"Ich aber erforsche das Leben"
Die Lebensgeschichte des Naturforschers Jean-Henri Fabre

Nervenzentren

Die Dolchwespe ist eine Raubwespe. Wie des Forschers berühmte Knotenwespe sorgt sie für ihre Nach­kom­men­schaft mit kunstvoll gelähmter Beute. Ihre ist der Engerling des Rosenkäfers. Der Engerling ist drei Zentimeter lang, neun Millimeter breit. Die Dolchwespenlarve, wenn sie aus dem Ei schlüpft, vier und einen Millimeter. Ebenso groß war das Ei.

»Mit seinem vorderen Teil wird es an seinem Opfer auf der Mittellinie des Bauchs befestigt, weit hinter den Füßen, dort, wo nach und nach sich der braune Fleck zeigt, den die Nährstoffe unter der Haut zu bilden anfangen. Beim Ausschlüpfen bin ich zugegen. Die kleine Larve, die hinten noch das zarte Häutchen trägt, das sie gerade abgestreift hat, ist an genau dem Punkt befestigt, wo das Ei mit seinem Vorderende klebte. Es ist ein ergreifender Anblick, wie dieses schwache, eben erst ausgeschlüpfte Wesen sich sogleich an den ersten Versuch macht, den fetten Wanst seines riesigen, auf dem Rücken liegenden Opfers anzubohren. Der schnell wachsende Zahn braucht einen ganzen Tag für diese schwere Arbeit. Am nächsten Tag hat die Haut nachgegeben, und ich entdecke das Neugeborene, wie es gerade seinen Kopf in eine kleine runde, blutende Wunde steckt.« Die kleine Larve verzehrt ihr Opfer von innen her. Der Engerling ist nicht tot, nur gelähmt. Und bleibt am Leben bis fast zum Ende, bis er - nach Tagen - aufgezehrt ist von der immerfort fressenden Larve. Daher bleibt sein Fleisch frisch. Faulte es, würde es die Larve vergiften.

»Schon bei den ersten Bissen sieht man aus der Wunde das Blut des Opfers quellen, eine reichhaltig zubereitete, leicht verdauliche Flüssigkeit, sozusagen eine Milchspeise für die neugeborene Larve. Die Brustwarze für den kleinen Fresser ist der blutende Wanst des Rosenkäferengerlings. Der wird daran nicht sterben, jedenfalls jetzt noch nicht. Danach werden die Fettschichten in Angriff genommen, die wie schützende Hüllen um die inneren Organe liegen. Das ist noch ein Verlust, den der Engerling aushalten kann, ohne gleich einzugehen. Jetzt kommt die Muskelschicht unter der Haut an die Reihe; dann endlich die lebenswichtigen Organe, zuletzt die Nervenzentren und die Atemröhren, und schon erlischt jedes Leben in dem Engerling, der nur noch ein leerer, aber völlig intakter Sack ist bis auf die Eingangsöffnung mitten auf der Bauchdecke. Von jetzt an ist dieser Balg der Verwesung ausgesetzt; durch planmäßigen Verzehr hat die Dolchwespe es verstanden, ihren Vorrat bis zum Schluss frisch zu erhalten; und jetzt sehen wir sie, rundlich, vor Gesundheit strotzend, ihren langen Hals aus dem Hautsack ziehen und sich darauf vorbereiten, den Kokon zu spinnen, in dem sich ihre weitere Entwicklung vollenden wird.« Schneidet der Forscher das Nervenzentrum des Engerlings heraus, geht das Tier nach einem Tag in stinkende Fäulnis über.

»Präzise hat die Mutter das Gift ihres Stachels über die Nervenzentren geträufelt, um die Beute in einen bewegungslosen Zustand zu versetzen. Ihre Operation kann gar nicht mit der meinen verglichen werden. Sie ist vorgegangen wie ein feinsinniger Physiologe, der eine Narkose gibt. Ich habe wie ein Schlächter gewütet, der zerlegt, zerreißt, vernichtet. (...) Alles deutet darauf hin: Die Dolchwespe und die anderen Räuber, deren Vorräte üppige große Stücke sind, gehen beim Fressen mit einer besonderen Kunstfertigkeit vor, und zwar mit einer höchst ausgeklügelten Kunstfertigkeit, die bis zum endgültigen Aufzehren in der ausgehöhlten Beute Spuren von Leben bewahrt.« Überlegte und gründliche Experimente geben weiteren Aufschluss. Eine schon wohlentwickelte Larve wird aus der Bauchhöhle genommen und auf den Rücken des Opfers gesetzt. Die Larve wird unruhig, wendet den Kopf, beißt nicht zu. Auch nach vierundzwanzig Stunden Hungerns nicht. »Ihre unbeirrbare Weigerung, den Engerling anderswo anzufressen, und wenn sie Hungers sterben müsste, zeigt uns, wie streng die Verhaltensregel ist, die ihr der Instinkt auferlegt.« Eine nur aus dem Bauch des Opfers herausgezogene Larve findet wohl die offenen Wunde wieder, beginnt dann weiterzufressen.

Doch: »In seiner Arbeit gestört, durch mein Eingreifen von seinem vorgeschriebenen Weg abgelenkt, hat das wieder auf die Wunde, aus der ich es genommen hatte, zurückgesetzte Tier einfach den Gang, den es noch vor wenigen Minuten aushöhlte, nicht wiedergefunden; es hat sich auf gut Glück in die Eingeweide des Engerlings gewagt, und einige falsch angesetzte Bisse haben dann die letzten Lebensfunken ausgelöscht. In ihrer Verwirrung ist die Larve ungeschickt vorgegangen, und ein Fehlgriff hat sie das Leben gekostet. Sie hat sich an dem reichhaltigen Proviant tödlich vergiftet, aus dem sie, wäre er vorschriftsmäßig verzehrt worden, rundlich und gut genährt hervorgegangen wäre.«

Auch eine nur äußerlich gefesselte, nicht von der Dolchwespenmutter gelähmte Beute stört durch innere Bewegungen den vorgeschriebenen Ablauf, geht vorzeitig zugrunde und nimmt die Dolchwespenlarve mit in den Tod. Schließlich bleibt noch der Versuch, der fressenden Larve ein falsches Opfer unterzuschieben. Eine Sattelschreckenlarve - die gewohnte Beute der Grabwespe, und von dieser auch kunstreich gelähmt - wird der Dolchwespenlarve untergeschoben. Nach drei Tagen herzhaften Fressens geht zuerst das Opfer, dann die Räuberin ein. »Beide Larven verfügen über eine besondere Kunstfertigkeit des Fressens, die von der Art des Beutetiers bestimmt wird. Die Grabwespe, die bei einer Sattelschreckenlarve, einer ihr gemäßen Speise, zu Tisch sitzt, kennt von Grund auf die Art und Weise, wie sie beim Aufzehren vorzugehen hat, und versteht es, bis zum Schluss mit dem letzten Lebenshauch, der alles frisch erhält, sparsam umzugehen; müsste sie sich aber von einem Rosenkäferengerling ernähren, dessen Körperbau ihr Talent, das Tier in einzelne Stücke zu zerlegen, ganz durcheinanderbringen würde, hätte sie bald nur noch einen faulenden Klumpen vor sich.«

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