erblickt, wird man wohl diese bedauerliche Tatsache durch eine furchtbare zerebrale Epidemie erklären müssen. Alle diese albernen Verdammungsurteile von Seiten unklarer und einseitig gebildeter Spezialisten schaden unserer modernen Entwicklungslehre und Geschichtswissenschaft ebenso wenig die die Bannflüche des Papstes.

Der Neovitalismus wird in seiner ganzen Dürftigkeit und Haltlosigkeit klar, wenn man ihn den Tatsachen der Geschichte in der ganzen organischen Welt gegenüberstellt. Diese historischen Tatsachen der "Entwicklungsgeschichte" im weitesten Sinne, die Fundamente der Geologie, der Paläontologie, der Ontogenie usw. sind in ihrem natürlichen Zusammenhang nur durch unsere monistische Entwicklungslehre erklärbar, und diese verträgt sich weder mit dem alten noch mit dem neuen Vitalismus. Dass gerade jetzt der letztere an Ausdehnung gewinnt, erklärt sich zum Teil auch aus der bedauerlichen Tatsache der allgemeinen Reaktion im geistigen und politischen Leben, welche das letzte Dezennium des 19. Jahrhunderts vor demjenigen des 18. in höchst unvorteilhafter Weise auszeichnet. In Deutschland insbesondere hat der sogenannte "neue Kurs" höchst depravierende byzantinische Zustände nicht nur im politischen und kirchlichen Leben, sondern auch in Kunst und Wissenschaft hervorgerufen. Indessen bedeutet diese moderne Reaktion im Großen und Ganzen doch nur eine vorübergehende Episode.

3) Teleologie von Kant

(S. 105). Durch die erstaunlichen Fortschritte der modernen Biologie ist die teleologische Naturerklärung von Kant vollkommen widerlegt worden. Die Physiologie hat inzwischen den Beweis geführt, dass alle Lebenserscheinungen auf chemische und physikalische Prozesse zurückzuführen sind, und dass es zu ihrer Erklärung weder eines persönlichen Schöpfers als Werkmeister noch einer rätselhaften, zweckmäßig bauenden Lebenskraft bedarf. Die Zellentheorie hat uns gezeigt, dass alle verwickelten Lebenstätigkeiten der höheren Tiere und Pflanzen von den einfachen physikalisch-chemischen Vorgängen im Elementar-Organismus der mikroskopischen Zellen abzuleiten sind, und dass die materielle Grundlage derselben das Plasma des Zellenleibes ist. Das gilt ebenso von den Erscheinungen des Wachstums und der Ernährung wie von denjenigen der Fortpflanzung, Empfindung und Bewegung. Das biogenetische Grundgesetz lehrt uns, dass die rätselhaften Erscheinungen der Keimesgeschichte (die Entwicklung der Embryonen wie die Verwandlung der Jugendformen) auf Vererbung von entsprechenden Vorgängen in der Stammesgeschichte der Ahnen beruhen. Die Deszendenz-Theorie aber hat das Rätsel gelöst, wie die Vorgänge in dieser Stammesgeschichte, die physiologischen Tätigkeiten der Vererbung und Anpassung, im Laufe langer Zeiträume einen beständigen Wechsel der Artformen, eine langsame Transformation der Spezies bedingen. Die Selektions-Theorie endlich führt den klaren Nachweis, wie bei diesen phylogenetischen Vorgängen die zweckmäßigsten Einrichtungen entstehen. Darwin hat damit ein mechanisches Erklärungs-Prinzip der organischen Zweckmäßigkeit zur Geltung gebracht, welches schon vor mehr als 2 000 Jahren Empedokles geahnt hatte; er ist damit der "Newton der organischen Natur" geworden, dessen Möglichkeit Kant entschieden bestritten hatte.

Diese historischen Verhältnisse, die ich schon vor 30 Jahren (im fünften Kapitel der Natürlichen Schöpfungsgeschichte) hervorgehoben hatte, sind so interessant und wichtig, dass ich sie hier nochmals betonen wollte. Es erscheint dies nicht nur deshalb angemessen, weil die moderne Philosophie mit besonderem Nachdruck den "Rückgang auf Kant" verlangt, sondern auch weil daraus hervorgeht, dass selbst die größten Metaphysiker blindlings in schwere Irrtümer bei Beurteilung der wichtigsten Fragen verfallen können. Kant, der nüchterne und klare Begründer der "kritischen Philosophie", erklärt mit größter Bestimmtheit die Hoffnung auf eine Entdeckung für "ungereimt", welche schon 70 Jahre später von Darwin tatsächlich gemacht wurde, und er spricht dem Menschengeist für alle Zeit eine bedeutungsvolle Einsicht ab, welche derselbe durch die Selektions-Theorie des Letzteren tatsächlich erlangte. Man sieht, wie gefährlich das kategorische "Ignorabimus" ist!

Angesichts der übertriebenen Verehrung, welche Kant in der neueren deutschen Philosophie gezollt wird, und welche bei vielen "Neu-Kantianern" in eine unbedingte, abgöttische Anbetung übergeht, wird es uns gestattet sein, hier die menschlichen Unvollkommenheiten des großen Königsbergers Philosophen zu beleuchten und verhängnisvolle Schwächen seiner "kritischen" Weltweisheit. Seine dualistische, mit den Jahren immer zunehmende Richtung zur transzendentalen Metaphysik war bei Kant schon durch die mangelhafte und einseitige Vorbildung auf der Schule und der Universität bedingt. Seine dort erlangte akademische Bildung war überwiegend philologisch, theologisch und mathematisch; von den Naturwissenschaften lernte er Astronomie und Physik gründlich kennen, zum Teil auch Chemie und Mineralogie. Dagegen blieb ihm das weite Gebiet der Biologie, selbst in dem bescheidenen Umfang der damaligen Zeit, größtenteils unbekannt. Von den organischen Naturwissenschaften hat er weder Zoologie noch Botanik, weder Anatomie noch Physiologie studiert; daher blieb auch seine Anthropologie, mit der er sich lange Zeit beschäftigte, höchst unvollkommen. Hätte Kant statt Philologie und Theologie mehrere Jahre Medizin studiert, hätte er sich in den Vorlesungen Anatomie und Physiologie eine gründliche Kenntnis des menschlichen Organismus, in dem Besuche der Kliniken eine lebendige Abbildung von dessen pathologischen Veränderungen angeeignet, so würde nicht nur die Anthropologie, sondern die gesamte Weltanschauung des "kritischen" Philosophen eine ganz andere Form gewonnen haben. Kant würde sich dann nicht so leichten Herzens über die wichtigsten, schon damals bekannten biologischen Tatsachen hinweggesetzt haben, wie es in seinen späteren Schriften (seit 1769) geschah.

Nach Vollendung seiner Universtäts-Studien musste Kant sich neun Jahre hindurch sein Brot als Hauslehrer verdienen, vom 22.-31. Lebensjahre, also gerade in jener wichtigsten Periode des Jünglings-Lebens, in welcher nach aufgenommener akademischer Bildung die selbstständige Entwicklung des persönlichen und wissenschaftlichen Charakters für das ganze folgende Leben sich entscheidet. Hätte Kant, der den größten Teil seines Lebens in Königsberg festsaß und niemals die Grenzen der Provinz Preußen überschritt, damals größere Reisen ausgeführt, hätte er seinem lebhaften geographischen und anthropologischen Interesse durch reale Anschauungen lebendige Nahrung zugeführt, so würde diese Erweiterung seines Gesichtskreises auf die Gestaltung seiner idealen Weltanschauung sicher in höchst wohltätiger Weise eingewirkt haben. Auch der Umstand, dass Kant niemals verheiratet war, kann bei ihm wie bei anderen philosophierenden Junggesellen als Entschuldigung für mangelhafte und einseitige Bildung angesehen werden. Denn der weibliche und der männliche Mensch sind zwei wesentlich verschiedene Organismen, die erst in ihrer gegenseitigen Ergänzung das volle Bild des normalen Gattungs-Begriffs "Mensch" ausgestalten.

4) Kritik der Evangelien

(S. 125). S. E. Verus, Vergleichende Übersicht (Vollständige Synopsis) der vier Evangelien in unverkürztem Wortlaut. Leipzig 1897. Schlusswort: "Jede Schrift muss aus dem Geist ihrer Zeit verstanden und beurteilt werden. Die "Evangelien"-Dichtungen entstammen einer ganz unwissenschaftlichen Zeit und Kreisen voll rohen Aberglaubens; sie sind für ihre Zeit, nicht für die gegenwärtige oder gar für "alle Zeiten" geschrieben worden, aber auch nicht als Geschichtsbücher, sondern als Erbauungschriften, zum Teil als kirchliche Streitschriften. Nur das Interesse der Kirche, ihrer Priesterschaft und der mit ihnen verbundenen gesellschaftlichen Einrichtungen verlangte es, den Ursprung jener Schriften auf "Apostel" (Matthäus, Johannes) oder "Apostelschüler" (Markus, Lukas) zurückzuführen, und reicht allein schon hin, auf ganz einfache natürliche Weise ihr Jahrhunderte lang fortbestehendes Ansehen zu erklären, das man gern auf übernatürliche Einflüsse zurückzuführen pflegt.

"Die ursprüngliche Form dieser Dichtungen hat in den ersten Jahrhunderten mannigfache Veränderungen erlitten und ist gegenwärtig nicht mehr festzustellen. Die Sammlung der Schriften des Neuen Testaments hat sich nur sehr langsam gebildet, und über ihre Anerkennung ist zum Teil erst nach Jahrhunderten ein Einverständnis erzielt worden. Alles, was an Glaubenssatzungen aus den Schriften jener kritiklosen Zeit hergeleitet wird, beruht auf Willkür, Irrtum, wenn nicht bewusster Fälschung.

"Zu jederzeit großen Druckes haben die Juden auf einen Retter (Messias) gehofft. So begrüßt Jesaias 45 1, nach Ablauf der babylonischen Gefangenschaft (597-538), den Perserkönig Cyrus (einen Nichtjuden), der dem Volke die Freiheit schenkte, als Messias. Ein Hoherpriester Josua führte die Juden in die Heimat zurück, und die Sage schuf einen älteren Josua, der als "Moses" Nachfolger sein Volk nach Kanaan gebracht hätte. Nach der Zerstörung Jerusalems (70 u.Z.) erklärte der gelehrte Jude Josephus, der Menschheit bleibe nunmehr ein größerer Tempel, der nicht von Menschenhänden gebaut sei, und sah in Kaiser Vespasian einen Messias, der der ganzen Welt die wahre Freiheit bringe. Aber auch im weiten Römerreich träumte mancher Dichter und Denker von einem "Weltheiland", und in wenigen Jahrzehnten traten eine ganze Reihe von "Messiassen" auf. Zu jenen beiden Josuas schuf das poetisch tätige Volksgemüt einen dritten Josua (griechisch Jesus).

"Das Leben eines solchen, besonders schwärmerisch angelegten Armenfreundes, Wundertäters und Weltheilandes war nicht eben allzu schwer zu beschreiben: Erlebnisse, Taten, Reden lieferten (von den damals im Morgenland seit Jahrhunderten allgemein verbreiteten Krischna- und Buddha-Sagen ganz abgesehen) Vorbilder des Alten Testaments; ein Moses, ein Elias, ein Elisa, hinter denen er natürlich nicht zurückbleiben durfte, Worte der Psalmen und Propheten. Vielfach nahmen dabei die Verfasser bildlich Gemeintes buchstäblich. Die Kirchenväter hielten noch manche Wundererzählung für ein Gleichniß, während die Kirche jetzt so ziemlich Alles, auch das Wunderlichste buchstäblich genommen haben will.

"Das Bild des Messias gestaltete sich ganz allmählich aus. In den nachweislich vor den "Evangelien"-Dichtungen entstandenen "Paulus"-Briefen findet sich von ihm nichts als Tod und Auferstehung. Aus wörtlich aufgefassten Prophetenstellen dichtete man dann Lehre und Heiltätigkeit hinzu. Zuletzt erst fragte man sich: wo, wie, von wem ist er geboren? wie lange hat er gelebt? u. a. Sobald einmal das Beispiel einer solchen Dichtung (wie die später "Nach Markus", dann "Evangelium nach Markus" genannte) gegeben war, ergoß sich eine Flut ähnlicher Dichtungen, zum Teil geschmackloser Zerrbilder, zum Teil in den Grenzen einer Art Möglichkeit gehaltener Lebensbilder. Jede Gegend, ja jede bedeutendere Gemeinde hatte ihr Evangelium, und oft nannte sich dieses nach einem bekannt gewordenen Namen; unter solchen fremden Namen zu schreiben, galt für durchaus erlaubt.

"Diese "Evangelien"-Dichtungen versetzen ihren Helden in die erste Hälfte des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Aber weder jüdische Schriftsteller (wie Philo und Josephus) noch römische und griechische (wie Tacitus, Sueton, Plinius, Dio Cassius) dieser und der nächstfolgenden Zeit kennen einen solchen "Jesus von Nazareth" oder die aus seinem Leben erzählten Vorfälle; ja nicht einmal eine Stadt Nazareth ist bekannt."

5) Christus und Buddha

(S. 131). Dem ausgezeichneten Werk von S. E. Verus: "Vergleichende Übersicht der vier Evangelien" (Einzig vorhandene Quelle für ein Leben Jesu, Leipzig 1897) entnehme ich folgende Mitteilung: "Professor Rudolf Seydel hat in mehreren fleißigen Arbeiten, die auch von namhaften theologischen Gelehrten, wie Professor Pfleiderer, anerkannt werden, die "Evangelien-Dichtungen" mit den verschiedenen, nachweislich vor unserer Zeitrechnung entstandenen indischen und chinesischen Lebensbeschreibungen Buddhas verglichen und Folgendes als zweifellos festgestellt: Die Grundlage des Lebens der beiden "Religionsstifter" bildet ein belehrendes und heilendes Wanderleben, meist in Begleitung von Schülern, bisweilen unterbrochen von Ruhepausen (Gastmäler, Wüsteneinsamkeit); daneben Predigten auf Bergen und Aufenthalt in der Hauptstadt nach feierlichem Einzug. Aber auch in vielen Einzelheiten und ihrer Reihenfolge zeigt sich eine überraschende Übereinstimmung.

"Buddha ist ein fleischgewordener Gott, als Mensch königlicher Abkunft. Er wird auf übernatürliche Weise gezeugt und geboren, seine Geburt auf wunderbare Weise vorher verkündet. Götter und Könige huldigen dem Neugeborenen und bringen Geschenke dar. Ein alter Brahmane erkennt in ihm sofort den Erlöser von allen Übeln. Friede und Freude zieht auf Erden ein. Der junge Buddha wird verfolgt und wunderbar gerettet, feierlich im Tempel dargestellt, als zwölfjähriger Knabe von den Eltern mit Sorgen gesucht und mitten unter Priestern wiedergefunden. Er ist frühreif, übertrifft seine Lehrer und nimmt zu an Alter und Weisheit. Er fastet und wird versucht. Er nimmt ein Weihebad im heiligen Flusse. Einzelne Schüler eines weisen Brahmanen gehen zu ihm über. Berufungswort ist "Folge mir". Einen Schüler weiht er nach indischem Brauch unter einem Feigenbaum. Unter den Zwölfen sind drei Musterschüler und einer ein ungeratener. Die früheren Namen der Schüler werden geändert. Daneben findet sich ein weiterer Kreis von achtzig Schülern. Buddha sendet seine Schüler, mit Unterweisungen versehen, zwei und zwei aus. Ein Mädchen aus dem Volke preist seine Mutter selig. Ein reicher Brahmane möchte ihm folgen, kann sich aber nicht von seinen Gütern trennen; ein anderer besucht ihn Nachts. Seiner Familie gilt er nichts; er findet aber bei Vornehmen und bei Frauen Anhang.

Buddha tritt als Lehrer mit Seligpreisungen auf; besonders spricht er in Gleichnissen. Seine Lehren zeigen (oft sogar in der Wahl der Worte) überraschende Ähnlichkeit; er lehnt Wunder ab, verachtet irdische Güter, empfiehlt Demut, Friedfertigkeit, Feindesliebe, Selbsterniedrigung und Selbstüberwindung, ja Enthaltung von geschlechtlichem Verkehr. Er lehrt auch sein Vordasein. In seinen Todesahnungen betont er, dass er heim, in den Himmel gehe, und in den Abschiedsreden ermahnt er die Schüler, verheißt ihnen einen Fürsprech ("Tröster") und weist auf eine allgemeine Weltzerstörung hin. Heimatlos und arm zieht er umher, als Arzt, Heiland, Erlöser. Die Gegner werfen ihm vor, dass er die Gesellschaft der "Sünder" bevorzuge. Noch kurze Zeit vor seinem Tod ist er bei einer "Sünderin" zu Gast geladen. Ein Schüler bekehrt ein Mädchen aus verachteter Klasse an einem Brunnen. Zahlreiche Wunder bestätigen seine Gottheit (er wandelt auf dem Wasser u. a.). Feierlich zieht er in die Residenz ein und stirbt unter Wunderzeichen: die Erde bebt, die Enden der Welt stehen in Flammen, die Sonne erlischt, ein Meteor fällt vom Himmel. Auch Buddha fährt zur Hölle und zum Himmel".