"Ich aber erforsche das Leben"
Die Lebensgeschichte des Naturforschers Jean-Henri Fabre

Kristalle

Das Kind musste bald seine erste Arbeit übernehmen. Die Eltern wollten Enten halten. Die ließen sich in der Stadt gut verkaufen, das Futter für sie war billig. Im Dorf gab es einen, der aus Rinderfett Talg für Kerzen schmolz. Mit den Abfällen, behauptete er, ließen sich besonders gut Enten mästen. Er gab sie auch billig ab. Die Enten hüten, zum Wasser treiben, sollte das Kind.

»Ein paar Monate später waren die kleinen Küken meiner Träume Wirklichkeit geworden, und zwar vierundzwanzig an der Zahl. Ausgebrütet hatten sie zwei Hennen, eine dicke schwarze, die uns gehörte, und eine andere, die wir uns von einer Nachbarin ausgeliehen hatten. Um sie aufzuziehen, genügt die erste, so besorgt kümmert sie sich um ihre Adoptivfamilie. Zunächst geht alles nach Wunsch: Ein Kübel mit zwei Finger hoch Wasser dient als Ententeich. An sonnigen Tagen baden die Entenküken darin, ängstlich beobachtet von der Henne. Nach zwei Wochen reicht der Kübel nicht mehr. Es gibt darin weder Kresse, in der winzige Muscheltierchen wohnen, noch Herrlichkeiten wie Würmer und Kaulquappen. Nun sind sie auch so weit, dass sie tauchen und im Gestrüpp der Wasserpflanzen wühlen wollen; und damit fangen für uns die Schwierigkeiten an.

«Denn beim Haus gibt es nicht genug Wasser. Im Sommer hat die Familie kaum genug für sich selbst. »In der Nähe unseres Hauses, unter einer aus Steinen gemauerten Höhlung, sickert eine dürftige Quelle aus dem Grund einer in den Fels gehauenen Mulde. Vier oder fünf Familien schöpfen dort mit kupfernen Eimern ihr Wasser. Wenn dann noch die Eselin des Schulmeisters getränkt worden ist und sich die Nachbarschaft ihren Tagesbedarf geholt hat, ist die Mulde trocken. Vierundzwanzig Stunden dauert es, bis sie sich wieder gefüllt hat.« Also muss der Bub die Enten zum Bach hinunter treiben. »Der Weg über die Hügel, der hinter dem Herrenhaus vorbeiführt, biegt sehr bald unvermittelt ab und wird am Rand der Wiese etwas breiter. Er windet sich an einem felsigen Hang entlang weiter, wo sich von der Bergterrasse herab ein dünnes Rinnsal ergießt, das aus einem ziemlich großen Tümpel entspringt. Dort herrscht den ganzen Tag über tiefe Einsamkeit. Dort werden die jungen Enten gut aufgehoben sein und ungehindert auf sicheren Wegen ans Ziel kommen.« Wochenlang hat das Kind sich auf den ersten Ausgang mit seinen Enten gefreut. Und gerade an diesem Tag hat es eine schmerzhafte Blase an der Ferse. Die Schuhe werden für Sonn- und Feiertage aufgespart. »Die Gerte schwingend, humple ich hinter den Enten her.

Auch sie, die armen Kleinen, haben empfindliche Füße; sie hinken, piepsen, sind bald erschöpft. Sie würden sich weigern, noch weiter zu gehen, wenn wir nicht hin und wieder im Schutz einer Esche einen Halt einlegten. Endlich sind wir angelangt. Der Ort ist für meine Kleinen wie geschaffen: nicht sehr tiefes lauwarmes Wasser, von winzigen Schlammhügeln, kleinen grünen Inseln durchsetzt. Und schon beginnt das vergnügte Baden. Die jungen Enten klappern mit den Schnäbeln und stöbern überall herum; sie sieben Schluck für Schluck, geben die klare Brühe wieder ab und behalten nur die guten Brocken. In den tieferen Lachen strecken sie die Bürzel in die Höhe und wühlen auf dem Grund des Wassers im Schlamm. Sie sind glücklich, und es ist eine Wonne, ihnen bei der Arbeit zuzuschauen. Doch nun überlassen wir sie sich selbst. Jetzt bin ich dran, den Tümpel zu genießen. Was ist denn das da? Auf dem Schlamm liegen schlaffe, verknotete rußfarbene Schnüre herum. Man könnte sie für Wollfäden von einem alten aufgetrennten Strumpf halten. Hat hier etwa eine Schäferin schwarze Socken gestrickt, ihr Werk für misslungen befunden und die ganze Arbeit von neuem begonnen, nicht ohne vorher zornig den durch die Nadeln wellig gewordenen Faden wegzuwerfen? Es sieht beinahe so aus. Ich fische mit der Hand ein paar solcher Schnüre heraus. Sie sind klebrig, ganz weich, glitschig, rutschen mir immer wieder zwischen den Fingern hindurch.

Einige Knoten platzen auf und ergießen ihren Inhalt in meine Hand. Heraus kommt ein kleines schwarzes, vielleicht stecknadelkopfgroßes Kügelchen mit einem platten Schwanz. Ich erkenne, wenn auch winzig klein, etwas, was mir schon vertraut ist: die Kaulquappe aus der Familie der Kröten. Das genügt mir. Um diese knotigen kleinen Kugeln brauchen wir uns nicht länger zu kümmern. Diese Wesen hier gefallen mir schon besser. An der Oberfläche des Wassers drehen sie sich im Kreis, und ihr schwarzer Stachel leuchtet in der Sonne auf. Wenn ich die Hand ausstrecke, um sie einzufangen, sind alle sofort verschwunden, wohin, weiß ich nicht. Schade, ich möchte sie gerne aus der Nähe anschauen und in einem kleinen, eigens für sie vorbereiteten Becken tanzen lassen. Schauen wir einmal bis auf den Grund des Wassers, nachdem wir vorher die Klumpen von grünem Flachs entfernt haben, an dem Luftbläschen wie Perlen hochsteigen, um sich als Schaum an der Oberfläche zu sammeln. Dort unten gibt es alles. Ich sehe hübsche Muscheln, dicht gedrängt und flachgedrückt wie Linsen; ich bemerke kleine Würmer, die Federbüsche, Quasten tragen; ich entdecke andere, die sich ständig auf dem Rücken fortbewegen. Was treiben sie dort alle? Wie heißen sie? Ich weiß es nicht. Und lange schaue ich ihnen zu, wie gebannt von dem mir unbegreiflichen Geheimnis des Gewässers.« Was immer er sieht, muss der Bub untersuchen. Einen blauglänzenden Mistkäfer steckt er in ein leeres Schneckenhaus, das er mit Blättern verstopft, um ihn mit nach Hause zu nehmen. Aus zwei Strohhalmen und einem Ast bastelt er eine Mühle, aus Steinen einen Damm. Als er Steine zerschlägt, um passende Stücke für seinen Damm zu bekommen, findet er einen Schatz: kleine bunte Kristalle im Innern eines hohlen Steinbrockens: »Ich zerkleinere noch mehr Steine. Sieh da! Was für ein einzigartiges Gebilde ist denn da gerade in einem Stück herausgefallen! Es ist spiralenförmig wie bestimmte flache Schnecken, die bei Regen aus den Spalten alter Mauern kriechen. Mit seinen knotigen Rippen erinnert es mich an ein kleines Widderhorn. Muschel oder Horn eines Schafbocks? Höchst seltsam! Wie kommt so etwas mitten in einen Stein hinein? Meine Taschen sind prall von steinernen Merkwürdigkeiten und Schätzen. Es wird spät, und die jungen Enten sind gesättigt. Auf, auf, meine Kleinen, auf nach Hause. Vor so viel Freude habe ich auch die Blase an meiner Ferse ganz vergessen. Der Rückweg ist ein einziges Fest. Eine innere Stimme verzaubert mich, unübersetzbar, sanfter als die Sprache und so rätselhaft wie der Traum. Sie erzählt mir zum ersten Mal von den Wundern des Tümpels; sie preist das himmlische Insekt, das ich in dem Schneckenhaus, seinem zeitweiligen Käfig, rascheln höre; sie erzählt flüsternd von den Geheimnissen des Felsens, dem Goldstaub, den Rautenjuwelen, dem versteinerten Widderhorn.« Als das Kind nach Hause kam, geschah ihm, was Kindern zu oft geschieht. » ›Du bist mir einer‹, schimpft der Vater erbost beim Anblick des Schadens, ›ich schicke dich Enten hüten, und du vertreibst dir die Zeit damit, Steine zu sammeln, als ob wir rund um das Haus nicht genug davon hätten! Schnell! Wirf gleich die Steine weg!‹ Ich gehorche, untröstlich. Diamanten, Goldstaub, das versteinerte kleine Horn, der Paradieskäfer, alles landet auf dem Misthaufen vor der Tür. Die Mutter jammert Weh und Ach: ›Kinder aufziehen, und dann sehen müssen, dass sie missraten sind! Der Kummer mit dir bringt mich noch ins Grab. Gräser und Pflanzen, das geht ja noch, die sind wenigstens für die Kaninchen gut. Aber die Steine, die dir die Taschen zerreißen; die Tiere, die dir mit ihrem Gift die Hände verletzen, was willst du bloß damit anfangen, du Einfaltspinsel! Das kann doch alles nicht wahr sein; jemand muss dich behext haben!‹«

Ein einziges solches Erlebnis kann genügen, einem Kind den Wissensdurst für immer auszutreiben. Der Schock über den Zorn der Eltern, die Trauer wird vergessen, verdrängt, und eines Tages wird den eigenen Kindern dasselbe wieder angetan. Der Bub hatte Glück, war stark genug. Im Rückblick brachte der alte Mann Nachsicht auf für seine Eltern, fand auch den Grund für ihr Verhalten, für den Vorgang, der es möglich macht, Generationen von Armen und Unwissenden in Armut und Unwissenheit zu halten. »In Eurer schlichten Denkweise, arme Mutter, wart Ihr sicher im Recht: Mir war ein schlechtes Los bestimmt, heute weiß ich das. Wenn es schon so mühsam ist, sein tägliches Brot zu verdienen, wozu dann den Verstand läutern? Am Ende nur, um noch größeres Leid auf sich zu laden? Was nützen alle Mühe und Pein des Lernens jenen, denen im Leben Schiffbruch vorherbestimmt ist! (...) Wir, die wir zu den armen Leuten gehören, sollten uns vor den Freuden des Wissens hüten. Unbeirrt sollten wir lieber mit unserer Pflugschar Furchen auf den Feldern des Trivialen ziehen, die Versuchungen des Tümpels aber sollten wir meiden! Hüten wir die Enten, und überlassen wir anderen, den vom Schicksal Begünstigten, die Mühsal, das Weltall zu erklären, wenn sie Lust dazu haben.« Wer arm ist, muss von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang schuften wie eine Maschine, um das Armeleuteleben bewältigen zu können. Sehnsucht nach Höherem lässt das Armeleuteleben nur noch schwerer ertragen. Wer beim Tümpel liegt, die Wasserflöhe beobachtet, statt seinen Kartoffelacker umzugraben, wird im Winter hungern. Der Wissensdurst muss gebrochen werden, so früh wie möglich. Die Eltern brauchen darüber nicht lange nachzudenken, sie sind selbst so erzogen worden. Wessen Wissensdurst sich nicht hat brechen lassen, der hat vielleicht die Möglichkeit gehabt, aus dem Armeleutedasein auszubrechen, ist vielleicht ein Rebell geworden. Doch mit größerer Wahrscheinlichkeit ist er - ist sie - als Außenseiter verkommen. Darf man sich aber damit abfinden? »Nein und noch einmal nein! - Von allen Lebewesen hat allein der Mensch das Bedürfnis nach Wissen; nur er fragt nach den Geheimnissen der Dinge auf dieser Welt. Auch der Geringste unter uns stellt sich Fragen, hat Zweifel, die dem Tier unbekannt sind. Wenn sie sich nachdrücklicher melden, gebieterischer zu wissen verlangen, wenn sie uns vom Gewinnstreben, dem einzigen Lebensziel in den Augen der meisten Menschen, ablenken, dürfen wir uns dann wirklich darüber beklagen? Hüten wir uns; das hieße, die beste unserer Fähigkeiten zu leugnen. Im Gegenteil, wir wollen uns je nach unseren Kräften bemühen, auf das unermesslich große Unbekannte einen kleinen Schimmer Licht fallen zu lassen; wir wollen prüfen, Fragen stellen, hier und da der Wahrheit ein paar winzige Bruchstücke entreißen. Am Ende werden wir dieser Mühsal erliegen; in einer so unvollkommen abgestimmten Gesellschaft werden wir zum Schluss zugrunde gehen. Trotzdem sollten wir unbeirrt weitermachen; es wird uns ein Trost sein, wenn es uns gelingt, den Umfang des Bekannten, den unermesslichen Schatz der Menschheit, zu vergrößern - und sei es auch nur um ein winziges Atom.«

Wilder Honig
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